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Gegen eine „Politik der Starken“: Über die Zerbrechlichkeit Post/Pandemischen Lebens

 

A Review by Tillmann Schorstein (Tillmann.Schorstein@sowi.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen

 

Bayramoğlu, Yener and María do Mar Castro Varela. Post/Pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld: transcript Verlag, 2021. 208 Seiten, 19,50 EUR. ISBN: 978-3-8376-5938-2.

 

Abstract

Post/Pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität zeigt die Verbindungslinien zwischen einer durch die Pandemie neu sichtbar gewordenen Zerbrechlichkeit des Lebens, den bestehenden Dynamiken globaler Ungleichheiten und den ausschließenden Mechanismen (post)kolonialer und heteronormativer Strukturen. Mit ihrer interdisziplinären Theorie gelingt es den Autor_innen, das produktive Potential von Fragilität für ein Nachdenken über eine gerechtere post/pandemische Gesellschaft aufzuzeigen – und sich damit einer Politik der Starken entgegenzustellen.

 

Review

Als Serendipität wird das Phänomen bezeichnet, durch Zufall zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die ursprünglich nicht gesucht wurden. Oft zitierte Beispiele: die Entdeckung der Röntgenstrahlung, des Sekundenklebers und des Teebeutels. Als philosophisches Konzept verweist Serendipität darauf, dass sich beiläufige Beobachtungen im Nachhinein als bedeutsam erweisen können. Es bedarf vor allem einer ungezwungenen Beobachtungsgabe, um das in der Unschärfe Liegende zu erkennen.


In ihrem Buch Post/Pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität machen Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela Serendipität zur Methode, um die mit der Pandemie verbundenen Unschärfen und Kontingenzen (be)greifbar zu machen. Dabei gehen sie den Verbindungslinien zwischen globalen Ungleichheiten, Formen rassistischer Ungerechtigkeit und der ambivalenten Rolle digitaler Technologien nach, deren Auswirkungen durch die Pandemie in einer neuen Weise sichtbar und spürbar geworden sind. In acht Kapiteln setzen sich die Autor_innen nicht nur mit der Zerbrechlichkeit sozialen Lebens auseinander, sondern lassen das Fragile zum immanenten Bestandteil ihrer Überlegungen werden. Der scavenger Methode von Jack Halberstam folgend, bewegt sich ihr Denken in bemerkenswerter Geschwindigkeit zwischen queeren, postkolonialen sowie feministischen Theorien hin und her und verknüpft diese mit aktuellen Studien, persönlichen Beobachtungen und medialen Erzeugnissen, ebenso wie mit künstlerischen Auseinandersetzungen zur Pandemie. Anders als die klare Kapitelstruktur vermuten lässt, schlängelt sich der Band in einer „post/pandemischen serendipity“ (S. 15) durch Themen und Theorien, springt mal zurück, lässt offen, greift erneut auf und hält somit die Möglichkeit bereit, das eigene Denken von „zuvor Nicht-Gedachtem kontaminieren [zu] lassen“ (S. 15). Deutlich spiegelt sich die intensive Beschäftigung Bayramoğlu und Castro Varelas mit Queer Theory und digitalen Medien, sowie postkolonialen Studien und Migrationstheorien in dem Band wider, welchen Judith Butler und Hayat Erdoğan in ihren Geleitworten als „bemerkenswertes Buch“ (S. 7) und „must read“ (S. 8) empfehlen.  


Nach einer kurzen Einleitung entwerfen Bayramoğlu und Castro Varela im zweiten Kapitel die Grundzüge ihrer teils manifesthaften Theorie, die sie auch als politischen Aufruf gegen gewalttätige und von Ignoranz geprägte Politiken verstehen. So wenden sie sich im dritten Kapitel klar gegen antidemokratische Analysen wie die des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, in denen mit der Rücksichtslosigkeit eines „europäischen, männlichen, bürgerlichen und weißen Blicks“ (S. 34) eine Rückkehr zur vermeintlichen ‚Normalität‘ gefordert würde. Gerade in pandemischen Zeiten müsse die Vorstellung des „guten Lebens“ in Frage gestellt und durch plurale Erzählungen „fragilen Lebens“ ersetzt werden (S. 52). So argumentieren sie mit Verweis auf Jaques Derrida, dass das Ignorieren der uns in Zukunft begleitenden pandemischen „Gespenster“ (S. 41) die Gefahr berge, eine heilende Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Traumata zu verhindern.


Mit Hilfe von Konzepten der Bio- und Nekropolitik – also dem Einsatz politischer und sozialer Macht zur Bestimmung, welche Menschen leben dürfen und welche nicht – verknüpfen Bayramoğlu und Castro Varela im vierten Kapitel Überlegungen zur HIV/AIDS-Krise der 1980/90er Jahre und zum Tod von Menschen im Zuge von Migrationsbewegungen mit dem pandemischen Sterben. Sie betonen, dass die COVID-19 Pandemie über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg in einen gemeinsamen Zusammenhang mit diesen „Geografien des Todes“ (S. 66) gesetzt und analysiert werden müsse. Nur so könne die dahinterstehende „Politik der Starken“ (S. 17), in der das Leben und die Souveränität einer hegemonialen Dominanzgesellschaft über den symbolischen und realen Tod der ‚Anderen‘ gestützt werde, enttarnt und politische Widerstandsstrategien entwickelt werden.


Anhand der Bildanalyse zweier Titelseiten des Nachrichtenmagazins Der Spiegel skizziert Kapitel fünf, wie rassistische Narrative im Pandemie-Diskurs hervorgerufen und befeuert werden, während sich Kapitel sechs mit der Fragilität von Körpern, Intimität und Berührungen beschäftigt. Bezugnehmend auf mediale Kontroversen um Cruising-Orte in der Neuköllner Hasenheide spüren die Autor_innen den pandemischen Auswirkungen auf Begehren und (queere) Sexualität nach und fragen, wie die Folgen der Pandemie in den sozialen Feldern von Liebe und Intimität „einer konservativen Agenda in die Hände spielen können, der Nähe, Intimität und Transgression bedrohlich erschein[t]“ (S. 151).


Ausgehend vom gemeinsamen etymologischen Ursprung der Wörter Influenza und Influencer widmet sich Kapitel sieben den Ambivalenzen digitaler Technologien, die in der Pandemie sowohl „verbindend als auch zerstörerisch wirken“ (S. 7). Bayramoğlu und Castro Varela dekonstruieren verschwörungstheoretische Erzählungen und zeichnen mit Hilfe von Nikita Dhawans Analysen zur Unterscheidung zwischen einer notwendigen Staatskritik und gefährlicher Staatsphobie in überzeugender Weise Wirkmechanismen eines Umschlagens von digitaler in analoge Gewalt, u.a. am Bespiel der demokratiefeindlichen Bewegung Querdenken, nach.


Nach sieben Kapiteln post/pandemischer Serendipität wirkt der Titel des Fazits „Dénouement. Entknotung“ (S. 181) verheißungsvoll, scheint er ein Zusammenfügen der einzelnen Bruchstücke zu versprechen. Doch so wie sich ein Verschwinden des Coronavirus als Fiktion erweisen muss, bleibt auch die Möglichkeit einer Entknotung der post/pandemischen Serendipität Illusion. Stattdessen entsteht eine Leerstelle, die Raum lässt, um weiterzudenken und weiter zu fragen und die Bewusstsein schafft, für die Notwendigkeit „von unterschiedlichen Formen der Fragilität [zu] lernen“ (S. 187).


Schade ist allerdings, dass Erfahrungen von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung in einer Theorie der Fragilität wenig Berücksichtigung finden, da ihre Stimmen schon im öffentlichen Diskurs nur bedingt gehört werden. In Bezug auf die Ambivalenz digitaler Technologien sind beispielsweise Fragen nach Kompensationsangeboten und digitaler Barrierefreiheit in den vergangenen Jahren hoch virulent geworden, da wichtige Einrichtungen und Angebote für Menschen mit Behinderung pandemiebedingt nicht aufgesucht bzw. wahrgenommen werden konnten. Überlegungen hierzu hätten die Theorie durchaus bereichert. Nichtsdestotrotz stellt Bayramoğlu und Castro Varelas neue Theorie der Fragilität einen wichtigen Denkanstoß dar, mit dem sie der Fatalität sicherheitsversprechender Proklamationen zum Trotz, den Blick für die Unhintergehbarkeit der Fragilität menschlichen Lebens in all seiner weltlichen Verbundenheit schärfen.

 

English Abstract

Countering a “Politics of the Powerful”: On the Fragility of Post/pandemic Life

Post/Pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität traces the connections between a fragility of life, which has become newly visible as a result of the pandemic, existing dynamics of global inequality, and the exclusionary mechanisms of (post)colonial and hetero-normative structures. With their interdisciplinary theory, the authors succeed in showing the productive potential of fragility for a reflection on a more just post/pandemic society – with which they oppose a politics of the strong.

 

 

Copyright 2022, TILLMANN SCHORSTEIN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).