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Für eine Ethik des dialogischen Sehens in der Kunstgeschichte und den Visual Culture Studies

 

Eine Rezension von Oliver Klaassen (Oliver.Klaassen@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Falkenhausen, Susanne (Hg.). Jenseits des Spiegels. Das Sehen in Kunstgeschichte und Visual Culture Studies, Paderborn: Wilhelm Fink, 2015. 270 Seiten. 34.90 EUR. ISBN: 978-3-7705-5973-2.

  

Abstract

Die Monographie Jenseits des Spiegels. Das Sehen in Kunstgeschichte und Visual Culture Studies widmet sich dem komplexen Verhältnis von Kunstgeschichte und Visual Culture Studies. Mit einem diskurs- und wissenschaftshistorischen Blick auf das Sehen, eine Schnittmenge beider Wissenschaftsdisziplinen, untersucht die Kunsthistorikerin Susanne Falkenhausen die jeweiligen Erkenntnisinteressen und ihre theoretischen und methodologischen Konsequenzen, indem sie exemplarisch kanonische Texte auf ihre Motivation hin befragt. Die Autorin spricht sich für eine wissenschaftliche Praxis des dialogischen Sehens aus – und damit für eine ethische Dimension, welche die Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität aufrechterhält und die ‚Fremdheit’ des Gegenübers anerkennt.

 

 

Rezension

Dass die Lesart von visuellem Material nicht nur vom Vorwissen der Rezipierenden abhängt (etwa von Sehgewohnheiten und Erwartungen sowie vom Begehren und den Affekten), sondern auch eine von Machtstrukturen durchzogene Praxis darstellt, darauf haben in den letzten drei Jahrzehnten insbesondere postkolonial- und queer-feministisch-orientierte Kunstwissenschaften immer wieder hingewiesen. Mit ihrer Monographie leistet Susanne Falkenhausen einen differenzierten und weiterführenden Beitrag zur dieser Debatte.

 

Angetrieben vom Interesse an der subjektiven Prägung des Sehens bei der Interpretation von visuellen Material spricht sich die Autorin in der Einleitung gegen eine Polarisierung von Visual Cultural Studies als „antielitär, multikulturell, postkolonial und demokratisch“ (S. 14) und Kunstgeschichte als „elitär, formalistisch bis hegelianisch, künstlergenialisch und nationalistisch“ (ebd.) aus. Anstatt jenes hierarchische Gefälle zu reproduzieren, ist Falkenhausen vielmehr auf der Suche nach einen gemeinsamen Nenner beider Disziplinen. Fündig wird sie bei der Praxis des Sehens.

 

In ihrer „auf das Sehen als Praxisdeterminante orientierte Diskursgeschichte der beiden Fächer und ihrer Verbindungen“ (S. 17) bespricht Falkenhausen in chronologischer Reihenfolge kanonische Texte, in denen das Sehen implizit oder explizit thematisiert wird. Für die Kunstgeschichte hält Falkenhausen fest, dass eine kritische Reflexion des ‚eigenen Sehens’ eher unausgesprochen bleibt (vgl. S. 29): Wenngleich etwa Panofsky mit seinem Fokus auf die Ambivalenz der Zentralperspektive eine kulturelle, historisch-wandelbare Praxis des Sehens herausarbeite (vgl. S. 33), praktiziere er dennoch eher ein hochselektives, strukturelles und erkenntnisgeleitetes Sehen (vgl. S. 36). Auch Gombrichs Objektivierung von Wahrnehmung begegnet die Autorin mit Skepsis (vgl. S. 44). Bryson markiere dagegen den Beginn poststrukturalistisch-semiotisch orientierter Kunstgeschichte, die Wahrnehmung als kulturabhängig definiere (vgl. S. 45). Mit Pächt komme erstmals der_die Betrachter_in als praktizierende_r Kunsthistoriker_in ins Spiel (vgl. S. 49). Während Pächt das Auge des_der Interpret_in historisieren würde, in dem er das Sehen des_der Interpret_in in einen Prozess des Lernens historisch fremder Sehgewohnheiten einspannen würde, markiere Baxandall die Betrachter_innen als historische und soziale Variable und damit das Sehen als gelernte Fähigkeit (vgl. S. 58f.). Gefolgt von Alpers Ansatz, der sich für die Klärung des eigenen, subjektiven Standortes als Grundprämisse kunsthistorischer Forschung ausspricht (vgl. S. 67), beschäftigt sich Falkenhausen anschließend mit Kemps Erschließung des literaturwissenschaftlichen Modells der Rezeptionsästhetik für die Kunstgeschichte, in der die Situiertheit des_der Interpret_in außen vorgelassen werde (vgl. S. 99).

 

Während die Kunstgeschichte – getarnt mit Modellen der Objektivierung des gewonnen historischen Wissens – stärker auf den Gegenstand als auf das interpretierende Subjekt ausgerichtet sei (vgl. 228), konstatiert Falkenhausen für die politisch-engagierte Agenda der Visual Culture Studies eine „narzisstische Herangehensweise“ (S. 224). Hier determiniere das Begehren des_der Interpret_in den Blick auf das Begehren soweit, dass dieses nur mehr sein_ihr Begehren zurückspiegele (vgl. S. 236): Während Bryson die Beziehungsstruktur bei der_dem Interpret_in zentriere, welche die Gefahr einer vollkommen freien Interpretation unabhängig von historischen und anderen ‚Fremdheiten’ des Objekts in sich berge (vgl. S. 141), liefere Olin mit ihren Überlegungen zum dialogischen Blickwechsel als Voraussetzung für jede Interpretation einen Gegenvorschlag zum paranoischen Modell (vgl. 149). Ausgehend von der Tatsache, dass der Schlüsselbegriff Visuality/Visualität in den Visual Culture Studies nicht präzise verortet werden kann, macht Falkenhausen für die Anwendungsmuster zwei Pole ausfindig: den Pol der Essentialisierung bei Mirzoeff und den konstruktivistisch-semiologischen Pol bei Bal, während Mitchell eine ‚Dazwischen-Position’ einnehme (vgl. 152). Gemein sei Bryson, Mirzoeff und Bal die Tendenz eines gewissen Präsentismus, der sich bei Bryson in der Ermächtigung der_des Interpret_in zur_zum Autor_in, bei Mirzoeff in Präsenz des Konsument_in und bei Bal in der Präsenz des sehend lesenden Interpreten manifestiere (vgl. S. 171). Brysons Alternativvorschlag zum diskriminierenden Blick sei die Erforschung von zwangsheteronormativen Strukturen durch die kritische Aneignung des Stigmas (vgl. S. 178). Während Bryson damit den diskriminierenden Blick erwidere, würde hooks ‚zurückstarren’, indem sie der Passivität der im Konzept vom Gaze Ge- und Betroffenen eine Blick-Strategie des Widerstands entgegensetze (vgl. S. 182).

 

Nach den Lektüren fachinterner Blickregime konstatiert Falkenhausen, dass sich daraus entsprechende methodologische und theoretische Implikationen insbesondere für die Blickverhältnisse innerhalb der Trias Subjekt (Künstler_in) – Objekt (Kunstwerk/visuelles Produkt) – Subjekt (Betrachter_in/Interpret_in) ergeben. Wie genau der theoretisch-methodische Bezugsrahmen für eine Ethik des Sehens ‚auszusehen’ hat, die über eine bloße interpretatorische Identifikation mit dem Spiegelbild hinausgeht und stattdessen eine (An-)Erkennung des visuell ‚Anderen’ verfolgt, beschäftigt die Autorin im weiteren Verlauf. Falkenhausen plädiert für die verstärkte Reflexion und Anwendung Donna Haraways Modell des situierten Wissens innerhalb der Kunstgeschichte und Visual Culture Studies, weil es dazu einladen würde, über ein Modell des Dialogs zwischen Gegenstand und Interpret_in nachzudenken. Hierbei sei es die Anerkennung der ‚Fremdheit’, die historische und kulturelle Alterität des Gegenstandes, die „die Welt- und Eigensicht des Interpreten in Frage stellen“ (S. 240) könne.

 

Insgesamt legt die Autorin eine sehr gut recherchierte Studie mit einer plausiblen Schwerpunktsetzung und nachvollziehbarem Aufbau vor, die auch durch Transparenz, dichte Lektüren sowie die Verwendung differenzierter Definitionen und zentraler Begriffe besticht. Mit dem Fokus auf das Sehen und den damit verbundenen Blick-/Machtstrukturen und Möglichkeitsräumen ebnet Falkenhausens Monographie den Weg für eine Forschungspraxis in der Kunstgeschichte und den Visual Culture Studies, die Selbstreflexivität, Interventionismus und Herrschaftskritik als wichtigste Grundlagen ihrer Arbeitsmethoden begreift. Wie sich das ‚dialogische Sehen’ in der Analyse von visuellen Material konkret anwenden lässt, bleibt allerdings unklar. Ergänzend wäre deshalb eine Überführung ihrer (meta-)theoretischen Überlegungen in ein separates Analysekapitel wünschenswert gewesen. Ausgeklammert wird zugleich aktuelle Forschung kunstwissenschaftlicher Gender und Queer Studies mit ihrem Fokus auf affektive Modelle des Sehens: Zu erwähnen sei in diesem Zusammenhang u.a. die „teilnehmende Lektüre“ von Josch Hoenes (2014) als Vorschlag für das ‚Lesen’ von visuellen Repräsentationen zwischen Identifikation, Repräsentationskritik und Autobiografie.

 

Trotz der aufgeführten Kritikpunkte legt Falkenhausen einen längst überfälligen wissenschaftshistorischen und -kritischen Beitrag vor. Das Buch ist ein unerlässlicher Wegbegleiter für alle Forschung zu visuellen Artefakten.

 

 

English Abstract

Towards a Dialogic Approach of Seeing in Art History and Visual Culture Studies

The monograph Jenseits des Spiegels. Das Sehen in Kunstgeschichte und Visual Culture Studies is dedicated to the complex relationship between art history and visual-culture studies. With a discourse- and scientific-historical perspective on the act of seeing, identified as the overlapping moment of both disciplines, the art historian Susanne Falkenhausen examines the epistemological interests as well as the theoretical and methodological consequences by questioning canonical texts. The author advocates a dialogic approach to seeing in the process of interpretation – for an ethical dimension which not only maintains the tension between objectivity and subjectivity but also acknowledges the ‘otherness’ of the opposite entity.

 

 

Copyright 2017, OLIVER KLAASSEN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).