Return to Article Details “Tick a box: Yes □ No □ Maybe □” — How Can Intimacy Be Negotiated Consensually?
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„Ja □ Nein □ Vielleicht □ Kreuz an!“ – Wie lässt sich Intimität konsensual verhandeln?

 

A Review by Beate Absalon (Beate.Absalon@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

 

Dalhoff, Maria; Hempel, Stefanie; Önsur-Olüğ, Zeynep; Rauch, Bianca Jasmina und Marion Thuswald (Hg.). Sexuelle Einvernehmlichkeit gestalten. Theoretische, pädagogische und künstlerische Perspektiven auf eine Leerstelle sexueller Bildung. Flensburg: fabrico, 2021. 201 Seiten, 25 EUR, ISBN: 978-3-946320-26-5.

 

Abstract

Zur Unterscheidung zwischen übergriffigen und vereinbarten Sexualpraktiken ist Einvernehmlichkeit ein weithin anerkanntes Konzept. Doch wie lässt es sich genau definieren, praktizieren oder vermitteln? Der rezensierte, innovative Sammelband findet dafür Antworten an den Schnittstellen von Kunst und Pädagogik, die sich mit nuancierten Grauzonen einvernehmlicher Interaktionen befassen. Auf terminologische Differenzierungen, historische Hintergründe und Filmanalysen folgen didaktische Anleitungen, wie das Thema kreativ in der Bildungsarbeit umgesetzt werden kann.

 

Review

Was in Liebesbriefchen im Schulunterricht so einfach schien, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als komplexe Kulturpraxis der Entscheidungsfindung. Intimer Kontakt schließt die Auflösung Sicherheit wahrender Distanz ein und damit ein Bewegen an körperlichen, emotionalen und sozialen Grenzen. Das macht empfindsamer sowie verletzlicher. Um Vergewisserung darüber herzustellen, dass Grenzüberschreitungen von allen gewollt und nicht übergriffig werden, scheint das Herstellen gegenseitiger Einvernehmlichkeit notwendige Bedingung zu sein. Die Frauenbewegung machte (erschreckenderweise notwendige) Slogans wie „Nein heißt Nein“ oder „Nur Ja heißt Ja“ zwar populär, jedoch weisen feministische Stimmen heute vermehrt auf die Insuffizienz vielfach geforderter Konsensmoral hin. Geht lustvoll grenzachtendes, selbstbestimmtes und empathisches sexuelles Miteinander nicht über eindeutiges Ablehnen und Zustimmen hinaus? Wie lassen sich Theorien zur Einvernehmlichkeit in gelebte Praxis übersetzen? Vorschläge, wie sich auf diese Fragen vornehmlich für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit Antworten finden lassen, macht die Publikation Sexuelle Einvernehmlichkeit gestalten. Theoretische, pädagogische und künstlerische Perspektiven auf eine Leerstelle sexueller Bildung. Die Beitragenden bringen dafür eine Vielfalt ihrer „professionellen Perspektiven“ ein, „die aus der Präventions- und Interventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt, der sexual- und kunstpädagogischen Arbeit mit Schüler:innen, der Filmwissenschaft, der Aus- und Fortbildung von Lehrer:innen, der Bildungswissenschaft und dem künstlerisch-gestalterischen Bereich kommen“ (S. 11).


Im Vorwort weist Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß darauf hin, dass auch hier die Autor_innen Konsensmodelle kritisch auf ihr emanzipatorisches Potential hin beleuchten. Denn „Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ einer „kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ (S. 10) erschweren die Umsetzung gleichberechtigter, solidarischer und selbstfürsorgender Entscheidungsfindung. Verheißungsvoll mutet deswegen der Blick in die progressiven Schnittstellen von Kunst und Pädagogik an, weil sie als Orte der Reflexion und des spielerischen Experimentierens bestehende Verhältnisse immer auch zu überschreiten versuchen. Inwiefern machen sie sicht- und begreifbar, wie in sexuellen Interaktionen gehandelt wird – und wie unter ethischen Gesichtspunkten besser miteinander umgegangen werden kann?


Im Fokus der Kunstanalysen des Sammelbandes stehen vor allem Filme. Neben einer komparatistischen Besprechung der Inszenierung von Begehren in den Coming-of-Age Spielfilmen Clueless (Amy Heckerling, 1995 USA: Paramount Pictures, 97 Min.) und Lovely Rita (Jessica Hausner, 2001, AT: Coop99 Filmproduktion, Essential Filmproduktion GmbH, Prisma Film, 79 Min.) findet der Film Siebzehn (Monja Art, 2017, AT: Orbrock Film, 104 Min.) gleich in mehreren Beiträgen des Sammelbandes Erwähnung. Zwei dieser Beiträge widmen sich dem Film ausführlich: ein abgedrucktes Interview mit der Regisseurin sowie Szenenanalysen durch die Bildungswissenschaftlerin Marion Thuswald. Untersucht wird, ob die Protagonist_innen vor und während intimer Interaktionen respektvoll kooperierend mit ihren Bedürfnissen und Grenzen umgehen oder nicht – und woran sich das erkennen lässt. Dabei werden Kategorien angewandt, die beeindruckend ausführlich durch Maria Dalhoff im selben Band differenziert wurden. Sie unterscheidet eine „Sphäre der sexuellen Einvernehmlichkeit“ von einer „Sphäre der sexuellen Übergriffigkeit“, wenn in ihr die Intention der Berücksichtigung von Bedürfnissen und Wünschen aller im „möglichst horizontalen Miteinander“ vorherrscht, statt „eigene Macht- und Sexualitätsbedürfnisse (auf Kosten anderer)“ (S. 46) durchzusetzen. Freiwillig getroffene Entscheidungen können dabei die Form von Kompromissen, Einwandlosigkeit oder affirmativer Übereinstimmung annehmen. Hier wird zudem ein Punkt betont, der in meiner Forschung zu leibphänomenologischen Zugängen zur Einvernehmlichkeit eine wichtige Rolle spielt: Selbst bei größter Sorgfalt und besten Absichten kann beim sexuellen Miteinander etwas schief gehen. Weil Sex ein relationales, intersubjektives Miteinander umfasst, in welchem auf einen Anderen Bezug genommen wird, der parallel wiederum auf einen Bezug nimmt – und gleichzeitig hat man es mit einem aufgeladenen Konglomerat aus Unbewusstem, Affekten und sozialen Normen zu tun. Kurzum: Intimität öffnet einen Raum, dem immer ein Rest Unvorhersehbarkeit und Ungewissheit innewohnt. Das verkompliziert notwendig Konsenstheorien, die von autonomen Subjekten mit transparentem Ich-Kern ausgehen und Sex als kohärente, souverän und rational navigierbare Erfahrung verkennen. Auch wenn solche Überlegungen zum Wesen des Sexuellen nicht dezidiert im Band verfolgt werden, da sie den Rahmen des Vorhabens auch sprengen würden, scheinen ähnliche Überlegungen implizit eingeflossen zu sein, denn Grenzverletzungen werden als Teil der Einvernehmlichkeitssphäre konzipiert. Sie werden „Zustimmungsunfälle“ (S. 46) genannt, solange sie nicht intendiert sind und die Involvierten dazulernend Verantwortung übernehmen. Werden hingegen keine Konsequenzen gezogen, die Tat wiederholt, mit Drängen, Manipulation oder Zwang agiert, so dass nur noch Abwehr oder Duldung als Reaktionen bleiben, handelt es sich laut Dalhoff um nicht-einvernehmliche Gewaltakte in der Sphäre der Übergriffigkeit.


Entstanden ist der Band im Rahmen von Imagining Desires, einem „wissenschaftlich-künstlerischen Forschungsprojekt zu Sexualität, visueller Kultur und Pädagogik“ (https://imaginingdesires.at/). Der Band muss als Einblick in die interdisziplinäre Zusammenarbeit während des Projekts verstanden werden. Die Beiträge rekurrieren aufeinander, verfolgen ähnliche Thesen oder greifen teilweise auf das gleiche Forschungsmaterial zurück. Das Thema – Konsens – beherrscht damit quasi auch die interne Diskussion. Das ist fast schade, da produktiver Dissens die Lektüre bereichern würde. Wo liegen beispielsweise die an der gelebten Realität scheiternden Grenzen der Versprechen um das Herstellen von Einvernehmlichkeit? Welchem Sex wird warum konsensuell korrekt zugestimmt, der aus anderen Gründen trotzdem problematisch ist? Lenkt der Fokus auf Einvernehmlichkeit von anderen wichtigen Kategorien der Sexualethik ab, die eventuell anspruchsvoller und nuancierter sind, als die eher niedrig gehängte Messlatte des Aushandelns gegenseitigen Einverständnisses? Welche anderen Werke der Kunst und Popkultur vermitteln spezifisches Konsenswissen – beispielsweise Pornografie? Und schließlich eine nicht verkneifbare und vielleicht pedantische Rückfrage bezogen auf die Wortwahl des Titels: da doch nicht die Einvernehmlichkeit sexuell ist, sollte nicht eher von der Gestaltung einvernehmlicher Sexualpraktiken die Rede sein?


Ergebnis des Bildungsprojekts ist der Band darüber hinaus insofern, dass er als Handbuch und Methodenkoffer für Lehrende genutzt werden kann. Im Stil von Projektskizzen und Erfahrungsberichten präsentieren drei Beiträge Stop-Motion animierte Erklärfilme, die in kunst- und sexualpädagogischen Workshops von Imagining Desires entwickelt wurden. Diverse Schaubilder, Handouts, kopierbare Arbeitsblätter und künstlerische Interventionen inspirieren zusätzlich für den direkten Einsatz in der Vermittlungsarbeit. So können mittels Comiczeichnungen, Anleitungen für spielerische Gruppenübungen (wie „Bingo mit Film-Stills“, S. 89) oder Tutorials zur Videoproduktion Gespräche über konsensuellen Sex angeregt und eigene künstlerische Arbeiten produziert werden.


Die im Buchtitel diagnostizierte Leerstelle möchte hier greifbar geschlossen werden. Damit stellt die Publikation eine dringliche Pionierarbeit dar. 


English Abstract

“Tick a box: Yes □ No □ Maybe □” – How Can Intimacy Be Negotiated Consensually?

While consent has become a widely recognized concept to distinguish between mutually negotiated or abusively coerced sexual practices, there is no consensus on what exactly it entails and how it can be realized or taught in sex education. The reviewed book sheds some light on those questions by turning to art and pedagogy as spaces to reflect on the nuanced gray areas of consent. Its sophisticated terminological clarifications, historical backgrounds and film analyses are followed by didactical manuals suggesting how the topic can be creatively implemented in curricula.

 

 

Copyright 2022, BEATE ABSALON. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).