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Medium und kleine Form. Ein Band zur langen Geschichte eines scheinbar jungen Genres

 

Eine Rezension von Fabian Goppelsröder (fabian.goppelsroeder@gmail.com)

Freie Universität Berlin

 

Gamper, Michael und Ruth Mayer (Hg.), Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. transcript: Bielefeld, 2017. 398 Seiten, 34,99 EUR. ISBN: 978-3-8376-3556-0.

  

Abstract

Die aktuell so virulente Frage nach der spezifischen Poetik der Kürze behandeln Michael Gamper, Ruth Mayer und die Beitragenden ihres Bandes Kurz & Knapp mit einer Analyse der Mediengeschichte kleiner Formen seit dem 17. Jahrhundert. Anstatt sich auf SMS und Twitter, Snapchat und Vine allein zu fokussieren, werden vom frühneuzeitlichen Apophthegma über Nietzsches Aphorismen und frühem Kino bis zu Twitter-Feeds und Handyvideos kleine Formen besonders aus ihrer medialen Einbindung heraus analysiert. Eine Perspektive, welche die Fixierung auf die Kürze durchbricht und die jeweils spezifischen Praktiken ihrer Produktion zum Ursprung der besonderen Poetik kleiner Formen werden lässt.

 

 

Rezension

Die Frage nach der spezifischen Poetik kleiner Formen erfährt aktuell in den Literatur- und Medienwissenschaften besondere Aufmerksamkeit. SMS und Twitter, Snapchat und Vine haben auf wenige Zeichen begrenzte Textnachrichten, schnell geschossene Fotografien und nur ein paar Sekunden kurze Filme zu wichtigen Agenten unserer Alltagskommunikation werden lassen. Allein die kleine Form scheint dem Tempo unserer Zeit, dem kurzatmigen Lebensrhythmus zu Beginn des 21. Jahrhunderts angemessen. Und doch ist sie keine Erfindung der letzten zwei Jahrzehnte. Seit der Antike gibt es Aphorismen wie Epigramme und seit der frühen Neuzeit gewinnt die ‚Gattung’ kurzer Texte an Vielfalt und Sichtbarkeit. So ist es keineswegs beliebig, dass Michael Gamper und Ruth Mayer ihren Band zum Thema im 17. Jahrhundert beginnen lassen. „Die Karriere der kurzen Formen hängt eng mit kulturellen Errungenschaften des 17. Jahrhunderts zusammen, die bis zum 19. Jahrhundert rasant an Fahrt aufnahmen: mit der Entwicklung eines nationalen und transnationalen Pressewesens, mit der Formation globaler Öffentlichkeit und Märkte, mit der wissenschaftlichen Professionalisierung und mit der Herausbildung neuer Medientechnologien. Im Zuge dieser Neuordnung der Kommunikations- und Informationsökonomie gewannen Formate an Gewicht, die auf das Unbekannte und Neue kompakt und kompatibel zu reagieren versprachen: Aphorismen, Anekdoten, Fallbeispiele, faits divers und Miszellen aus ‚aller Welt‘.“ (S. 7).

 

Damit ist einer der Grundgedanken dieses Buches gleich auf der ersten Seite formuliert: kleine bzw. kurze Formen sind eng mit medialen Praktiken verbunden. Ihre Geschichte ist immer auch Mediengeschichte. Eine Einsicht mit mindestens zwei Konsequenzen: Zum einen lenkt sie den Blick auf den pragmatischen Ursprung kleiner Formen. Die aufkommenden Sammlungen kurzer Prosatexte in der frühen Neuzeit nennt Maren Jäger „Kinder der medientechnischen Revolution, die das Kompilieren von literarischen Kleinformen ermöglichte und deren Zirkulation beschleunigte“ (S. 23). Und die zunächst 140 Zeichen einer Twitternachricht haben ihren Ursprung in der Kombination technischer Standards im europäischen Mobilfunk Anfang der 1980er Jahre mit „der alltagsliterarischen Tradition der Postkarte“ wie Johannes Passmann deutlich macht (S. 327f.). Die kleine Form entspringt technisch-praktischen Bedingungen und ist von Anfang an Teil der operativen Logik des Mediums. Es geht um Effizienz, um „Zeitersparnis“ (Heike Schäfer, S. 210), um das schnelle Verschieben von Information zwischen Sender und Empfänger. So ist es wenig überraschend, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer durch Beschleunigung geprägten Zeit, der kurze Text des Telegramms für weite Teile der schreibenden Profession stilbildend wirkte: der „telegraphic style“ (Robert Lincoln O’Brien) veränderte insbesondere die journalistische Sprache dieser Jahre.

 

Doch hat die mediale Eingebundenheit der kleinen Form auch eine andere Seite. Liest man die Beiträge des Bandes, so zeigt sich nicht so sehr die pointierte faktische Geschlossenheit, sondern die Subversion der schlichten ‚Faktenhuberei’ als Ausgangspunkt und Kern einer Poetik kleiner Formen. Wo sich Gertrude Stein in ihren Künstlerportraits sprachlich an den Rhythmus einer fordistisch durchorganisierten Industriegesellschaft anzupassen scheint, schafft sie durch serielle Variation tatsächlich weniger Beschleunigung, als eine „Fokussierung der Wahrnehmung“ auf den gegenwärtigen Moment (Heike Schäfer, S. 212). Die auf den ersten Blick der Telegrafenlogik der Tageszeitung „Le Matin“ perfekt entsprechenden „Nouvelles en trois Lignes“ Félix Fénéons stellen sich bei näherer Betrachtung als „merkwürdige […] Mischung aus Präzision und Unbestimmtheit“ (Michael Homberg, S. 131) heraus, die „zwischen den Zeilen auf die Bruchstellen der kausalen Logik nachrichtlicher Berichterstattung“ weisen (Michael Homberg, S. 129). Auch Friedrich Nietzsches Aphorismen entfalten ihre Kraft nur innerhalb des zyklisch-seriellen Erzählnetzwerkes seiner Bücher, in welchem sie sowohl zuspitzen und pointieren als auch aushöhlen, unterlaufen und verschieben (Patrizia A. Gwozdz, S. 170). Die kleine Form ist nicht einfach nur kurz. Sie ist das „Infusions-Ideechen“ Lichtenbergs (Elisabetta Mengaldo, S. 84), das sich in seiner pointierten Kleinheit an alles anhängt, Chaos statt Ordnung stiftet, gerade so aber auch neue Blicke und Einsichten ermöglicht. In seiner Analyse des „Räthsels“ in Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern“ sieht Michael Gamper Kleist die zeitgenössische Zeitschriften-Praxis gerade deshalb imitieren, um sie in ihren Konsequenzen schließlich ins Leere laufen zu lassen. In diesem ‚Scheitern’ aber schafft er es, eine „neue Poetik“ der kleinen literarischen Form zu lancieren (S. 112). Mit der Irritation des scheinbar Selbstverständlichen wird das Rätsel zu einer „Kunst, die zur anhaltenden Reflexion über die eigene Gemachtheit“ auffordert (S. 116). Die mediale Einbindung bietet die Möglichkeit zu dem, was man „narrative jamming“ nennt (Elke Rentemeister, S. 374): Erwartungen werden geweckt, um sie zu enttäuschen. So lässt sich die Perspektive auch über den kurzen Text hinaus auf andere kleine Formen öffnen. In Kurz & Knapp sind das vor allem kurze Filme. Dabei wird die Nähe der Ästhetik des frühen Kinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts und „narrative[r] Kurzformen der Gegenwart wie dem Handyfilm, dem digital short oder dem Youtube-Clip und deren Clipästhetik“ unübersehbar (Ruth Mayer, S. 255). Die kurze Form kreiert hier Kontingenz und nimmt diese – im Unterschied zu ihrer traditionellen Problematisierung – als Handlungsoption und Chance positiv auf (Ruth Mayer, S. 259). Die Möwe, die sich der auf dem Tisch liegenden Kamera bemächtigt, mit dieser wegfliegt und sie erst auf einem weit entfernten Hausdach wieder fallen lässt, ist Störung, ungewollt und doch auch Ursprung anderer, ungeplanter Bilder (Lisa Gotto, S. 353f).

 

Kurz & Knapp gibt einen pointierten Einblick in die spezifischen Verwicklungen von kleiner Form und Medium. Trotz der insgesamt siebzehn Beiträge und einer Unzahl spannender Beobachtungen, wünscht man sich am Ende aber doch noch zwei, drei Essays, welche die kleine Form auch jenseits des literarischen bzw. filmischen Registers untersuchten. Wie steht es um die Mediengeschichte des Albumfotos und ihrer Konsequenzen für die Arbeit eines Schriftstellers wie Alfred Döblin? Wie um den Einfluss der drei Minuten Länge einer Schellackplatte auf das frühe Werk Duke Ellingtons? Obwohl, vielleicht gerade weil sich solche Fragen nach der Lektüre dieses Bandes aufdrängen, zeigt sich die Produktivität des Ansatzes, die kleine Form weniger über ihre absolute Kürze zu bestimmen, als in ihrer medialen Einbettung zu verstehen. Nicht zuletzt hierin liegt der besondere Reiz des Buches.

 

 

English Abstract

Medium and Small Form. A Volume on the Long History of a Seemingly Young Genre

Michael Gamper, Ruth Mayer and the contributors to Kurz & Knapp address the currently urgent quest for a poetics of brevity through a media-historical analysis of the small form since the 17th century. Instead of solely focusing on text messages, Twitter, Snapchat and Vine, the analysis covers early modern apophthegma, Nietzsche’s aphorisms and early cinema through to Twitter feeds and cell phone videos with a special focus on their medial embedding. The work breaks through the fixation on shortness to shed light on the respective practices involved in this form’s production as the origins of a poetics specific to the small form.

 

 

Copyright 2018, FABIAN GOPPELSRÖDER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).