Return to Article Details Liquid Postmodernity: Pubs, Bars, and Clubs as Unstable Constructs of “Heimat”
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‚Flüssige‘ Postmoderne: Kneipen, Bars und Clubs als instabile Heimatkonstrukte

 

A Review by Marie-Christine Boucher (Marie.C.Boucher@ggk.uni-giessen.de)

Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften

 

Geuen, Vanessa: Kneipen, Bars und Clubs. Postmoderne Heimat- und Identitätskonstruktionen in der Literatur. Berlin: Ripperger & Kremers, 2016. 296 Seiten, 34,90 EUR. ISBN: 978-3-943999-27-3.

  

Abstract

Vanessa Geuens Kneipen, Bars und Clubs. Postmoderne Heimat- und Identitätskonstruktionen in der Literatur bringt ‚Postmoderne‘ und ‚Heimat‘ interdisziplinär zusammen. Überzeugend bietet sie in der Veröffentlichung ihrer an der Technischen Universität Darmstadt verfassten, literaturwissenschaftlichen Dissertation eine Analyse anglo-amerikanischer und europäischer Romane. Sie zeigt dabei, inwiefern das Konzept ‚Heimat‘ als Ort der Sicherheit und Überschaubarkeit — wenngleich nur noch vorübergehend und unfixiert — relevant bleibt, und dass die Kneipen, Bars und Clubs in ihrem Korpus diese Funktion erfüllen

 

 

Review

„Die Heimat-Insel Kneipe erweist sich als zu unwirtlich und bereits besetzt von Fremden, als dass sie dauerhaft eine stabile, vertraute und verlässliche Zufluchtsstätte innerhalb postmoderner Komplexität und Instabilität sein könnte.“ (S. 210) Mit diesem Zitat wird Vanessa Geuens Monographie auf dem Rückendeckel des Buches kurz und knapp eingeführt und zusammengefasst. Kneipen, Bars und Clubs ist kein Versuch, den ‚Kneipenroman‘ als „neues Genre zu postulieren“ (S. 38), sondern möchte ‚Postmoderne‘ und ‚Heimat‘ in der Gegenwartsliteratur anhand interdisziplinärer Theorien zusammenbringen. Teil des Korpus sind anglo-amerikanische und westeuropäische Romane, in denen Kneipe, Bar oder Club einen handlungstragenden Raum für die Figuren darstellen, und in denen „sich die Figuren in ihren Handlungen, Einstellungen und Interaktionen immer wieder auf den Raum“ beziehen (S. 14). Auf westliche Literatur beschränkt sich Geuen, weil der Stellenwert von Kneipen und ähnlichen Räumen in anderen Kulturen unterschiedlich sein kann; so etwa in Japan, wo man sich aus Platzmangel selten zu Hause treffen würde; oder in der arabischen Literatur, wo Cafés und Teestuben eine starke politische Prägung hätten (S. 16).

 

Als Ausgangspunkt von Geuens Dissertation — entstanden am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt —, werden die Kneipenräume des Korpus als soziale Raumkonstruktionen und Figurationen im Eliasschen Sinne geschildert. Die Autorin untersucht die dynamischen und sich ständig verändernden Interdependenzen zwischen den Menschen bzw. zwischen Menschen und Räumen, aus denen diese Konstruktionen entstehen. Sich auf Löw beziehend schildert Geuen die prozesshaftige Entwicklung einer Raumkonstruktion, ihre Institutionalisierung und die darauf folgende Machtübung, d.h. die Zurückwirkung auf die verschiedenen Figuren der Romane bzw. ihr „Potential [...] Gefühle beeinflussen zu können“ (S.68). Ihre Argumentation entspricht einer klassischen Dissertationsstruktur: In jedem Kapitel wird die theoretische Grundlage zuerst zusammengefasst und ggf. kritisiert; darauf folgt eine ausführliche Analyse der sechs Romane (Tom Liehrs Idiotentest, Katinka Buddenkottes Betreutes Trinken, J.R. Moehringers Tender Bar, Daniel Juhrs Exit, Jérôme Ferraris Predigt auf den Untergang Roms und Ju Innerhofers Die Bar).

 

Als Nächstes werden die zuvor etablierten Raumkonstruktionen zu Heimaträumen deklariert. Dazu stützt sich Geuen vor allem auf Greverus’ Begriff des Satisfaktionsraums und Waldenfels’ Lebenswelt, die sich beide an Husserls Lebenswelt orientieren. Greverus versteht Satisfaktionsräume als „eigene kleine Lebenswelten, aus denen heraus die Protagonisten […] Identität und ‚Verhaltenssicherheit‘ bis zu einem gewissen Grad generieren“ (S. 77). Waldenfels seinerseits sieht Heimaträume als „Sonderwelten“: „Die Figuren schaffen sich in einer unüberschaubaren, von Verlorenheit und Unsicherheit geprägten Lebenswelt kleine, überschaubare Gegenwelten der Verlässlichkeit und Stabilität […].“ (S. 79) Die Entstehung einer Kneipenheimat wird hier auch als Prozess betont, indem die Wirkungen der gegenwärtigen Heimaten auf die Vergangenheit (Verlust, Erinnerung) und Zukunft (Wünsche, Sehnsüchte) der Figuren dargestellt werden.

 

Anschließend beschreibt sie Kneipenräume als Hybridräume zwischen Intimität und Öffentlichkeit, Solidarität und Gemeinschaft, Freiheit und Unverbindlichkeit. Ähnlich wie im vorigen Kapitel (vgl. Kapitel 3) wird die Prozesshaftigkeit des Heimatkonstruktes in den Vordergrund gestellt, diesmal aber auch, um auf dessen Vergänglichkeit hinzuweisen. „Das Sozialkonstrukt Kneipe ist die temporär funktionierende und individuelle, Identität stiftende Gemeinschaft persönlicher Beziehungen.“ (S. 141) Kneipen werden hier als ‚literarische Robinsonaden‘ (nach Lyotard), das Verhalten der Menschen in diesen Räumen als Masken (nach Bauman) beschrieben.

 

Geuen argumentiert in ihrer Dissertation gelungen, dass Heimat in der Postmoderne immer noch — wenn auch nur vorübergehend und unfixiert — Sicherheit und Überschaubarkeit bedeutet; und dass die Kneipen, Bars und Clubs aus ihrem literarischen Korpus diese Rolle erfüllen. Ihre These stützt sich auf einen sehr breiten und interdisziplinären theoretischen Hintergrund. Sie berücksichtigt Forschung sowohl aus den Bereichen der Soziologie und Literaturwissenschaft, als auch aus der Philosophie und Psychologie. Im Zusammenhang dieser interdisziplinären Herangehensweise wäre es aber zusätzlich relevant gewesen, die jüngste Forschung zum Thema Heimat hinzuzuziehen – etwa aus der Filmwissenschaft und der Auslandsgermanistik (siehe z.B. Alexandra Ludewigs Screening Nostalgia: 100 Years of German Heimat Film [2011]). Als Schlussbemerkung bietet sie gleichwohl einen interessanten Forschungsausblick: Besonders spannend scheint ihr Vorschlag einer raumtheoretischen Analyse von Kneipenromanen im Sinne von, unter anderem, Foucaults ‚Heterotopie‘, Marc Augés ‚Orte‘ und ‚Nicht- Orte‘, Homi K. Bhabhas third space und Ray Oldenburgs homes away from home. Damit unterstreicht Geuen erneut die Relevanz ihres eigenen Beitrages in einem breiteren Zusammenhang.

 

English Abstract

Liquid Postmodernity: Pubs, Bars, and Clubs as Unstable Constructs of “Heimat”

In Kneipen, Bars und Clubs. Postmoderne Heimat- und Identitätskontruktionen in der Literatur — the published version of her dissertation, which was written at the Technische Universität Darmstadt — Vanessa Geuen uses an interdisciplinary approach to bring together postmodernity and Heimat. In her analysis of a corpus of Anglo-American and European novels, she argues convincingly that Heimat as a secure and ‘manageable’ place of belonging remains a relevant concept in literary analysis, even if it has lost the immutability that used to characterize it, and that the pubs, bars, and clubs in her corpus fulfill that function.

 

 

Copyright 2018, MARIE-CHRISTINE BOUCHER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).