Return to Article Details ‘The Daily Madness’ between Realism and Idealism – Parenthood and Academic Work
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‚Der tägliche Irrsinn‘ im Spannungsfeld zwischen Realismus und Idealismus: Elternschaft und wissenschaftliche Arbeit

 

A Review by Anne-Kathrin Weber (anne-kathrin.weber@sowi.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen

 

Cremer, Annette Caroline. Studieren und Forschen mit Kind. Stuttgart: utb, 2018. 192 Seiten, 18,90 Euro. ISBN 978-3-8385-4877-7.

 

Abstract

Studierende, promovierende und wissenschaftlich forschende Eltern haben mit dem zentralen Verteilungskonflikt um die Ressource Zeit zu kämpfen. Damit sie weder sich selbst noch ihre Kinder überlasten, braucht es laut Annette C. Cremer realistische Vorstellungen von Elternschaft an der Universität. In ihrem Ratgeber Studieren und Forschen mit Kind gibt sie konkrete Tipps für die Arbeits- und Lebensorganisation studierender und promovierender Eltern und verweist auf strukturelle Hindernisse, die es zu beachten und überwinden gilt.

 

Review

Wieviel Zeit habe ich noch? Was mache ich, wenn das Kind wieder wach wird? Mit einem Ohr höre ich zu meinem Kind, das gerade im Nebenraum seinen Mittagsschlaf hält. Realistischerweise habe ich eine gute Stunde zur Verfügung, um meine wesentlichen Leseeindrücke zu Annette C. Cremers Ratgeber Studieren und Forschen mit Kind aufzuschreiben. Alles, was ich jetzt nicht schaffe, muss ich heute Abend erledigen – wenn ich vom Tag als Mutter eines Kleinkindes und als Doktorandin in den letzten Zügen ihrer Promotion einfach nur müde bin und mir viel lieber eine Folge meiner Lieblingsserie auf der Couch und damit meine einzige Pause am Tag gönnen würde.


Mit diesem etwas unüblichen Schwenk auf die Metaebene dieser Rezension lässt sich gut die zentrale Herausforderung illustrieren, die studierende und promovierende Eltern tagtäglich mehrfach und das oft über Jahre hinweg meistern müssen: Es geht um den fundamentalen Verteilungskonflikt um die so wertvolle Ressource Zeit. Zu Beginn ihres Praxisratgebers verweist Annette C. Cremer anschaulich auf den „täglichen Irrsinn“ (S. 15), den Elternschaft im Spannungsverhältnis mit wissenschaftlicher Arbeit unweigerlich mit sich bringt – und auf die enormen Kraftakte, die dieses ‚Doppelleben‘ fordert. „Geht es beim Studium um einen Berg, den es zu überwinden gilt und dessen Spitze man in weiter Ferne zumindest sehen kann, gleicht die Promotion in den Geistes- und Sozialwissenschaften einer wahren Gebirgskette mit lauter Achttausendern, von denen man nur den Fuß sehen kann.“ (S. 61)


Um diese harten Wege meistern zu können, bietet die Autorin konkrete Ideen zur Priorisierung sowie Arbeits- und (Über-)Lebensorganisation an. Sie empfiehlt beispielsweise ‚echte‘ Pausen und Auszeiten für studierende und promovierende Eltern, die, genauso wie eine strikte ‚Sphärentrennung‘, auch für den Rest der Familie sehr wichtig seien. Zeiten, in denen das Kind extern betreut würden, sollten dafür so konzentriert wie möglich genutzt werden, damit die gemeinsame Zeit mit dem Kind nur in absoluten Notfällen mit Arbeiten für das Studium oder die Promotion belastet werden müsse. Allerdings baut Cremer selbst einigen Druck auf, wenn sie schreibt: „Wenn Sie es schaffen, jeden Tag effektiv vier Stunden zu studieren, dann schaffen Sie sicher alle anstehenden Aufgaben! Ab der Promotion müssen es jedoch mindestens sechs Stunden pro Tag sein.“ (S. 127) Eltern, deren Kinder (noch) nicht extern betreut werden, können von solchen Zeitfenstern für konzentrierte Arbeit in der Regel nur träumen und müssen sich mit Kompromisslösungen behelfen.


Das zentrale Problem für studierende und promovierende Eltern sowie für Postdocs mit Kind(ern) liegt genau in diesen Anforderungen „im Spannungsfeld zwischen den eigenen und den kindlichen Bedürfnissen, den alltäglichen Notwendigkeiten und den Anforderungen der Universität“ (S. 19). Cremer befindet, zu Recht, dass die Rede von der „Vereinbarkeit“ oft „Augenwischerei“ sei, die aus „Gründen der Political Correctness“ (S. 20) beschworen werde. Laut der Autorin ist Vereinbarkeit immer mit hohen Kosten für alle Seiten verbunden. Diese Aussage klingt hart, sie ist aber sehr wichtig – sie hilft nämlich studierenden, promovierenden oder habilitierenden Eltern letztlich dabei, sich klar zu machen, dass eine dauerhafte Überforderung wahrscheinlich, aber nicht sinnvoll ist. Und sie verdeutlicht: Wer gerade Daten erhebt, Versuche durchführt oder Recherche- oder Schreibarbeit leistet, der kann in dieser Zeit nicht für sein(e) Kind(er) da sein.


Für Cremer ist dies letztlich keine individuell zu lösende Aufgabe, sondern auch eine hochschulpolitische. Die Autorin betont, dass es nicht Aufgabe von Eltern in Studium und Wissenschaft sein dürfe, gleich viel leisten zu müssen wie Nicht-Eltern. Hier sieht sie stattdessen institutionelle Strukturen in der Pflicht. Cremers Forderungen zielen dabei nicht nur auf den Schutz der Eltern vor Überlastung ab, sondern auch auf die Bedürfnisse der Kinder: „Da die Anforderungen der Kinder nicht verhandelbar sind, ohne das Wohl an Leib und Seele zu gefährden, muss die Universität systematisch helfen, damit auch die Erfüllung ihrer Anforderungen unter der Bedingung von Mutter- und Vaterschaft realistisch bleibt.“ (S. 33)


Die Realität sieht trotz aller Lippenbekenntnisse oft noch ganz anders aus. So müssten sich Eltern im Studium oder der Wissenschaft weiterhin auf Nachteile in der eigenen Universitätsbiografie einstellen, schreibt Cremer. Besonders das „Manko der Inflexibilität“ (S. 21) könne ein Studium verzögern und auch bei der Stellensuche in der Wissenschaft von Nachteil sein, weil es promovierte Eltern wenig(er) konkurrenzfähig mache.


An der starken Beschreibung des Status quo zeigt sich gleichzeitig die Schwachstelle des Ratgebers, der dezidiert als „Entscheidungshilfe und Wegbegleiter“ (S. 19) dienen soll und sich schwerpunktmäßig auf Studium und Promotion, weniger aber auf die Postdoc-Phase, konzentriert. Es stimmt zwar, Elternschaft im Studium und/oder Promotion ist wohl in jedem Fall ein einziger großer Kraftakt. Die Perspektive auf die Realität, die die Autorin für ihren Ratgeber gewählt hat, blendet allerdings die einzigartig schönen Seiten dieser Lebenswirklichkeit weitgehend aus: dass dieses ‚Doppelleben‘ das eigene Dasein nicht nur zeitlich und kräftemäßig ausfüllen, sondern auch im Hinblick auf die Sinnfrage erfüllen kann. Auch wenn es wirklich viel Energie und Organisation erfordert, kann Elternschaft im Studium oder während der Promotionszeit sehr glücklich machen.


Was es dafür neben wichtigem Realismus, den Annette C. Cremer mit ihren konkreten Tipps und ihrer berechtigten Kritik an institutionellen Stolpersteinen vertritt, aber auch und vor allem braucht, ist Mut, Zuversicht und guten Zuspruch. Dieser kommt in dem Ratgeber leider etwas zu kurz. Trotzdem bietet er wichtige Hilfestellungen für die Herausforderungen, die Eltern im akademischen Studien- und Berufskontext meistern müssen. Denn klar ist: Erst wenn die Rahmenbedingungen stimmen, kann man die essenzielle Freude des „täglichen Irrsinns“ wahrnehmen – und ihn angemessen zelebrieren.

 

English Abstract

‘The Daily Madness’ between Realism and Idealism – Parenthood and Academic Work

After having become parents, (post-)graduate and doctoral students, as well as researchers further advanced in their careers, have to come to terms with the pivotal conflict revolving around time as an important resource. In order to help those parents prevent stress overload, Annette C. Cremer suggests a realistic outlook on parenthood in academia. In her handbook she offers detailed advice for students on how to organize life and work, as well as pointing out structural obstacles that need to be addressed and overcome.

 

 

Copyright 2020, ANNE-KATHRIN WEBER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).