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Domestizierter Kapitalismus?

 

Eine Rezension von Lisa Eiling (Lisa.Eiling@geschichte.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universtiät Gießen

 

Gerstenberger, Heide: Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2017. 739 Seiten, 49,90 EUR. ISBN: 978-3-89691-125-4.

  

Abstract

Heide Gerstenberger bemüht sich in Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus um eine empirische Zurückweisung der wirtschaftstheoretischen Annahme, dass der Kapitalismus sich selbst domestiziere. Direkte Gewalt als Mittel materieller Aneignung, so ihre zentrale These, sei weder ökonomisch kontraproduktiv, noch dränge die innere Dynamik kapitalistischer Ökonomie von sich aus zum Verzicht auf Gewalt. Ganz im Gegenteil würden Kapitaleigner_innen im den allermeisten Fällen jede Möglichkeit zur Profitmaximierung nutzen, wenn sie nicht von Regierung und Öffentlichkeit darin beschränkt würden. In einem materialreichen historischen Abriss vom vorkapitalistischen Welthandel des 15. Jahrhunderts über die Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zur globalisierten Ökonomie der Gegenwart schildert sie das jeweilige Ausmaß direkter Gewalt gegen Personen in den verschiedenen Entwicklungsphasen vor allem als Ergebnis politischer Entscheidungen.

 

 

Rezension

Im Gegensatz zu wirtschaftsliberalen Theorien beschrieb Karl Marx die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse bereits als einen Prozess regelloser und gewaltsamer Aneignung. Er ging jedoch gleichermaßen davon aus, dass sich mit dem Kapitalismus auch ein staatliches Monopol auf die Anwendung körperlicher Gewalt gegen Personen etabliert habe (S. 14). Dieser Grundannahme der politischen Ökonomie rückt Heide Gerstenberger in Markt und Gewalt zu Leibe, indem sie die Ausübung direkter Gewalt durch „Arbeit‚geber‘“ als systematisches Element kapitalistischer Aneignung beschreibt.

 

In einer knappen Vorbemerkung umreißt Gerstenberger im ersten Kapitel „von direkter Gewalt in unbarmherzigen Verhältnissen” ihr Vorhaben: Es gehe ihr nicht um die grundsätzliche Kritik der Organisation von Arbeit in Herrschaftsverhältnissen. Dies sei notwendiger Gegenstand jeder theoretischen Kapitalismuskritik (S. 16). Sie wolle vielmehr der Annahme der Kapitalismustheorie widersprechen, direkte Gewalt gegen Personen zum Zweck ökonomischer Aneignung sei für entwickelte Gesellschaften unnötig oder hinderlich. Die historische Realität zeige dagegen deutlich, dass direkte Gewalt auch nach der vollständigen Etablierung kapitalistischer Verhältnisse allseits präsent sei. Für die folgende Untersuchung definiert sie Gewalt als „entgrenzte Ausbeutung”, wobei sie „Ausbeutung“ als grundlegendes Merkmal des Kapitalismus versteht und „entgrenzte Ausbeutung“ als Abweichung von den jeweils geltenden Normen eines regulären Arbeitsverhältnisses (S. 18).

 

Die erste Hälfte des Buches befasst sich mit Strategien der Aneignung und des Widerstands vom Beginn der bewaffneten Konkurrenz um Handelsmonopolen im 15. Jahrhundert bis zur weltweiten Durchsetzung des Industriekapitalismus am Ende des ersten Weltkriegs. Als wesentliche historische Voraussetzung kapitalistischer Akkumulation betont Gerstenberger die „Freisetzung von Konkurrenz” als zentrale Funktionsweise kapitalistischer Märkte. Der Fokus liegt dabei auf der Entstehung der auf Verträgen basierenden „freien Lohnarbeit”, die Ende des 19. Jahrhunderts zur normativ dominanten Form des Arbeitsverhältnisses geworden sei; zugleich hätten Zwangsarbeitsverhältnisse daneben stets weiter bestanden. Anhand einer differenzierten Darstellung verschiedener Ausprägungen von Sklaverei, Schuldknechtschaft und Lohnarbeit in Preußen, England, Frankreich und den USA schildert sie detailliert die Herauslösung von Arbeitsverhältnissen aus obrigkeitsstaatlicher Kontrolle. Diese Entwicklung folge keiner ökonomischen Rationalität, sondern sei das Ergebnis politischer Auseinandersetzung und staatlicher Regulierung. Es folgt ein Kapitel zur gewaltsamen Aneignung in Übersee, wo die Arbeitskraft der Bevölkerung gleichzeitig noch zu großen Teil direkt der kolonialen Zwangsgewalt unterstellt gewesen sei.

 

In der zweiten Hälfte zeichnet Gestenberger daran anschließend nach, wie nach einer kurzen Phase der Domestizierung in den Metropolländern Praktiken direkter Gewalt auch in die „Binnenräume“ des Kapitalismus zurückkehrten. In aller Ausführlichkeit schildert sie die brutalen Arbeitsbedingungen von ‚Fremden‘ die als Haushaltshilfen, Tagelöhner_innen, Sexarbeiter_innen, als Seeleute oder in Schlachthöfen zu unfreier Arbeit gezwungen sind. Daneben berichtet sie über zahlreiche bekannte Fälle „entgrenzter Ausbeutung“ in Konzernen der Elektronik-, Nahrungsmittel- und Textilindustrie an den „Rändern“ der kapitalistisch-globalisierten Welt. Die Relativierung von Grenzen in der Globalisierung versteht Gerstenberger vor allem als eine tendenzielle Wiederaufweichung jener Grenzen, die den Aneignungsstrategien durch internationale Regulierungen entgegengesetzt werden. Da diese jedoch sämtlich politisch motiviert gewesen sind, seien sie damit auch historisch wandelbar. Maßgeblich für solche Wandlungen sei, was in einer kritischen Öffentlichkeit „als unerträglich angeprangert wird“ (S. 435).

 

Heide Gerstenberger legt mit Markt und Gewalt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher und politischer Interventionen gegen „entgrenzte Ausbeutung” und moderne (Lohn-)Sklaverei vor. Schon die freie Lohnarbeit wurde politisch erkämpft, so die Botschaft, und muss daher auch politisch gegen Formen der „entgrenzten Ausbeutung“ verteidigt werden. Abschließend stellt sie aber klar, dass sie ihre Untersuchung nicht als Anregung für Reformen verstanden wissen will, die über den Kapitalismus hinausweisen könnten: “Was hier diskutiert wurde sind Auswüchse. Sie sind der Reform zugänglich. Die daraus abzuleitende politische Perspektive ist notwendig begrenzt” (S. 675). Insbesondere die politische Theorie marxistischer Tradition dürfte an einer Debatte über Markt und Gewalt dennoch kaum vorbeikommen. Mit ihrem Versuch, der Praxis direkter Gewalt im Kapitalismus eine eigene Strukturbedeutung jenseits der ‚strukturellen Gewalt‘ von Marktgesetzten zuzuschreiben, stellt sie die Frage der Gewalt für die Kapitalismustheorie neu zur Diskussion.

 

 

English Abstract

Domesticated Capitalism?

In Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus Heide Gerstenberger challenges the theoretical assumption that capitalism tends toward self-domestication. She argues that direct violence neither contradicts economic rationality, nor does the dynamic of capitalist economy call for abandoning violence. On the contrary, equity owners most likely would exploit any opportunity to maximize their profit, if they weren’t challenged by governmental policies and public opinions. Providing a rich historical overview from the pre-capitalist world trade of the 15th century to the industrialization of the 19th century and present-day global economy, Gerstenberger describes the individual impact of direct violence on people over the course of time primarily as resulting from political struggles.

 

 

Copyright 2017, LISA EILING. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).