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Von Untoten – Die aristotelische Poetik auf theatertheoretischem Prüfstand

 

Eine Rezension von Eva Zimmermann (eva.zimmermann@gcsc.uni-giessen.de)

Angewandte Theaterwissenschaft / International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Dupont, Florence: Aristoteles oder der Vampir des westlichen Theaters. Aus dem Französischen von Kerstin Beyerlein. Berlin: Alexander 2018. 294 Seiten, 38 EUR. ISBN: 978-3-89581-456-3.

 

Abstract

Für Florence Dupont ist es ein Skandal, dass die Poetik zum Mittelpunkt der neuzeitlichen europäischen Theatergeschichte geworden ist. Dies beruhe auf einer Rezeptionsgeschichte, die laut der Autorin voll ist von Übersetzungs- und damit Tradierungsfehlern. In Aristoteles oder der Vampir des westlichen Theaters (auf Deutsch 2018 erschienen im Alexander Verlag) dekonstruiert sie daher den aristotelischen Text und setzt ihn mit mehr als 500 Jahren Theater(theorie)geschichte in Bezug. Sie zeigt, dass eine direkte oder indirekte Bezugnahme auf die Poetik einen Großteil der Formen eines europäischen Theaterkanons literarisiert und detheatralisiert hat. Indem sie jedoch auch historische Beispiele eines nicht-aristotelischen Theaters beschreibt, demonstriert sie, dass es abseits des von ihr dargelegten aristotelischen Kanons noch Hoffnung auf ein anderes Theater gibt.

 

 

Rezension

Das Buch schreit der potentiellen Leser_innenschaft bereits von Weitem mit knallrotem Einband und weißen Kapitalen entgegen – Aristoteles oder der Vampir des westlichen Theaters. Es schreit: „Revolution!“ – und nicht weniger ist es, was der Text der französischen Gräzistin und Latinistin Florence Dupont von seinen Lesenden will. Eine vollständige Dekonstruktion der Poetik soll zum Ausgangspunkt werden, „die Bühnen [von dieser aristotelischen Denkweise] zu befreien“ (siehe Klappentext).

 

Aristoteles‘ Poetik liefert seit ihrer Entstehung um ca. 335 v. Chr. wirkmächtige Anhaltspunkte, wie eine gute „Komposition der Erzählung [auszusehen habe] mit Handlungen, die von Figuren ausgeführt und gesprochen werden“ (S. 46). Die Poetik hat Einfluss auf viele Formen westlicher Kunst, denen eine Textstruktur vorausgeht. Der aristotelische Dreischritt von Anfang – Mitte – Ende, dem sich literarische Werke genauso wie Theaterinszenierungen und Filme unterwerfen, ist also nichts dem Theater Ureigenstes. Im Gegenteil, Aristoteles schreibt: „[S]ie (Anmerk.: die Inszenierung) ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande“ (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, 1450b18. Vgl. hierzu auch Dupont, S. 35).

 

Genau diesen Punkt nimmt Florence Dupont zum Ausgang der Argumentation ihres bereits 2007 auf Französisch erschienenen und im Rahmen des Gastlandprogramms der Frankfurter Buchmesse 2018 von Kerstin Beyerlein ins Deutsche übertragenen Buch Aristoteles oder der Vampir des westlichen Theaters (Alexander Verlag Berlin). Die Geringschätzung genuin theatraler Mittel mache die Hörigkeit, mit der sich das europäische Theater Aristoteles hingegeben habe, so fatal. Die Autorin setzt sich in ihren drei Kapiteln des Hauptteils mit der aristotelischen Poetik und ihren Einflüssen auf die europäische Theatergeschichte auseinander. Im ersten Kapitel führt sie zunächst eine Relektüre der Poetik durch. Ihre Betrachtung geht aus von der Feststellung, dass Aristoteles die historische dionysische Tragödie in seiner Theorie dekontextualisiere. Er betrachte sie als narrativen Text und negiere dabei die rituelle Situation und Funktion ihrer Aufführung. Da Aristoteles die Dionysien allein ausgehend von der ihnen zugrunde liegenden Textstruktur betrachte, entginge ihm ihre performative Dimension des Ritus, des ludischen Elements des Wettkampfs (vgl. S.12/13) und bei all dem der direkten Konfrontation mit dem Athener Publikum. Der Vollzug einer narrativen Darstellung des mýthos durch die strukturgebende mímēsis wird das Zentrum seines Interesses.

 

Laut Dupont habe diese Herangehensweise in ihrer Rezeption zu einer Detheatralisierung des Theaters geführt. Ein Theater, das sich einer Narration so stark unterwirft, nimmt in Kauf, dass das ureigenste theatrale Potential von Performanz und Koenunziation verloren geht. Da sich das Theater so von seinem jeweiligen zeitgenössischen Kontext loslöst, geht die Literarisierung des Theaters mit seiner Elitarisierung einher (vgl. S.131). Das Theater verliert mit der Anbindung an den Kontext auch die Anbindung an ein breites Publikum.

 

Im zweiten Kapitel widmet sich die Autorin Theoretikern, die sich im Laufe der Theatergeschichte direkt oder indirekt auf die Poetik bezogen. Sie stellt drei ‚aristotelische Revolutionen‘ fest, als „Momente eines Bruchs […], in denen das Theater erklärterweise reformiert wurde und in denen diese Reformen stückweise die Ideologie der Poetik umsetzten“ (S.113). Es werden u.a. Goldoni, Diderot, Stanislawski, Guénon, Brecht und Ricœur mit ihren jeweiligen direkten Zugriffen und indirekten Aneignungen der Poetik behandelt. So macht sie z.B. Sinnverfälschungen in der Lesart Brechts sichtbar, der die kátharsis Aristoteles‘ unkommentiert mit dem Begriff der Einfühlung zusammenbringt (vgl. S.145). Zweitere entstammt jedoch nicht diesem Kontext, sondern ist, wie sich außerhalb von Duponts Ausführungen feststellen lässt, z. B. in späteren Überlegungen Lessings zu finden. Hier wird deutlich, dass sich Brechts vermeintlicher Gegenentwurf zu Aristoteles nicht völlig auf dessen Theorie, sondern auf spätere Überlagerungen seiner These bezieht. Brechts Fokus auf ein episches, also erzählendes Theater erneuert dabei laut Dupont die aristotelische Dimension des mýthos (vgl. S.151).

 

Gleichzeitig macht Dupont jedoch eine von Aristoteles unbeeinflusste Bewegung in der Theatergeschichte sichtbar: Sie bricht eine Lanze für populäre Theaterformen (vgl. S.77), wie die Commedia dell‘ Arte, das Vaudeville zur Zeit der Französischen Revolution und die römische Komödie. All diese Formen setzten mit ihrem spielbezogenen Charakter einen Kontrapunkt zu in der Tradition von Aristoteles stehenden narrativen Theaterformen. In ihnen werde Theater Teil des Festes, es werde zum Zwecke des Rituals aufgeführt (vgl. S.179). Besonders die römische Komödie hebt sie mit einer detaillierten Beschreibung eines Ablaufs bei Plautus und Terenz hervor. Die Koexistenz von Publikum und Spielenden sei bei beiden unbedingt notwendig. Denn der Ritus könne nur vollzogen werden, wenn die Spielenden es schafften, das Publikum in eine entspannte Aufmerksamkeit zu versetzen (vgl. S. 179/180) — die Aufführung kann hier also nicht gelingen ohne die Einbindung des Publikums.

 

Im dritten Kapitel ihrer Analyse kommt sie außerdem zu den Dionysien zurück und zeigt in ihrer Untersuchung des Elektra-Stoffes bei Sophokles, Aischylos und Euripides, dass sich diese Tragödien abseits des Texts allein aus Musik, Chor und Wirkintention verstehen lassen (vgl. S. 275).

 

Dupont übersetzt neu, kontextualisiert dort, wo Aristoteles seinen eigenen zeithistorischen Kontext zu übersehen scheint und deckt auf, wo die Theatergeschichte bisher Übersetzungs- oder anderen Tradierungsfehlern aufgesessen ist. Ihre Argumentation ist in sich schlüssig. In der Übersetzung von Kerstin Beyerlein wirkt die Sprache als das, was Hans-Thies Lehmann auf dem Klappentext als Waffe bezeichnet, – essayistisch, pointiert, kraftvoll. Jedoch erscheint sie im ersten Drittel des Buches auch oft kategorisch ablehnend und dadurch zuweilen undifferenziert. Manchmal macht hier die rhetorische Zuspitzung den Text schwächer, konterkariert paradoxerweise die Stärke der Aussage.

 

Dupont erzeugt in ihrem Text oft eine scheinbare Klarheit, die so bei Aristoteles nicht zu finden ist. Auch an anderer Stelle, wie in ihrer Auseinandersetzung mit Brecht, lässt ihre Argumentation dessen Theorie eindimensional narrationsbezogen erscheinen. Letztendlich kann sie sowohl von Theatertheorien als auch von europäischer Theatergeschichte nur einen Ausschnitt zeigen, macht dies jedoch m.E. an mancher Stelle nicht ausreichend deutlich. Jedoch ist ihr Ansatz, eine Relektüre der Poetik zum Ausgangspunkt für einen frischen Blick auf die Theatergeschichte zu machen von besonderer Stärke. Die theoretischen Folgefehler, die sie in der Tradierung der aristotelischen Gedanken identifiziert, sprechen für sich.

 

 

English Abstract

The Aristotelian Poetics under the Microscope of Theater Theory

Aristoteles oder der Vampir des westlichen Theaters, written by Florence Dupont, is a deconstruction of the Aristotelian Poetics. By analyzing examples from the broad reception history of the Poetics in theater theory, the author points out how it has wielded influence over more than five hundred years of theater history. She states that theater theory that refers to the Poetics has literalized and hence detheatricalized European theater. Aristotle invents a decontextualized theater which is mainly connected to a text-based approach. In doing so, he neglects the dimension of the Dionysiac ritual. His focus is directed towards the completion of mýthos through the structuring of mímēsis. Florence Dupont shows how this thinking has influenced theorists throughout the whole modern history of theater theory, including Brecht (who considers his own theory to be anti-Aristotelian). However, by also describing examples of non-Aristotelian theater, like the antique comedy of Plautus, which cannot be realized without the ongoing dialogue between actors/actresses and the audience, Dupont demonstrates that there is hope for a theater outside of the Aristotelian canon.

 

 

Copyright 2019, EVA ZIMMERMANN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).