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Interdisziplinäre Zugänge zum Lesen

 

Eine Rezension von Teresa Streiß (teresa.streiss@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Rautenberg, Ursula und Schneider, Ute (Hg.): Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter, 2015. 907 S., 149,95 EUR. ISBN: 978-3-11-027551-3

 

Abstract

Der Sammelband Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, herausgegeben von Ursula Rautenberg und Ute Schneider, bietet einen interdisziplinären Überblick über verschiedene wissenschaftliche Zugänge zur Kulturtechnik Lesen. Vorgestellt werden sowohl gängige Forschungsperspektiven und Methoden, als auch unterschiedliche Zugriffe auf den Leseprozess sowie mit dem Lesen verbundene Institutionen und Organisationen. Abschließend werden Funktionszusammenhänge von Lesen beleuchtet. Dabei kann das Buch sowohl als Einstieg in unterschiedliche Aspekte des Themas dienen, als auch thematische Verknüpfungen zwischen verschiedensten disziplinären Annäherungen aufbauen.

 

 

Rezension

Lesen ist in heutigen schriftbasierten Gesellschaften eine bedeutsame Kulturtechnik; Lesekompetenz gilt als „Schlüssel zu Bildung, Wohlstand und politisch-gesellschaftlicher Teilhabe und Mitsprache.“ (S. VII) Insbesondere durch die Ergebnisse der international vergleichenden PISA-Schulleistungsstudien rückt auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema „Lesen“ wieder stärker in den gesellschaftlichen Fokus.

 

Mit dem von Ursula Rautenberg und Ute Schneider herausgegebenen Band Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch liegt nun eine umfassende interdisziplinäre Annäherung an die Thematik vor. Das Buch baut auf der Erkenntnis auf, dass ein so zentrales Thema wie „Lesen“ aus disziplinspezifischer Perspektive nicht erschöpfend behandelt werden kann. Vielmehr bedarf es einer Kombination verschiedener Betrachtungsweisen, um ein umfangreiches Verständnis des Gegenstands zu entwickeln. Entsprechend versammelt der Band Beiträge aus sehr verschiedenen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, von Buch- und Literaturwissenschaft bis hin zu Kognitionspsychologie und Informationswissenschaft.

 

Um bei dieser Interdisziplinarität noch disziplinübergreifende Verständlichkeit und hohes wissenschaftliches Niveau einhalten zu können, sind die Beiträge im Handbuch in vier umfangreiche Hauptkapitel unterteilt, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten Annäherungen an den Gegenstand bündeln. Die einzelnen Beiträge sind von Expert_innen aus den jeweiligen Fachgebieten verfasst. Hierdurch, sowie durch das jedem Beitrag nachstehende ausführliche Literaturverzeichnis, wird zum einen der wissenschaftliche Standard gesichert und zum anderen die Möglichkeit zur weiteren Beschäftigung mit aktueller Forschungsliteratur gegeben. So finden auch internationale Forschungsperspektiven Einzug in das sonst auf Lesen im deutschsprachigen Raum beschränkte Handbuch.

 

Als Einstieg stellt das erste Hauptkapitel („Forschungsperspektiven“, S. 2 ff.) grundsätzliche Methoden und Theorien einzelner Fachrichtungen (Kognitive Neurowissenschaften, Kognitionspsychologie, Informationswissenschaft und Computerlinguistik, Sozial- und Kommunikationswissenschaften, historisch-hermeneutische Lese- und Leserforschung) vor. Diese Herangehensweisen finden dann im zweiten Hauptkapitel („Leseprozess und Lesemedien“, S. 115 ff.) Anwendung. In einem ersten Schritt wird hier Lesen und Verstehen auf kognitiver Ebene nachgezeichnet – von der Spracherkennung im Gehirn über das Verstehen einzelner Sätze bis hin zum Umgang mit komplexen Texten. Im zweiten Unterkapitel folgt die Beschäftigung mit unterschiedlichen Lesemedien im historischen Verlauf, wobei die Medien stets auch auf ihren Einfluss auf den Leseprozess befragt werden. Ein drittes Unterkapitel bindet den Leseprozess in „soziale Beziehungskonstellationen“ (Kapitel 2.3, S. 381 ff.) ein und greift auch Zusammenhänge von Lesen und Geschlecht bzw. Migration auf.

 

Das dritte Hauptkapitel („Institutionen und Organisationen des Lesens“, S. 491 ff.) widmet sich den institutionalisierten Kontexten im Bereich des Lesens. Politische und rechtliche Rahmenbedingungen und Lenkungsprozesse in Geschichte und Gegenwart werden ebenso behandelt wie bildungspolitische und gesellschaftliche Kontexte, insbesondere die schulische und außerschulische Leseförderung. Ein weiteres Unterkapitel ist den Bereitstellungsorganisationen für Lesemedien, also Bibliotheken, Verlagen, der Literaturvermittlung sowie aktuell digitalen Netzwerken gewidmet.

 

Das abschließende vierte Hauptkapitel „Funktionen und Leistungen des Lesens“ (S. 701 ff.) legt zum einen (als „Gegenstück zur Übersicht über die verschiedenen Lesemedien“ (S.X) im zweiten Hauptkapitel) den Fokus auf die Geschichte der Lesenden von der Antike bis zur Gegenwart. Hier werden die historischen Epochen jeweils daraufhin befragt, welche Funktionen das Lesen einnahm. Ein zweites Unterkapitel widmet sich weiterhin den möglichen funktionalen Differenzierungen des Lesens mit Überlegungen zu politischen Implikationen und Zuschreibungen, der Rolle des Lesens im Prozess der Identitätskonstruktion sowie der Lesung als öffentlicher Inszenierung des Lesens.

 

In der Gesamtbetrachtung lassen sich Themen ausmachen, die in einer Vielzahl der Beiträge verhandelt werden und die teils auch im Vorwort von den Herausgeberinnen bereits als zentrale Fragestellungen der gegenwärtigen Leseforschung genannt werden (Vorwort, S. VII). Besonders herauszustellen ist hier die Eingebundenheit von Lesen in soziale Kontexte, ein starker Fokus auf Lesekompetenz sowie insbesondere die Potentiale und Herausforderungen, die eine fortschreitende Digitalisierung und Medialisierung der Gesellschaft für die Kulturtechnik Lesen bereithält.

 

Diese fachübergreifenden Kernthemen lassen die Stärke des vorliegenden Bandes – die interdisziplinäre Herangehensweise – umso plausibler erscheinen. Ein komplexes Thema wie das „Lesen“ lässt sich, will man es umfassend begreifen, nicht nur aus einer Disziplin heraus untersuchen. Das vorliegende Handbuch trägt dem Rechnung und zeigt in beispielhafter Weise, wie sich eine interdisziplinäre Herangehensweise konkret umsetzen lässt. Ein sehr breites Feld an disziplinären Ansätzen wird zusammengehalten durch ein einführendes Methodenkapitel sowie durch zahlreiche Querverweise (in Fußnoten) zwischen den einzelnen Kapiteln. So wird Verständlichkeit garantiert und zudem ermöglicht, bisher vielleicht nicht bedachte Verbindungen zu entdecken. Die Lesbarkeit, die den Charakter eines einführenden Handbuchs ausmacht, geht dabei stets einher mit dem Einbezug aktueller wissenschaftlicher Forschungsperspektiven. Schließlich regen Ausblicke auf mögliche Forschungsdesiderate am Ende jedes Kapitels zur weiteren thematischen Auseinandersetzung an.

 

Alles in allem liegt mit Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch ein Werk vor, dass seinen interdisziplinären Ansatz ernst nimmt und konsequent inhaltlich wie strukturell durchsetzt. Es ist somit nicht nur für Einsteiger_innen in die Thematik geeignet, sondern ermöglicht auch fachlich kundigen Leser_innen den Blick über den disziplinären Tellerrand.

 

 

English Abstract

Interdisciplinary Approaches to Reading

The handbook Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, edited by Ursula Rautenberg and Ute Schneider, offers an interdisciplinary overview of different scientific approaches to reading as a cultural technique. The book presents both current research perspectives and methods as well as institutions and organizations related to reading. As a last point, reading is put into some of its functional connections. The book can be used as both an access point to different aspects of the topic and also as a means to establish relations between different disciplinary approaches.

 

 

Copyright 2017, TERESA STREISS. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).