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Ohnmacht und Demokratie: Ein Teufelskreis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen

 

A Review by Jonas Schmeinck (jonas.schmeinck@fh-dortmund.de)

Fachhochschule Dortmund

 

Huke, Nikolai. Ohnmacht in der Demokratie. Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe. Bielefeld: transcript Verlag, 2021. 317 Seiten, 35 Euro. ISBN: 978-3-8376-5682-4.

 

Abstract

Die Monographie Ohnmacht in der Demokratie ist eine soziologische Auswertung von qualitativen Interviews aus dem Projekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“, die Teilhabe an demokratischen Prozessen in der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Der Autor Nikolai Huke stellt vor allem die individuelle Handlungs(Un-)fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens und der Partizipation an politischen Prozessen und deren strukturelle Ursachen durch politische Ausgrenzung und Überforderung in den Fokus.

 

Review

In seinem 2021 veröffentlichten Buch Ohnmacht in der Demokratie analysiert Nikolai Huke in drei thematisch aufgeteilten Hauptkapiteln die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen individueller Handlungsunfähigkeit und der demokratischen Gesamtverfassung der Bundesrepublik Deutschland. Der Autor beleuchtet im ersten Teil politische Ausschlüsse in der Bundesrepublik anhand von demokratietheoretischen Entwürfen. Um die Auswirkungen auf das Individuum zu erläutern, ergänzt er diese im zweiten Teil durch soziologische Theorien zur Ursache von subjektiver Ohnmacht. Abschließend wertet Nikolai Huke im dritten Teil qualitative Interviews mit Akteur_innen aus der Geflüchtetenhilfe aus. Diese wurden im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojektes „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ geführt und dienen Huke als empirische Grundlage zur Überprüfung seiner zentralen These. Er postuliert, dass geflüchtete Menschen Ohnmacht erleben, die repräsentativ für alle Menschen in Deutschland ist, und sie diese Ohnmacht aber besonders stark erfahren. Laut Huke sind diese Erfahrungen stellvertretend für die gesamte Bevölkerung, da sich die demokratischen Institutionen und ihre Strukturen durch das wechselseitige Verhältnis zwischen Politik und Subjekt grundlegend verändert haben. Er begründet dies vor allem mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Sexismus oder ökonomische Ungleichheiten, an deren Grenzen sich Ausschlüsse vollziehen und Subjekte Erfahrungen von Ohnmacht machen.


Im zweiten Kapitel beschreibt Huke die fünf unterschiedlichen Erscheinungsformen von Ohnmacht gegenüber politischen Abläufen. Als politisch und demokratisch bedingte Ausschlussformen, die Ohnmacht entstehen lassen, nennt er beispielsweise völkisch motivierte Exklusion marginalisierter Gruppen, die unterschiedlichen Chancen der Artikulation von Meinungen im politischen Diskurs, oder die Herausforderungen im Umgang mit bürokratischer Irrationalität. Durch die Darstellung dieser vielfältigen Erscheinungsformen macht Huke deutlich, dass er Ohnmachtserfahrungen als Wechselwirkung zwischen Individuum und Politik versteht und nicht als bloße Gegenüberstellung von ohnmächtigem Subjekt und mächtiger Politik. Er beschreibt Ohnmacht als unterschiedliche Teufelskreise, die politisch erzeugt werden, sich gegenseitig bedingen, legitimieren und im Subjekt verstärken. Hukes Fokus liegt dabei auf der Darstellung der Teufelskreise als sich gegenseitig beeinflussende Abläufe, mit denen das Individuum konfrontiert wird und die sich auf die subjektiven Handlungsweisen auswirken. Dabei wird deutlich, dass das Verhalten von ohnmächtigen Individuen politisch erzeugt wird, diese aber ebenso durch ihre Ohnmacht politische Abläufe zu ihren Ungunsten verändern. Am Ende der jeweiligen Unterkapitel finden sich zudem grafische Darstellungen der von Huke beschriebenen Kreisläufe, die die gegenseitige Bedingtheit dieser Teufelskreise besonders deutlich visualisieren.


Nachdem Huke verdeutlicht hat, dass das Versprechen politischer Teilhabe in Deutschland auf vielfältige und sich gegenseitig bedingende Weise brüchig ist, analysiert er im dritten Kapitel, wie die Erfahrungen der politisch erzeugten Ohnmacht auf das Subjekt wirken. Diese Analyse nimmt er anhand von poststrukturalistischen, kritisch-theoretischen und reproduktionstheoretischen Theorien vor und ergänzt diese durch Perspektiven aus der pädagogischen und psychologischen Praxis. Dabei verknüpft der Autor die unterschiedlichen Ansätze aus der Soziologie nicht zu einer Argumentation, sondern leitet aus der jeweiligen Theorie ab, welche unterschiedlichen Umgangsformen die Subjekte mit ihrer Ohnmacht entwickeln können, die von Sprachlosigkeit, Angepasstheit und Handlungsunfähigkeit bis hin zur Entwicklung von Trauma oder Resilienz reichen.


Als Belege für seine These der politisch reproduzierten und strukturell verankerten Ohnmacht dienen Nikolai Huke im vierten Kapitel qualitative Interviews mit unterschiedlichen Akteur_innen aus der Geflüchtetenhilfe, die im Zuge des  Forschungsprojekts „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ (2017–2020) durchgeführt wurden. Die Auswertung ist nach den in den Interviews angesprochenen Themen strukturiert, wie beispielsweise soziale Isolation, Abhängigkeit von Hilfesystemen oder eine generelle Unsicherheit in der Zukunftsgestaltung von geflüchteten Menschen. In der umfangreichen und mit vielen Zitaten versehenen Auswertung der Interviews bestätigt sich Hukes These der Reproduzierbarkeit von Erfahrungen geflüchteter Menschen auf die allgemeine Verfassung der Demokratie in Deutschland. So sind beispielsweise nicht nur geflüchtete Menschen mit einem überfordernden Alltag (Kap. 4.3), Chancenlosigkeit (Kap. 4.6) oder Zukunftsunsicherheit (Kap. 4.1) konfrontiert. Anhand der geschilderten Schwierigkeiten in der individuellen Lebenssituation wird deutlich, welche Hürden für eine Partizipation an demokratischen Prozessen im Alltag der betroffenen Menschen existieren. Auch in der Auswertung der Empirie visualisiert der Autor die Konsequenzen der Inhalte der Unterkapitel anhand von Kreisläufen, wodurch die vielen unterschiedlichen Dynamiken stets greifbar und übersichtlich dargestellt werden.


Durch sein Vorgehen demonstriert Nikolai Huke, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse in die Analyse der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik miteingeschlossen werden müssen, um subjektive Handlungsunfähigkeit verstehen zu können. Es gelingt dem Autor vor allem, den Zusammenhang zwischen politischer Praxis in Ämtern, Institutionen und Abläufen mit den Ohnmachtserfahrungen in den Lebensrealitäten einzelner Individuen nachvollziehbar zu erläutern. Damit verbindet die von Nikolai Huke verfasste Studie zur Ohnmacht in der Demokratie theoretische Einordnungen und Ansätze mit einzelnen Lebensrealitäten und bietet vielfältige und interdisziplinäre Anknüpfungspunkte für Menschen in der pädagogischen Praxis und Wissenschaftler_innen. Für die Praxis gelingt ihm dies vor allem durch die Auswertung der Erfahrungsberichte aus der Geflüchtetenhilfe, welche durch die Vielzahl der angesprochenen Themen die individuelle Lebenspraxis in ihren Besonderheiten abbilden. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema eröffnet das Buch aufgrund der Zusammenführung von oft gegensätzlich gelesenen Theorien, die Möglichkeit die Verfassung des demokratischen Subjektes unserer Zeit auf vielfältige Art und Weise zusammen- und möglicherweise weiterzudenken. 

 

English Abstract

Powerlessness and Democracy: A Vicious Circle of Power and Hegemonic Relationship

The monograph Ohnmacht in der Demokratie is a sociological evaluation of an empirical survey of qualitative interviews conducted for the project “Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland” that examines participation in democratic processes in the Federal Republic of Germany. The author, Nikolai Huke, focuses primarily on the individual’s (in)ability to shape his or her own life and to participate in political processes as well as on structural causes such as political exclusion and overwhelm.

 

 

Copyright 2022, JONAS SCHMEINCK. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).