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Die Frage nach dem „echt Jüdischen“

 

A Review by Luisa Klaus (klausl@stud.hmtm-hannover.de)

Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

 

Eisele, Theresa. Szenen der Wiener Moderne. Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021. 165 Seiten, 25 EUR. ISBN: 978-3-525-35823-8.

 

Abstract

Anhand von drei im Umkreis der Wiener Moderne entstandenen Artefakten analysiert dieser Essay das Verhältnis von jüdischer Selbst- und Fremdwahrnehmung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Hintergrund bildet ein diskursiver Ansatz, welcher dem jüdisch konnotierten Ideal der sozialen Zugehörigkeit und der Authentizität sowie den damit verbundenen Hierarchisierungen eine neue Qualität gibt: Der künstlerische Kontext der drei Artefakte bildet sowohl den Rahmen des Essays als auch die historische Projektionsfläche für die Frage nach dem „echt Jüdischen“.

 

Review

„Viele Dinge überdauern uns, ohne dass wir Notiz davon nehmen“ (S. 10), schreibt die Wiener Theater- und Medienwissenschaftlerin Theresa Eisele in ihrem jüngst erschienenen Essay Szenen der Wiener Moderne. Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen. Eisele stellt fest, dass durch eine neuerliche Auseinandersetzung manche dieser Dinge mitunter Jahre und Jahrzehnte später „als Scharnier zwischen Gegenwart und Vergangenheit“ in Erscheinung treten: „In jenen Momenten, in denen wir ihnen eine besondere Qualität zuweisen, eröffnet sich uns ein Zugang zu den Verwandtschaften von Materie und Gesellschaft, zu den Verstrickungen zwischen Ding- und Erinnerungswelten“ (S. 10).


In diesen einleitenden Sätzen zeigt die Autorin bereits die drei Hauptaspekte ihres Essays auf: Im Zentrum stehen das Artefakt, also ein vom Menschen gemachtes Objekt, sowie seine Zeitgebundenheit und Diskursivität. Anhand dreier im Kontext der Metropole Wien entstandenen Artefakte — der Stummfilm Die Stadt ohne Juden (1924), die Theaterinszenierung Die Klabriaspartie (1890) und die Typenphotographie eines jüdischen Hausierers (1873) — arbeitet Eisele die Verschränkung von Bildwelt und Wahrnehmung sowie von Entstehung und Rezeption heraus, wobei eine Historisierung dieser drei Artefakte weniger durch Einfügen in eine kontinuierlich voranschreitende Großerzählung geschieht, sondern mittels deren Einbindung in Repräsentationsmechanismen. Dabei zielt die Autorin letztlich auf die in der Moderne virulente Dimension des ‚Authentischen‘ ab, auf die immer wieder ausgehandelte Frage nach künstlerischer und anthropologischer Echtheit als Charakteristikum des gesellschaftlichen Diskurses um 1900. Eisele stellt den rasant voranschreitenden Modernisierungsprozess mitsamt seinen „Brüchen, Krisen und Umwälzungen“ (S. 20) sozialer, politischer und demographischer Art anschaulich dar als das Grundrauschen, vor dessen Hintergrund sich die von zivilisatorischen Kodizes ‚eingeengte‘ bürgerliche Sphäre mit dem Ideal einer gelebten Authentizität auseinandersetzt. Die anderswo meist explizit angeführte Zeit der Wiener Moderne, die Jahrzehnte zwischen 1890 und 1910, lässt die Autorin dabei hinter sich: Vielmehr stehen Aushandlungspraktiken, welche die Moderne an sich kennzeichnen und sich nicht auf den Zeitraum von genau zwei Jahrzehnten festlegen lassen, im Vordergrund. Angesichts des griffigen Buchtitels wäre allerdings eine noch tiefergehende Einführung dieses stehenden Begriffs wünschenswert gewesen — idealerweise bevor auf Seite 20 von der „Wiener Geschichte der Moderne“ die Rede ist.


In welchem Maße die „Authentizität als Denkfigur“ (S. 12) gerade Jüdinnen und Juden zur Zeit der Wiener Moderne betraf, wird anhand der nachgezeichneten Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der drei Artefakte und ihrer Analyse illustriert. Jeder dieser drei „Bildwelten des Jüdischen“ (S. 11) ist ein Kapitel gewidmet, abgerundet von einer kurzen Synopse. Die die Artefakte verbindenden Charakteristika sind zwei sich gegenüberstehende jüdische Lebenswelten (akkulturiertes, säkularisiertes Judentum in Westeuropa, in Tradition und Religion verhaftete Jüdinnen und Juden in Osteuropa) sowie die paradoxe Verstrickung der bereits im Titel benannten „Vorstellungswelten des Jüdischen“. Eingeführt wird so die Figur des von Zeitgenoss_innen als besonders authentisch wahrgenommenen „Ostjuden“ (S. 21), die deswegen so echt und wahrhaftig wirkte, weil sie einer Imagination ihrer selbst entsprach und dadurch zur „typisierten Wahrheit“ (S. 40) wurde. Eiseles methodische Verflechtung von Quellenstudium, film- und theaterwissenschaftlichem sowie ethnographischem Ansatz erscheint auch deswegen so virtuos, weil sie die von den Artefakten dargebotenen Projektionsflächen — und mit ihnen das Verhandeln von Authentizität und Hierarchie — adäquat beschreiben kann.


Die Frage nach dem „echt Jüdischen“ (S. 15) verbindet Eiseles Analyse aller drei Artefakte. So sei „echt jüdisch“ (S. 15) zu sein, also im gesellschaftlichen Diskurs eine Form von Authentizität erlangt zu haben, keineswegs positiv konnotiert gewesen, ganz im Gegenteil. Die Hoffnung auf soziale Teilhabe und Gleichstellung sollte sich als trügerisch, im gefährlichsten Fall als „antisemitisches Urteil“ herausstellen (S. 19). Es ist anzunehmen, dass der von Eisele konstatierte Konstruktcharakter von Authentizität, also die Diskursivität von jüdischer „Echtheit“, ihre Entscheidung beeinflusst hat, den Essay antiteleologisch in einer „Rückerzählung“ (S. 8) anzulegen. An anderer Stelle wurde dieses Vorgehen als „der Sache nach ohne erkenntnisfördernden Grund“ (Günter Helmes, „Theresa Eisele: Szenen der Wiener Moderne: Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen“, in: MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews, 38/2021, Nr. 3–4, S. 279–281. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/17919) bemängelt. Ich möchte dieser Kritik entgegenhalten, dass sicherlich viele Leser_innen dazu neigen, den Konflikt zwischen jüdischer Selbstpositionierung und vermeintlich jüdischer Verantwortung für negative „Modernisierungsprozesse“ (S. 21) als kontinuierliche Entwicklung wahrzunehmen. Die Katastrophe des Holocaust wird auch deswegen zum impliziten Teil von Eiseles Ausführungen, weil wir um sie wissen. Ein Verständnis der in den jeweiligen Artefakten beschriebenen Rezeptionsmuster und Machtstrukturen wird durch die umgekehrte Chronologie aber begünstigt. Die immer wieder neu ausgehandelten Bezüge zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung als Teil der Vorstellungen vom Jüdischen folgen eben keiner Teleologie; Eisele beschreibt diesen Sachverhalt an mehreren Stellen mit dem Terminus des Kondensats, der die Typisierung des Jüdischen in den drei Artefakten gut umschreibt. Eine solche Konzeption hätte durchaus genauer erläutert werden können, doch sie geschieht allenfalls zwischen den Zeilen („Bettauer entwarf darin ein Gedankenexperiment, das nachträglich als Prophezeiung der Schoah rezipiert wurde, de facto aber hauptsächlich Gesellschaftsklima und Politik der 1920er Jahre fiktionalisierte […]“, S. 25) oder klingt nur sehr leise an. Der Schluss des Essays erweist sich durch die Bezugnahme auf Susan Sontags captured experience (Susan Sontag, On Photography. New York 1977) als eine etwas spät platzierte Orientierungshilfe, weshalb dieser Essay die historischen Kontinuitäten nicht priorisiert. In jedem Fall zeigt sich in diesem schmalen Band, dass die Anthropologie des Bildes und Entwicklungen wie der visual turn für die vorgenommene Analyse und Kontextualisierung im Zentrum stehen. Sowohl typisierte Bild- als auch dahinterliegende Lebenswelten werden dann plastisch, wenn nach der konkreten Verschränkung beider gefragt wird.


Abschließend lassen sich also nur wenige Kritikpunkte anbringen. Der Anmerkungsapparat könnte inhaltlich ausführlicher und formal etwas übersichtlicher gestaltet sein, um den Leser_innen mit direkten Seitenverweisen als Unterstützung zu dienen. Erfreulich wäre auch eine deutlichere Heranführung an Methodik und Konzeption des Essays gewesen. Zu jedem der von Eisele eingeführten Felder — Theorie der Gegenstände, Begriff der Authentizität, Selbst- und Fremdzuschreibungen im Spannungsfeld von jüdisch konnotierter künstlerischer Sphäre und jüdischer Lebenswelt — hätten noch etliche Seiten mehr geschrieben werden können, was auf weitere Publikationen dieser Autorin hoffen lässt.

 

English Abstract

What Is Considered to Be “Genuinely Jewish”

While examining three artifacts originating in Viennese Modernism, this essay focuses on the self- and external perceptions of Jews within mainstream society at the threshold of the 20th century. A discursive approach of a specifically Jewish ideal of social belonging — concerning authenticity and associated stratification — provides a framework for understanding the artistic contexts of the three artifacts. This contextualization serves as a contemporary mirror for the questioning of what is considered to be "genuinely Jewish.”


 

Copyright 2022, LUISA KLAUS. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).