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 Bildung durch Wissenschaft gestalten: trotz, wider und mit Bologna

 

A Review by Lena Nüchter (lena.nuechter@gcsc.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

 

Schlaeger, Jürgen und Heinz-Elmar Tenorth. Bildung durch Wissenschaft. Vom Nutzen forschenden Lernens. Berlin: BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, 2020. 165 Seiten, 36,00 EUR. ISBN: 978-3-8305-5014-3.

 

Abstract

In Bildung durch Wissenschaft: Vom Nutzen forschenden Lernens diskutieren Jürgen Schlaeger und Heinz-Elmar Tenorth, ob in der heutigen, von Bologna und Reformen des nationalen Bildungssystems geprägten Universität die klassische Formel und Praxis von „Bildung durch Wissenschaft“ noch einen Platz hat. Darüber hinaus zeigen sie als langjährige Beobachter, Praktiker und Reformer der Universität auf, wie und unter welchen Voraussetzungen „Bildung durch Wissenschaft“ konkret an Studierende vermittelt werden kann.

 

Review

Streitgespräche finden gewöhnlich in mündlicher Form statt, oder mit dem zeitlichen Abstand des Publikationsbetriebs zwischen den Beiträgen. Insofern ist Bildung durch Wissenschaft: Vom Nutzen forschenden Lernens ein faszinierendes Format: auf ein gemeinsames Vorwort folgt ein Beitrag Jürgen Schlaegers, an den eine Antwort Heinz-Elmar Tenorths anschließt. Es handelt sich dabei also nicht um ein Streitgespräch im Wortsinn; die erneute Erwiderung Schlaegers bleibt aus. Trotzdem ergibt sich durch die im Ansatz dialogische Form eine erfrischende Unmittelbarkeit, die die Aufnahme eines vieldiskutierten Themas rechtfertigt.


Das Genre, zu dem auch Arbeiten zum Thema Krise der Universität oder der Geisteswissenschaften gehören, bewegt sich oft in einer Echokammer der betrübten Nabelschau. Der vorliegende Beitrag hebt sich von diesem Chor bereits durch seinen Anspruch ab, konkrete Handlungsempfehlungen auszusprechen. Die Stimmen der Autoren werden weiterhin dadurch interessant, dass beider Perspektive sich aus einer Doppelrolle als Lehrende und Gestaltende des Bologna-Prozesses, als „Täter und Opfer“ (S. 5) bestimmt. Dabei ist Schlaegers Beitrag ein mäanderndes Manifest für die Notwendigkeit von Bildung durch Wissenschaft. Tenorths wohltemperierte und deutlich kürzere Antwort ordnet dann dieses Manifest ein und, wo nötig, relativiert es auch. Die Beiträge sind also unbedingt im Dialog zu lesen, und entsprechend auch zu rezensieren.


Bildung durch Wissenschaft, zu diesem Schluss kommen die Autoren übereinstimmend, dürfe der Universität keinesfalls verloren gehen. Schlaeger warnt vor einer zunehmenden Entkopplung von Forschung und Universität und dem damit einhergehenden Verlust von Rationalität und (intellektueller) Mündigkeit in der Mitte der Gesellschaft (S. 108). Bei Tenorth tritt der Forschungsimperativ und damit das Vorleben und die Vermittlung von Bildung durch Wissenschaft als das Alleinstellungsmerkmal der Universität gegenüber anderen Bildungs- und Forschungseinrichtungen hervor (S. 147). Humboldts Grundsätze sind dabei aber nicht einfach auf das 21. Jahrhundert übertragbar. Es gelte, neue Antworten auf seine Fragen zu finden und die Fragen selbst an den erfolgten strukturellen Wandel anzupassen. Tenorths Beitrag arbeitet Kernaspekte dieses Wandels wie etwa den Verlust des Forschungsprimats der Universitäten und die Folgen der Expansion des Hochschulsystems kompakt heraus – für das Zielpublikum der gebildeten Öffentlichkeit eine wertvolle Orientierungsleistung.


Schlaeger postuliert zunächst die geschichtsinformierte Perspektive als grundlegende Voraussetzung für (informierte) Entscheidungen der Gegenwart, folgt dann jedoch nicht immer seinem eigenen Rat. Eine seiner Hauptthesen lautet, dass das aktuelle Erziehungs- und Bildungssystem präzise die Art von Bildung erschwere, die an den Universitäten erreicht werden solle: Scharfsinnig diagnostiziert er eine Reihe von Problemen, etwa die in einer scheinbar vom Zwang des 19. Jahrhunderts befreiten Gesellschaft weiterhin vorherrschenden „dichten Netzwerk[e] von ‚Müssen‘ und ‚Sollen‘, Dürfen und ‚Vermeiden‘“ (S. 50), die das Erlernen von Selbstständigkeit unterdrückten. Tenorth kontextualisiert sodann diese Probleme und erklärt das wiederholte Fehlschlagen von Reformen mit dem kontinuierlichen Versäumnis, geänderte strukturelle Bedingungen mitzudenken.


Nach Darstellung der Ausgangslage wenden sich beide Autoren der Frage zu, was Bildung durch Wissenschaft sei und wie man sie unter heutigen Voraussetzungen konkret fördern und bewahren könne. Schlaeger warnt eindringlich, Wissenschaft als „besonder[e] Sozialisationsform“ (S. 66) könne nur auf den Schultern bzw. als Resultat entsprechend ausgerichteter Bildungssysteme existieren; unser aktuelles Bildungssystem versage dabei gefährlich. Das Erlangen von Bildung als Ergebnis anstrengender mentale Arbeit sei durch die Bologna-Reform erschwert, die er als hinderlich für ausdauerndes Ausprobieren und die Aneignung anhaltenden Wissens sieht. Tenorths Perspektive ist optimistischer – er schlussfolgert, dass Bildung durch Wissenschaft in den aktuell von Bologna und dem Bildungssystem gesetzten Grenzen nicht nur grundsätzlich erreichbar, sondern weiterhin vom ersten Semester an in Universitäten vermittelbar sei – notfalls mit Hilfe „etwas listiger, aber durchaus legaler Partisanenstrategie“ im Umgang mit dem Korsett der Bologna-Universität (S. 144).


Beide Autoren betonen dafür letztlich die Zentralität von Interaktion, legen den Fokus jedoch auf unterschiedliche Akteure. Schlaeger identifiziert die aktive Rolle der Studierenden als tragend; vor allem sei die Identität des Individuums als Lernende_r eine fundamentale Voraussetzung für Bildung (S. 99). Bei Tenorth liegt gar der Hauptort von Bildung durch Wissenschaft in der Interaktion, präziser gesagt in der Gestaltung der Lehre durch die Lehrenden. Er plädiert für einen pragmatischen Umgang mit den Gegebenheiten, für einen Rückzug in – oder positiver formuliert, eine Konzentration auf – die individuelle Interaktion innerhalb von Lehrveranstaltungen, über welche die Lehrenden den Forschungshabitus, durch den sich Bildung durch Wissenschaft in der Praxis konstituiert, nicht nur aufzeigen, sondern auch vorleben können.


Schade ist, dass Schlaegers Beitrag gelegentlich selbst zeigt, was er bei Studierenden beklagt: dekonstruktive Kritik ohne konstruktives Element. Seine Diskussion der digitalen Medien etwa ist stark tendenziös. Diese Parteilichkeit ist in Teilen sicherlich gewollt – Schlaeger polemisiert und polarisiert. Man möchte ihm zustimmen oder ihn überstimmen, selten leidenschaftslos, wenn er in einem Parforceritt die größten Streitpunkte der Bildungsdebatte abarbeitet. Selbst dort, wo man ihm in der Sache nicht beipflichtet, ist sein Beitrag gleichsam ein Wetzstein, ein Sprungbrett – Tenorths Antwort ist auch dafür Beleg.


Zu schließen ist diese Rezension wie das Buch selbst mit Tenorths finalem Plädoyer gegen den Rückzug in dekonstruktive Kulturkritik und stattdessen für ein pragmatisches Anpacken im Rahmen der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Es gibt diese Möglichkeiten weiterhin im deutschen Universitätssystem; und in Tenorths Interpretation von Bildung durch Wissenschaft als erreichbar durch Interaktion in individuellen Lehrformaten wird die Kraft und der Einfluss der eigenen Lehre noch hervorgehoben statt abgewertet. Das Buch ist somit nicht nur geeignet für die interessierte Öffentlichkeit, sondern kann auch Lehrenden einen ermutigenden Blick auf die eigene Lehrpraxis eröffnen.


English Abstract

Shaping Bildung durch Wissenschaft: in spite of, contra, and with Bologna

In Bildung durch Wissenschaft: Vom Nutzen forschenden Lernens, Jürgen Schlaeger and Heinz-Elmar Tenorth discuss whether the classical formula of “Bildung durch Wissenschaft” (“education through the pursuit of knowledge”) is still central to the German university, which is now characterised by substantial changes through Bologna and national reforms. The authors, themselves long-term university observers, practicians, and reformers, further discuss how “Bildung durch Wissenschaft” can be imparted to students nowadays.


 

Copyright 2021, LENA NÜCHTER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).