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(Nicht)Reiseland Russland? Russlandbilder und Stereotypen in postmoderner themenbezogener Literatur

 

Eine Rezension von Victoria Boldina (victoria.boldina@ggk.uni-giessen.de)

Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften

 

Drosihn, Yvonne: Literarische Russlandbilder. Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in der russischen und russlandbezogenen Literatur der Transformationszeit. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2018 (=Studien zur Slavistik, Band 43). 450 Seiten, 129,80 EUR. ISBN: 978-3-8300-9805-8.

 

Abstract

Das Buch Literarische Russlandbilder. Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in der russischen und russlandbezogenen Literatur der Transformationszeit von Yvonne Drosihn lädt ein, über den Gebrauch der im Alltag unbedacht aufgegriffenen land- und nationenbezogenen Bilder intensiv nachzudenken. Den Schwerpunkt der zwischen Literaturwissenschaft, Psychologie, Soziologie und Ethnologie gelegenen Untersuchung bilden Stereotype in der postmodernen Literatur. Es wird aufgezeigt, nach welchem Bauprinzip welche Russlandbilder entstehen, wie sie miteinander verbunden sind und wie sie in der Postmoderne mit Blick auf jahrzehntelang tradierte ost-westliche Muster behandelt und gedeutet werden.

 

 

Rezension

(Nicht)Reiseland Russland (S. 165), (Alp)Traumland Osten (S. 148) – sind diese verklammerten, zweideutigen Wortkonstrukte im Kollektivbewusstsein ins Wanken geraten, nachdem der ‚Eiserne Vorhang‘ gefallen ist? Unterlagen die Stereotype einer Veränderung? Die umfangreiche Monografie unter dem Titel Literarische Russlandbilder. Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in der russischen und russlandbezogenen Literatur der Transformationszeit von Yvonne Drosihn, Slavistin an der Universität Halle, widmet sich dem Zustandekommen und Funktionieren von den obengenannten und vielen anderen Zuschreibungen über Russland und stellt eine breitgefächerte Vorbereitung auf die anschließende Analyse des Umgangs mit dem Bildbestand bei Schriftstellern der Postmoderne dar. Die Autorin betont, dass ihr Vorhaben nicht darauf abzielt, Russland zu deuten. Stattdessen möchte sie Prozesse ergründen, die rund um gängige, schon fertige Russlanddeutungen sowie um ihre „Deuter“ (S. 26) existieren.

 

Das erste Kapitel geht der der Entstehung von Stereotypen allgemein, d.h. der Stereotypisierung zugrundeliegenden Grenzziehung zwischen Fremdem und Eigenem nach, wofür sozialpsychologische Forschung einbezogen wird. Mit Untersuchungen von W. Crudorf und K. Seifert untermauert die Autorin das Zurückführen auf Kulturkontakte. Insofern heute die Hauptdarlegung von Stereotypen im Rahmen der (interkulturellen) Kommunikation über Medien erfolgt, wozu neben audiovisuellen Kanälen wie der Berichterstattung im Fernsehen auch die Literatur gehört, ist der Begriff ‚Stereotyp‘ neben politischer und journalistischer Sphären auch für die literarische relevant. Seine Anwendung zu Forschungszwecken kann jedoch nur dann schlagkräftig sein, wenn Literaturwissenschaftler von Negativkonnotationen absehen. Statt sofortiger Wertbeladenheit sollen sie vielmehr das Assoziationspotential der Stereotypen hervorheben, so Yvonne Drosihn in Anlehnung an E. O‘Sullivan (vgl. S. 78). In diesem Zusammenhang beleuchtet das zweite Kapitel Bedingungen und Formeln der literarischen Bildbildung.

 

Aufgrund der historisch determinierten Rolle des Reisenden als erstes Glied der Erlebnisvermittlungskette über fremde Kultur sind literarische Reisewahrnehmungen die optimalste Form, um das Andere zu erfassen. Als Spezialfall nimmt das dritte Kapitel die Ost-West Beziehungen in den Fokus: es findet ein um Identitätsdiskurse erweiterter Rückblick auf Entstehungsbedingungen der Topoi des Ostens im deutschen medialen Raum statt, wobei nicht zuletzt Kriegserfahrungen, aber auch z.B. Inhalte der klassischen russischen Literatur ihre Rolle gespielt haben. Die Tatsache, dass in der Nachkriegszeit auch die DDR in gewisser Hinsicht zum Osten zählte, ist impulsgebend für Analogien zu zwiespältigen Selbsturteilen und Fremdenbewertungen im deutsch-russischen Kontext. Gleichermaßen verhilft eine Aufstellung der Autostereotype von Russland aus historischer, ethnologischer, literaturhistorischer und sozialpsychologischer Perspektive zur vertieften, bilateral geprägten Aufnahme des darauffolgenden „Katalogs der literarischen Russlandbilder“ (S. 232). Tataren, Barbaren und andere ‚Gefahren‘ einerseits, russische Seele, Banja und Samowaren andererseits ergeben im Rahmen dieses sog. Stereotypenbestands ein durchaus interessantes Geflecht. Die Topoi literarischer Abstammung, die des lišnij čelovek (‚überflüssiger Mensch‘) und des malen‘kij čelovek (‚kleiner Mann‘), finden sich allerdings nicht genug angesprochen, möglicherweise um den nicht minder wichtigen soziologischen Aspekten Vorrang zu geben.

 

Die „Transformationszeit,“ der zu untersuchende Zeitraum posle perestrojki, von 1991 bis – im Textkorpus der Studie – 2008, kommt schließlich im vierten Kapitel in den Blick. Auf dem deutschen Markt hat sich in dieser Periode russische wie nicht-russische postmoderne Literatur etabliert, die das neu aufgeblühte Interesse für Russland nutzte, indem sie wiederholt klassische Ost-Stereotype aufgriff und durch deren Bestätigung für westliche Aufmerksamkeit sorgte (vgl. S. 275). Die Hypothese der Monographie lautet, dass es neben diesen Büchern eine alternative Russland-Literatur gibt, in der die Autor_innen mit Fremdheitsmustern sowie Eigenbildern andersartig, nicht gerade verkaufsgerichtet umgehen (vgl. S. 277). Anhand ausgewählter Texte gibt Drosihn einen sehr guten Überblick über Gebrauchsstrategien für Klischees in der neueren Literatur, mit all der Uneindeutigkeit der Geisteshaltungen in Russland nach dem Regimewechsel. Im zitierten russischen Text liegt es mancherorts zwar nicht auf der Hand, ob die Schreibweise auch im Original so steht oder eher Tippfehler vorkommen (z.B. „матерщ [ш?] инникам“ (S. 286), „подои [й?] дёшь“ (S. 289), auch „по-русский [ohne й]“ (S. 393)), dies fällt aber im Großen und Ganzen nicht besonders stark ins Gewicht. Zu betonen wäre hingegen die Vorgehensweise der Autorin: sie rafft klischeefördernde Titel auf das Wesentliche und präsentiert diese sofort unter Verwendung bereits katalogisierter und zum Teil auch frisch eingeführter Topoi, wodurch sie das Risiko einer schlichten Nacherzählung meidet. Zugleich betrachtet sie viele Titel im Verhältnis zu den zwei Reiseromanen, denen zum Schluss eine ausführliche Analyse gewidmet wird – The Russian Debutante‘s Handbook (2002) von Gary Shteyngart und Altyn-Tolobas (2001) von Boris Akunin. So überlappen sich In der Luft (2003) von Sergej Bolmat und Gary Shteyngarts Romane sujetmäßig – Protagonisten sind Emigranten – und angesichts der Frage nach der Behandlung des gleichen Fundus an Klischees wie Mafia, Drogen, Korruption, unterscheiden sich aber bei näherem Hinsehen. Bolmat passt seine Satire dem komplizierten, kurvenreichen, aber nüchternen und bedächtigen Fluss des Lebens an, d.h. er bleibt „realistisch“ (S. 291), kontemplativ und geht ins Detail, während Shteyngart östliche und westliche Stereotype bzw. Gegensätze provokativ „zusammenprallen“ (S. 354) lässt und daraus Humorfunken schlägt – eine Parodie auf den Wettlauf der Mächte (vgl. S. 371). Doch bevor die langersehnte Primärtextanalyse im sechsten Kapitel beginnt, werden ihr im fünften Kapitel der Genreüberblick und Exkurse über Leserinterpretationstheorien und Humor vorangestellt.

 

Diese ausgedehnten Abschweifungen vermögen von der eigentlichen Analyse abzulenken, denn das ungleiche quantitative Verhältnis zwischen theoretischen und praktischen Abschnitten führt am Ende zu einer nur teilweisen Beantwortung der anfänglich gesetzten Frage. Auch wenn die Autorin im sechsten Kapitel feststellen kann, dass überzeugende Versuche literarischer Einflussnahme auf die Wahrnehmung von sonst laufend bestätigten Russlandzuschreibungen vonstattengehen, bleiben die Mutmaßungen über die reale Wirkung dieser Versuche auf die Leserschaft weichkantig. Die Antwort „liegt letztendlich in der Psyche des Lesers“ (S. 376). Andererseits ist zu beachten, dass der so große theoretische Teil „[…] absichtlich ausführlich gehalten [ist], da dort gewonnene Erkenntnisse auch abstrahierbar und anwendbar sein sollen für andere Veröffentlichungen nach 1991“, so die Verfasserin (S. 25). Einen fruchtbaren Ansatz liefert sie selbst, indem sie der Adaptation von Akunins Altyn-Tolobas für Kinder (2005) Rechnung trägt (vgl. S. 147-148). So wird die Monographie für eine Anzahl möglicher weiterer literarischer Imageforschungen, aber auch kulturwissenschaftlicher Forschungen zum Russlandauftritt in der westlichen Gesellschaft allgemein, eine Hilfe sein, weil sie slavistische Sachverhalte vielseitig und interdisziplinär ergründet. Das Buch ist somit ein gelungener Versuch einer innovativen imagologischen Studie zu Russland, die, wie versprochen ohne eine Deutung zu sein, Russlandbilder und ihre Eigenschaften von den ideologischen Ursprüngen her in möglichst vielen Zusammenhängen behandelt. Es ist auch allen Interessenten nahezulegen, die über das Offensichtliche hinaus blicken und verbreitete Standardmuster in den Medien um einige Facetten erweitern möchten.

 

 

English Abstract

(Not) A Destination? Images and Stereotypes of Russia in Postmodern Thematic Literature

The book Literarische Russlandbilder: Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in der russischen und russlandbezogenen Literatur der Transformationszeit by Yvonne Drosihn invites readers to intensively reflect on the usage of generalized images of the land and nation unconsciously taken up in our daily lives. The interdisciplinary research following the principles of literary studies, psychology, sociology and ethnology focuses on stereotypes in postmodern literature. One will get to know how thought patterns about Russia are built, how they arise and get connected to one another as well as numerous details about their usage and interpretations in postmodernism in reference to previous mental representations of the East in Western society.

 

 

Copyright 2019, VICTORIA BOLDINA. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).