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Literatur, Theater und Film als Orte der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt

 

A Review by Andrea Horni (andreahorni@yahoo.de)

 

Lorenz, Matthias N., Tanja Thomas und Fabian Virchow (Hrsg.). Rechte Gewalt erzählen. Doing Memory in Literatur, Theater und Film. Stuttgart: J.B. Metzler, 2022. 251 Seiten, 49,99 EUR. ISBN: 978-3-476-05828-7.

 

Abstract

Das Erinnern an rechte Gewalt stellt eine weitgehende Leerstelle dar — sowohl im kollektiven Gedächtnis als auch in wissenschaftlichen Forschungen. Dem entgegnet der Sammelband Rechte Gewalt erzählen und beleuchtet den Themenkomplex aus einer vorwiegend literatur- und medienwissenschaftlichen Perspektive. Dabei werden Romane, Theatertexte, Filme und Fotobücher als Orte der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt besprochen. Die Analysen diskutieren Möglichkeiten wie auch Grenzen und bieten zahlreiche Impulse und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen.

 

Review

Welche Rolle spielt die Auseinandersetzung mit rechter Gewalt in der deutschsprachigen Literatur, in Theater und Film? Können literarische und dokumentarische Erzählungen ein besonderes Potential entfalten, wenn es um Medien der Erinnerung, aber auch um die Hör- und Sichtbarkeit der Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt geht?


Mit dem Sammelband Rechte Gewalt erzählen. Doing Memory in Literatur, Theater und Film legen die Herausgeber_innen Matthias N. Lorenz, Tanja Thomas und Fabian Virchow, die bereits in einigen Projekten gemeinsam zum Themenkomplex rechter Gewalt gearbeitet haben, spannende Beiträge aus einer vorwiegend literatur- und medienwissenschaftlichen Perspektive vor. Neben einer Einführung in grundlegende Konzepte bietet der Band vielfältige Einblicke in den Bereich der erzählenden Künste. So werden sowohl Romane, Theaterstücke, aber auch Filme und Fotobücher betrachtet, die sich mit rechter, rassistischer und antiziganistischer Gewalt in den 1990er Jahren sowie mit dem NSU-Komplex beschäftigen. Darüber hinaus wird der Blick auch auf Literatur als Schauplatz neurechter Kulturkämpfe gerichtet.


Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert. Nach einem kurzen Vorwort, bilden interdisziplinäre „Perspektiven in Forschung und Lehre“ den Auftakt des Bandes. Drei Beiträge fungieren dabei als Einleitung und Rahmensetzung. Der Literaturwissenschaftler Lorenz gibt einen Überblick über das Forschungsfeld rechter Gewalt in der deutschsprachigen Literatur und benennt Perspektiven der Germanistik sowie Desiderate. Die Medienwissenschaftlerin Thomas und der Sozialwissenschaftler Virchow nehmen eine theoretische Rahmung vor und erläutern ihr Konzept Doing Memory, welches sie als „performative, in eine hegemoniale Basiserzählung eingebettete und potentiell in diese intervenierende Praxis des Erinnerns und Vergessens“ (S. 29) verstehen. Ergänzend lenkt die Soziologin Gabriele Fischer den Blick auf Orte des Erinnerns im öffentlichen Raum. Dabei gibt sie Einblicke in ein Lehrforschungsprojekt, in welchem sie gemeinsam mit Studierenden der Sozialen Arbeit zu Sadri Berisha geforscht hat, der 1992 von rechtsextremen Tätern ermordet wurde. Interessant an Fischers Beitrag ist insbesondere die Bezugnahme auf die Holocaustüberlebende Ruth Klüger und ihre Autobiographie weiter leben. Eine Jugend (Göttingen 1992). So sieht Fischer in den Erfahrungen des Nicht-Gehört-Werdens von Klüger und ihrem Begriff der Zeitschaften, mit dem sie die Darstellbarkeit von Verbrechen an KZ-Gedenkstätten hinterfragt, Bezugspunkte, die auch für eine Auseinandersetzung mit rechter Gewalt bedeutsam sind — ohne dabei Gleichsetzungen vorzunehmen. Gemeinsam ist den einleitenden Texten, dass sie den Blick auf die Leerstelle im kollektiven Gedächtnis sowie auf die Perspektiven der Betroffenen lenken. So konstatiert Lorenz, dass die etwa 200 Morde, die seit 1990 aus rechtsextremen Motiven heraus in Deutschland begangen wurden, „nur sehr punktuell Niederschlag in der Gegenwartsliteratur gefunden [haben]“ (S. 5). Auch Thomas und Virchow beschreiben: „Erinnern an rechte Gewalt aus der Perspektive der meist marginalisierten Betroffenen ist [...] bis heute vielfach strukturell und institutionell verunmöglicht; ihre Perspektiven, Erzählungen und Körpererinnerungen konnten keinen Eingang finden in die Basiserzählung in Deutschland“ (S. 34).


Umso lohnenswerter ist es einen Blick auf die Werke zu werfen, die dennoch rechte Gewalt thematisieren — wie es in Teil zwei und drei des Sammelbandes geschieht. Die insgesamt acht Analysen stellen unterschiedliche Formate der erzählenden Künste und deren spezifische Facetten vor, und geben einen Einblick in die Zeitgeschichte des rechten Terrors der 1990er Jahre sowie in das Erinnern an die Opfer des NSU.


So beschreibt Hans-Joachim Hahn den „rechte[n] Sound der 1990er Jahre“ (S. 78) anhand Botho Straußʼ Essay Anschwellender Bocksgesang (1994) und der Friedenspreisrede von Martin Walser (1998). Stefan Winterstein widmet sich Elfride Jelineks Theaterstück Stecken, Stab und Stangl (Reinbek 1997), in welchem sie den tödlichen Anschlag auf eine Roma-Siedlung aufarbeitet. Sebastian Schweer und Corinna Schlicht analysieren Romane, die sich mit antifaschistischer Selbstverteidigung sowie rechter Gewalt im Kontext der Wiedervereinigung beschäftigen.


Im dritten Teil des Bandes beschäftigt sich Johanna Vollmeyer anhand Esther Dischereits Textkompendium Blumen für Otello (Zürich 2014) mit strukturellem Rassismus im Kontext des NSU. Svea Bräunert nimmt das digitale Mahnmal der Künstlergruppe Forensic Architecture sowie das Involvieren der Betrachtenden in den Blick. Dem Format des Dokumentarfilms wendet sich Anna Brod zu und analysiert anhand des Filmes Der Kuaför aus der Keupstraße (Andreas Maus, 2015) die Darstellung individueller Erinnerungen an den Anschlag und die Ermittlungen in Form eines Reenactments. Jonas Meurer stellt schließlich fünf Fotobücher vor, die sich in ganz unterschiedlicher Weise dem Themenkomplex rechter Gewalt annähern. Begleitet wird der Beitrag von einigen exemplarisch abgedruckten Fotografien.


Als Abschluss des Bandes fungiert in einer sehr gelungenen Form ein Interview mit dem Regisseur Dan Thy Nguyen. Darin gibt es Raum für persönliche Erinnerungen an rassistische Gewalt und die Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen in den 1990er Jahren. Darüber hinaus werden Einblicke in die Entstehung des Stückes Sonnenblumenhaus (Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos, 2014) gegeben sowie Grenzen der Wirkmächtigkeit von Kunst und Literatur diskutiert.


Dem Sammelband gelingt es — wenn auch mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Rassismus als Tatmotiv — Potentiale sowie Defizite von Doing memory in Kunst und Literatur herauszuarbeiten. Auch die gesellschaftliche Kontextualisierung rechter Gewalt sowie die Folgen, die eine Nichtthematisierung dieser Gewalt nach sich zieht, werden berücksichtigt. Somit bietet der Sammelband hilfreiche Anhaltspunkte und wertvolle Impulse für weitere interdisziplinäre Forschungen. Er stellt darüber hinaus einen ermutigenden Rückhalt dar, denn auch im Bereich der Wissenschaft stößt man mitunter auf Unverständnis, wenn es um die Anerkennung und die Berücksichtigung des Erfahrungswissen von Betroffenen rechter Gewalt geht.

 

English Abstract

Literature, Theater and Film as Spaces of Confrontation with Right-wing Violence

There is still a lack of remembering right wing-violence — in collective memory as well as in scientific research. The volume Rechte Gewalt erzählen counters this and illuminates the issue mainly from the perspective of literary and media studies. The contributions focus on novels, plays, films and photo books as spaces for confrontation with right-wing violence. The analyses discuss possibilities and limits and offer numerous impulses and starting points for further interdisciplinary research.

 

 

Copyright 2023, ANDREA HORNI. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).