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Alle Branchen am Limit: Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg

 

A Review by Christian Müller (c.mueller-geschichte@gmx.de)

Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK)

 

Boldorf, Marcel (Hrsg.). Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg. Berlin: De Gruyter, 2022. 636 Seiten, 54,95 EUR. ISBN: 978-3-110-99147-5.

 

Abstract

Ein fundiertes Überblickswerk, das seinem wissenschaftlichen Anspruch gerecht wird: Marcel Boldorf präsentiert mit seinem Handbuch zur deutschen Wirtschaft im Ersten Weltkrieg nicht nur die aktuellen Forschungsergebnisse, sondern zeigt anhand der verschiedenen Wirtschaftssektoren auf, dass der deutsche Staat zwischen 1914 und 1918 eine neue Rolle übernahm. In den 23 Beiträgen geben die Autor_innen Einblicke in einen der krassesten Strukturbrüche der europäischen Wirtschaftsgeschichte. Lesenswert!

 

Review

Der Beginn des Ersten Weltkrieg markiert einen Wendepunkt in der Neueren Geschichte Europas. Die Ereignisse, zu denen es in Folge des erfolgreichen Attentats auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Ehefrau in Sarajewo am 28. Juni 1914 kam, werden auch in der Wirtschaftsgeschichte weiterhin umfänglich diskutiert und stellen im ökonomischen Querschnitt weit mehr als einen Epochenumbruch dar (vgl. Wolfgang J. Mommsen: Der Erste Weltkrieg: Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt am Main 2004, S. 34). Wie Marcel Boldorf bereits in der Einleitung seines Handbuches Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg darlegt, wird das wirtschaftliche Gefüge, das sich im Zuge der zweiten Globalisierungsphase seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte, durch die Welle der gegenseitigen Kriegserklärungen irreparabel beschädigt. Die internationalen Handelswege brachen im August 1914 abrupt ab. Langjährige Wirtschaftspartner wurden über Nacht zu Kriegsgegnern; materielle Ressourcen für kriegswichtige Produktion lediglich den eigenen nationalen Kriegszielen und Märkten zugänglich gemacht. Nicht nur der Staat griff immer stärker in wirtschaftliche Prozesse ein, sondern auch die ökonomischen Maxime wurden buchstäblich über den Haufen geworfen. Qualitative Produktionszyklen waren nicht mehr rentabel, die Massenproduktion wurde Leitbild einer Kriegswirtschaft, die alle Branchen bis zum November 1918 an ihr absolutes Limit führen sollte. Boldorfs grundlegendes Theorem: Die essenzielle Veränderung des inneren und äußeren Rahmens des Wirtschaftens ließ ein neues ökonomisches Modell entstehen, das die Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches radikal wandelte (vgl. S 5). Die messbaren Wohlstandsindikatoren gerieten ins Wanken.


Bereits der Blick ins Inhaltsverzeichnis gibt den Leser_innen Auskunft über die Systematik des vorliegenden Handbuchs. Die Autor_innen untersuchen in 23 Beiträgen die drei wesentlichsten Wirtschaftssektoren und Überblicksthemen wie etwa den industriellen Arbeitsmarkt (vgl. Stephanie Tilly, S. 397–423) oder die Besatzungswirtschaft in Osteuropa (vgl. Stephan Lehnstaedt, S. 575–598). Das kompakte Überblickswerk führt nicht nur in die Grundlagen der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg ein, sondern gibt auch wesentliche Impulse für kriegswichtige Industriebranchen wie die Chemie- (vgl. Werner Plumpe, S. 193–225) und Elektroindustrie (vgl. Martin Lutz, S. 227–249) sowie die Eisen- und Stahlindustrie (vgl. Christian Marx, S. 157–191). Tatsächlich gelingt in zahlreichen Kapiteln die Verbindung neuer Forschung mit älterer Literatur und der Anspruch des Buches, wirtschaftshistorische Forschungslücken zu schließen, funktioniert besonders dort, wo es die Produktionskapazitäten des Deutschen Reiches beleuchtet. Ausdrücklich hervorzuheben ist hierbei Martin Lutz Beitrag zur Elektroindustrie, die bei Beginn des Ersten Weltkrieges ein Leitsektor der deutschen Wirtschaft war. Wie Lutz betont, entschieden über Sieg und Niederlage nicht nur Stahl und Schießpulver, sondern auch elektrische Kommunikationstechnologien, Beleuchtung, Zünder sowie die elektrotechnische Bahninfrastruktur (vgl. S. 227). Der Berliner Wirtschaftshistoriker bewertet die Forschungslage zur Branche als unbefriedigend, da sie häufig veraltet sei und nicht gängigen wissenschaftlichen Standards entspräche. Eine große Forschungslücke mache sich vorwiegend bei den Geschäftsbeziehungen in den besetzten Gebieten bemerkbar — ein blinder Fleck, der sich auch im vorliegenden Handbuch äußert: Das von deutschen Truppen besetzte Belgien fehlt in der Analyse gänzlich. Darüber hinaus mangelt es an aussagekräftigen Studien über kleinere Elektrounternehmen und metallverarbeitende Zulieferer.


Der Erste Weltkrieg hatte große Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Verflechtungen und schadete den in hohem Maße auf Importe angewiesenen Betrieben. Welche Auswirkungen der Kriegsverlauf und die Ressourcenknappheit auf kleine mittelständische Unternehmen hatte, ist weniger bekannt und bedarf weiterer quellenfundierter Untersuchungen. Nachwuchswissenschaftler_innen, die sich für Wirtschaftsgeschichte interessieren, sollten daher einen Blick in die Elektroindustrie werfen, die neben einer guten Quellenlage ein „weithin unbearbeitetes und potenziell lohnendes Forschungsfeld“ (S. 229) bietet. Besonders bei Innovationen und Zukunftstechnologien, an denen während des Ersten Weltkriegs geforscht und unternehmerische Entwicklungsarbeit geleistet wurde, sei noch ein hohes Maß an wissenschaftlicher Bewertungsarbeit zu leisten (vgl. S. 246 f.) — eine Einschätzung, die der Autor dieser Rezension teilt. Zumal in Nürnberg und Berlin, die bekanntlich als regionale Schwerpunkte der Elektroindustrie gelten, beispielsweise auch die damit einhergehende Stadtentwicklung gleich mituntersucht werden kann. Lutz Beitrag sticht durch seine klare Analyse deutlich hervor, da besonders hier im direkten Vergleich zu anderen Branchenanalysen die Forschungslücken sichtbar werden.


Ebenfalls lesenswert ist der Beitrag zur Transport- und Verkehrsgeschichte von Christopher Kopper (S. 105–122). Wie der Bielefelder Historiker darlegt, unterschätzte die wirtschaftsgeschichtliche Forschung lange Zeit die volkswirtschaftliche Bedeutung des Gütertransports. Dies mache sich besonders am Forschungsgefälle zwischen der Verkehrsgeschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges bemerkbar (vgl. S. 105). Hintergrund dieses Gefälles ist die relative Starrheit des westlichen Frontverlaufs. Seit der Marneschlacht im September 1914 rückte das Deutsche Heer nur langsam vor, weshalb die verkehrslogistischen Fragen eher marginal erschienen. Kopper stellt in seinem Beitrag den Abfall der Leistungsfähigkeit durch Verknappung des Ladevolumens heraus. Die Transportkrise äußerte sich durch Mangel an Lokomotiven, Personal und Waggons. Interessanterweise war die Bahn allerdings auch Nutznießer des Ersten Weltkrieges. Im Vergleich zu den Siegermächten Frankreich und Großbritannien hatte die in der Nachkriegszeit gegründete Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft ihren Vorsprung in technologischer Modernität, Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit wiedergewinnen können. Nicht umsonst leistete die Reichsbahn mit 660 Millionen Reichsmark einen der wichtigsten Einzelbeiträge zu den deutschen Reparationszahlungen an die westlichen Nachbarn Frankreich und Belgien.


Insgesamt zeigen die verschiedenen Beiträge des Handbuchs sehr detailliert und sektoral übergreifend, dass der Erste Weltkrieg den Zweck des Wirtschaftens änderte, da das ökonomische Kriegswachstum nicht in Wohlfahrtsgewinne mündete. Die Investitionen in Kapital, Arbeitskräfte und Ressourcen verpufften, während die Staatsausgaben zunehmend für militärische Zwecke eingesetzt wurden. Schätzungen gehen davon aus, dass ab 1915 bis zu 50 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Kriegsanstrengungen aufgebracht werden mussten. Die Schwelle zum totalen Krieg war hier tatsächlich nicht mehr weit (vgl. Mommsen, S. 13). Detaillierte Vergleiche regionaler Wirtschaftsfaktoren, zahlreiche nützliche Tabellen und Grafiken ordnen das abgebildete Wissen ein. Insgesamt präsentiert Herausgeber Marcel Boldorf ein solides Handbuch, dass nicht nur die aktuellen Forschungsergebnisse bündelt, sondern auch neues Wissen sauber aufbereitet präsentiert.

 

English Abstract

On the Verge of Collapse: The German Economy during World War I

A well-founded overview that does justice to its scientific value: With his handbook on the German economy in World War I, Marcel Boldorf not only presents the latest research results, but also shows, based on the various economic sectors, that the German state took on a new role between 1914 and 1918. In 23 well-written articles, the authors provide insights into one of the most blatant structural breaks in European economic history. Worth reading!

 

 

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