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Safe Space in Zeiten der Postmoderne: Zur Praxis und Dynamik neo-diasporischer Gemeinschaften

 

A Review by Anastasiia Marsheva (Anastasiia.Marsheva@gcsc.uni-giessen.de; https://orcid.org/0000-0002-7949-4730)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)


Karner, Marie Johanna. Neo-diasporische Gemeinschaften. Blouzaniyye in Sydney, Australien. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2021. 505 Seiten, 82 EUR. ISBN: 978-3-515-12830-8.

 

Abstract

In ihrem Buch Neo-diasporische Gemeinschaften: Blouzaniyye in Sydney, Australien stellt Marie Johanna Karner eine neue Diaspora-Theorie vor, die Dynamiken des 21. Jahrhunderts berücksichtigt und neue Perspektiven auf Akteur_innen, kollektive Erzählungen und gemeinschaftsstiftende Praktiken bietet. Die Autorin entwickelt die Theorie anhand einer empirischen, interdisziplinären und multimethodischen Untersuchung libanesischer maronitischer diasporischer Gemeinschaften.

 

Review

Neo-diasporische Gemeinschaften „bilden ein Gegengewicht zur Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in Zeiten der Postmoderne“ (S. 385). Mit dieser Beurteilung misst Marie Johanna Karner den sogenannten neo-diasporischen Gemeinschaften eine hohe Bedeutung bei. Doch was versteckt sich hinter dem Begriff der neo-diasporischen Gemeinschaft? Ursprünglich als Dissertation eingereicht, untersucht Marie Johanna Karner, die Geographie, Volkswirtschaftslehre und Publizistik studierte, in der interdisziplinären Studie Praxis und Dynamik solcher Gemeinschaften und stellt eine neue Diaspora-Theorie auf. Die Autorin verwendet Gemeinschaft im soziologischen Sinne von ‚Community of Practice‘: „Personengruppen, die ein Anliegen oder eine Leidenschaft für ein Thema teilen und durch ihre regelmäßige Interaktion voneinander lernen“ (S. 74). Darüber hinaus grenzt sie sich von den essentialistischen Diaspora-Ansätzen durch die Verwendung der Vorsilbe ‚neo‘ ab. Der Begriff ist keine Schöpfung der Autorin, jedoch distanziert sie sich von der sonstigen Verwendung der Begriffe Neo-, New- und Postdiaspora, da sie „zwar bereits Prozessualität, Hybridität, innere Fragmentierung und Relationalität betonen, aber weiterhin räumliche Verteilung, makro-strukturelle Einflüsse und transnationale Beziehungen als prägende Hauptelemente einer Diaspora begreifen“ (S. 87).


Karners Theorie beruht auf den Ergebnissen der Analyse der empirischen Daten, die von ihr u. a. im Rahmen des von der DFG finanzierten Forschungsprojekts „Libanesische globale Dorfgemeinschaften: Praktiken zur Bildung und Erhaltung globaler Gemeinschaft“ (2013–2016) erhobenen wurden. Bereits in ihrer Diplomarbeit beschäftigte Karner sich mit dem Libanon, was ihr den Zugang zum Forschungsfeld erleichterte, ebenso wie durch Auslandsaufenthalte angeeignete Kommunikationsstrategien mit Vertreter_innen dieser ethnischen Gruppe und Basiskenntnisse der arabischen Sprache. Erwähnenswert ist zudem die Vernetzung der Autorin mit unterschiedlichen Forschungsinstitutionen, die sich mit libanesischer Migration beschäftigen und an deren Workshops und Konferenzen sie im Laufe der Arbeit an ihrer Dissertation teilnahm (vgl. S. 124–125).


Generell kritisiert Karner, dass das Diaspora-Konzept nicht mehr zeitgemäß sei und zeigt zudem weitere Schwachstellen auf wie „eine mangelnde Erfassung der Bedeutungen reproduzierter Narrative, eine Unterbewertung des Einflusses gemeinschaftsstiftender Praktiken und eine zu undifferenzierte Betrachtung der AkteurInnen und ihrer persönlichen Netzwerke“ (S. 40). Genau an diese Schwachstellen knüpft ihre empirische Analyse an. Darüber hinaus definierte sie Lücken in der Erforschung der libanesischen Diaspora, z. B. in der Darstellung der Differenz zur Mehrheitsgesellschaft oder eine geringe Beleuchtung der kollektiven Erzählungen.


Um die Forschungslücken zu schließen, entwickelt die Autorin einen interdisziplinären Forschungsansatz aus ethnologischen, ökonomischen und soziologischen Konzepten. Ihr Ansatz fällt nicht nur durch die beeindruckende Menge an Forschungsdaten, sondern durch die dem Forschungsprozess innewohnende Reflexivität positiv auf. Sie erklärt die Verwendung vieler Grundbegriffen (wie z. B. Identität oder Integration) in Fußnoten, was zum besseren Verständnis der Arbeit und der Positionierung der Autorin beiträgt. Mir erschien es weniger zielführend, dass die Hauptkategorien der qualitativen Inhaltsanalyse deduktiv entwickelt wurden, jedoch passte die Autorin ihre Annahmen im Rahmen der zirkulären Forschungsstrategie stets an. Außerdem beschäftigte sie sich bereits im Rahmen der Diplomarbeit mit dem Libanon, sodass ihr Hintergrundwissen eventuell die Erstellung der Analysefolie mitprägte.


Analysiert werden auf Englisch geführte Interviews mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Gemeinschaften, Ergebnisse der online und offline teilnehmenden und nichtteilnehmenden Beobachtung und Dokumentation der Gemeinschaften. Repräsentant_innen der Gemeinschaften ermöglichten ihr den Zugang zum Feld. Obwohl Karner Daten zu mehreren Gemeinschaften erhoben hat, beschäftigt sie sich in ihrer Studie nur mit der Gemeinschaft der Blouzaniyye in Sydney. Dort wohnen schätzungsweise 3000 bis 4500 Menschen, die sich mit dem libanesischen maronitischen Dorf Blouza assoziieren. Darüber hinaus gibt es in Sydney die Australian Blouza Association, die in der Analyse eine beachtliche Rolle spielt. In Fußnoten erwähnt Karner vereinzelt theorierelevante Beispiele aus der Untersuchung anderer Gemeinschaften.


Karners Theorie neo-diasporischer Gemeinschaften setzt sich aus fünf Dimensionen zusammen, die „auf den Sinn, die Funktion und Anpassungsfähigkeit einer Neo-Diaspora hinweisen“ (S. 363). Die Dimension „Individuen des Engagements“ umfasst die Darstellung unterschiedlicher fluider Rollen, die engagierte Individuen abhängig von ihren Ressourcen, Gender und Alter aus dem Gefühl heraus, ein Teil der Gemeinschaft zu sein, einnehmen. Unter „Bausteinen imaginierter ethnischer Identität“ sind Differenz erzeugende Identitätsressourcen gemeint, die durch kollektive Erzählungen erzeugt werden. Von den Mitgliedern neo-diasporischer Gemeinschaften werden „Institutionen und reale/digitale Orte der Kommunikation“ zur Vernetzung, Erhöhung der Sichtbarkeit und Wissensvermittlung geschaffen. Die Mitglieder neo-diasporischer Gemeinschaften sind in diverse Interaktionsfelder eingebunden, die ebenfalls nach Funktionen aufgeteilt werden und die vierte Dimension darstellen. Die letzte Dimension „Anlässe der Vernetzung und gemeinsame Interessen“ unterscheidet Veranstaltungen nach Aufgaben und Zielgruppen. Folgendes zeichnet Karners Theorie aus: die Situations- und Kontextabhängigkeit, die Betonung des imaginierten Charakters der ethnischen Identität, die entscheidende Rolle der engagierten Individuen bei der Mobilisierung der Gruppensolidarität, Gemeinsamkeiten und der Kommunikationsorte sowie die Zulassung der Zugehörigkeit zu mehreren Gemeinschaften (vgl. S. 364–365).


Als Person, die keine Berührungspunkte mit libanesischer Migration hatte, fürchtete ich am Anfang, dass das fehlende Wissen darüber ein Hindernis für das Verständnis der Studie sein könnte. Jedoch hat sich diese Befürchtung dank der ausführlichen Fußnoten mit relevanten Informationen sowie der aufschlussreichen Darstellung der empirischen Analyse nicht bewahrheitet. Daher ist das Buch allen, die sich mit Themen beschäftigen wie Identifikation, imaginierte Ethnizität, Praxis und Dynamiken der Gemeinschaften, die sich primär mit ihrer Ethnizität identifizieren, zu empfehlen. Darüber hinaus ist das Buch hilfreich für angehende Wissenschaftler_innen, die in ihren Studien empirische Methoden verwenden aufgrund des vielseitigen Forschungsdesign, vorbildlicher Reflexivität der eigenen Position und der Forscher_innenrolle. Für die weitere Entwicklung der Theorie wären Studien über Mitglieder diasporischer Gemeinschaften, die weniger in gemeinschaftliche Aktivitäten involviert sind, und über Neo-Diaspora in Ländern, die strenge Assimilationspolitik verfolgen, von Interesse.

 

English Abstract

Safe Space in Times of Post-Modernity: On the Practice and Dynamics of Neo-Diasporic Communities

In her book, Neo-diasporische Gemeinschaften: Blouzaniyye in Sydney, Australien, Marie Johanna Karner presents a new diaspora theory that considers the dynamics of the 21st century and offers new perspectives on actors, collective narratives, and community-building practices. The author develops the theory through empirical, interdisciplinary, and multi-method research on Lebanese Maronite diasporic communities.


 

Copyright 2023, ANASTASIIA MARSHEVA. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).