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Initiatoren und Beobachter: Wie Reporter die Welt entdeckten

 

Eine Rezension von Tim Brückmann (Tim.Brueckmann@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Cremer, Anette Caroline; Mulsow, Martin (Hg.): Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung (Ding, Materialität, Geschichte, Bd.2) Köln: Böhlau Verlag 2017. 352 Seiten, 50 EUR. ISBN: 978-3-412-50731-2.

 

Abstract

Der literarische Journalismus ist ein gern aufgegriffener Topos in der Medienwissenschaft. Michael Hombergs Dissertation Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870-1918 gibt diesem Begriff nun eine komparatistische und von der Geschichte der Reportage geprägte Genese an die Hand. Die Metropole, das Lokale und das Globale sind für ihn dabei Dreh- und Angelpunkte der Verquickung von Fakt und Fiktion in der Reportage. Seine Studie überzeugt vor allem mit einer breiten Auswahl an Fallbeispielen und der Herausstellung selbstreferentieller Mediengesellschaften.

 

Rezension

Was Fakt und was Fiktion in einer Reportage ist, hat zuletzt wohl nichts stärker zurück in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt als der Fall des Spiegel-Journalisten Claas Relotius, von dem im Dezember 2018 bekannt wurde, dass er große Teile seiner Artikel schlicht erfunden hatte.

 

Schon Monate vor dem Skandal erschien Michael Hombergs Dissertation „Reporter-Streifzüge“, die einen genauen Blick auf das historische Zusammenspiel von Fakt und Fiktion im literarischen Journalismus wirft. Der Untertitel „Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870-1918“ steckt den Rahmen der Studie ab: Mit welchen Methoden und Mitteln schreibt die damals noch sehr heterogene Gruppe der ‚Reporter‘ über Menschen, Probleme und Ereignisse in der Großstadt? Was sind Elemente der Genese eines schriftstellerischen Journalismus, der sich an literarische Formen anlehnt?

 

Homberg geht dabei komparatistisch vor: Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen die Hauptstädte Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Das ist durchaus sinnvoll, denn gerade von jenseits des Atlantiks schwappten in der zwischen 1870 und 1918 angesetzten „massenmedialen Sattelzeit“ (S. 325, nach Knoch/Morat) viele journalistische Impulse nach Europa.

 

Um den „Siegeszug des Reporter- und Korrespondenzwesens“ (S. 13) nachzuzeichnen, bietet Homberg eine reiche Auswahl an Fallbeispielen. Diese gruppiert er um seine zentrale Prämisse, den Reporter als Augenzeugen zu betrachten, der sich als „Konkurrenz zu Nachrichtenagenturen und Korrespondenzbureaus etablierte und so zugleich als Ideal und Irritation des ‚Informations-Journalismus‘ stand“ (S. 14).

 

Dabei arbeitet er sich von der Auseinandersetzung mit Reporter-Tätigkeiten innerhalb der Metropole zu Reporter-Tätigkeiten im globalen Kontext vor. Einer seiner Schlüsselbegriffe wird dabei die Glokalisierung, angelehnt an Roland Robertson: „[Es war] die lokale Berichterstattung, die die Bilder des metropolitanen Lebens in globale Verweissysteme überführte.“ Diese Glokalisierung habe zu einer „gleichzeitigen kulturellen Homogenisierung und Heterogenisierung“ geführt (s. 17). Dazu gehöre ebenso eine „Zergliederung“ des großstädtischen Raumes durch den Reporter: Das (auch geografische) Lebensumfeld der Reichen wird dem Zeitungsleser genauso nahegebracht wie die „dunklen Ecken“ der Metropole und deren Bewohner (S. 110f.). Mit der wachsenden Berichterstattung zu internationalen Events werde aber gleichfalls klar, dass die Welt als solche enger zusammenrückt.

 

Events, über die berichtet wurde, waren – und dies herauszustellen ist das Verdienst Hombergs breit gefächerter Fallbeispiele – häufig von den Medien eigenhändig initiiert und somit selbstreferentiell. Herausragendes Exempel dafür ist etwa die von Nelly Bly 1889 angetretene Weltumrundung – im Dienste der New York World, die daraus ein gewieftes Medienspektakel strickte; inklusive Guessing Game, wie lange die als Undercover-Journalistin bekanntgewordene Bly für ihr Vorhaben auf die Sekunde genau benötigen würde. Auch hier erkennt Homberg das Wechselspiel von Literatur und Journalismus: Die fiktive Figur des Phileas Fogg und dessen ebenso fiktive Umrundungszeit aus Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt gilt als Gradmesser von Blys Erfolgs (S. 200f.).

 

Großen Anteil an der Internationalisierung und der Arbeitsweise des Journalismus hatte auch die Medientechnik. Homberg argumentiert nachvollziehbar, dass der kostenbedingt knappe Stil in Telegrammen, der Wundertechnik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die factual fiction im Journalismus maßgeblich förderte. Wo Korrespondenten nur in wenigen Worten ihren Eindruck eines Ereignisses darlegen konnten, war der Redakteur im Newsroom gefordert, aus diesen Schnipseln ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen. Häufig unter Zuhilfenahme ausschmückender literarischer Stilmittel (S. 102f).

 

Nach der Einleitung widmet sich Homberg im zweiten Kapitel zunächst der Professionalisierung des Nachrichtenwesens. Die Kapitel 4 und 5 bilden dann vor den darauffolgenden Schlussbetrachtungen das Herzstück der Untersuchung und tauchen in die Fallstudien ab. Zunächst richtet Homberg dabei seinen Blick auf die Metropolen, speziell auf die dortigen ‚Ober- und Unterwelten‘, danach folgen die Globalnachrichten, die neben den ‚globalen Wettläufen‘ à la Nelly Bly auch Expeditionen und die Kriegsberichterstattung in den Mittelpunkt rücken.

 

Michael Homberg schafft es mit seiner fundierten Studie, die Selbstreferenzialität von Mediengesellschaften im Untersuchungszeitraum zu durchleuchten. Die Auswahl der Fallbeispiele ist treffend und untermauert seine Argumentation zur Glokalisierung. Genauso wird er dem Anspruch gerecht, die Evolution des literarischen Journalismus in vergleichender Weise nachzuzeichnen.

 

Etwas unberücksichtigt lässt die Studie den Begriff der ‚Lügenpresse‘, der durchaus schon zu jener ‚massenmedialen Sattelzeit‘ bekannt war und als interessantes Spannungsfeld zwischen Fakt und Fiktion gesehen werden kann. Gerade im Ersten Weltkrieg, der ja noch in den Untersuchungszeitraum fällt, wurde der Begriff auch aktiv von Journalisten selbst genutzt: etwa von deutschen Zeitungen im Umgang mit der sogenannten gegnerischen ‚Gräuelpropaganda‘. Häufig richtete sich dieser Vorwurf auch direkt gegen feindliche Reporter, die etwa ‚Augenzeugenberichte‘ fälschen würden. Hier verpasst die Untersuchung die Chance, an diesen ebenso in der medialen Debatte heute wieder aktuellen Topos anzuknüpfen.

 

Die Leistung Hombergs, wichtige Merkmale der Genese des literarischen Journalismus im transatlantischen Vergleich offenbart zu haben, soll das aber nicht schmälern. Seine Arbeit überzeugt mit den vielen (dreisprachigen) Fallbeispielen, der stringenten Herausstellung medialer Selbstreferenzialität und der Nachzeichnung des sich rasant ändernden Berufes des Reporters. Auch mit Blick auf die kulturelle Entwicklung von Großstädten ist der Wert von Hombergs Studie nicht zu unterschätzen.

 

 

English Abstract

Initiators and Observers: How Reporters Discovered the World

Literary Journalism is a popular topos within media studies. Michael Homberg’s dissertation Reporter-Streifzüge: Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt now equips the term with a comparative genesis that is characterized by the history of the reportage. For Homberg, the metropolis, the local, and the global are pivotal points in this amalgamation of fact and fiction in the reportage. His research is particularly convincing due to a broad selection of case studies and the highlighting of self-referential media societies.

 

 

Copyright 2019, TIM BRÜCKMANN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).