Return to Article Details How are we doing today? An interdisciplinary debate on emotional states in contemporary society
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Wie geht’s uns denn heute? Eine interdisziplinäre Debatte über Be- finden in der gegenwärtigen Gesellschaft

 

A Review by Dominique Autschbach (Dominique.Autschbach@gcsc.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen

 

Mixa, Elisabeth; Pritz, Sarah Miriam; Tumeltshammer, Markus und Greco, Monica (Hg.): Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten. Bielefeld: transcript, 2016.

 

Abstract

Der Sammelband Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten greift in die Debatte um die gesellschaftliche Hervorbringung emotionaler (Dis-)Harmonien ein. Indem er therapeutische und kulturtheoretische Positionen ins Gespräch bringt, trägt er zu dieser interdisziplinären Auseinandersetzung bei. Die Artikel widmen sich Affektivität in Bezug auf ein breites Spektrum an Themen, wie beispielsweise soziokulturellem Wandel, Geschlechterverhältnissen, psychischer Krankheit und Selbstmanagement.

 

Review

Die Beziehung von gesellschaftlicher Organisation und emotionaler Verfasstheit des Subjektes stellt eine Berührungsfläche von kulturtheoretischen und therapeutischen Ansätzen dar. Ein Symposium in Wien, ausgerichtet von einer breiten Kooperation künstlerischer, kulturwissenschaftlicher, soziologischer und psychoanalytischer Einrichtungen, widmete sich diesem „Ineinandergreifen von Wohl- und Unwohlgefühlen im gesellschaftlichen Kontext“ (S. 10). Der nun erschienene Sammelband von Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer und Monica Greco ist das Ergebnis der interdisziplinären Auseinandersetzung. Die versammelten Beiträge verbindet dabei ein Bewusstsein für die Kontingenz der Strukturierung von Befindlichkeiten (vgl. S. 13).


Im ersten von drei Abschnitten wird das Verhältnis von Emotionen und soziokulturellem Wandel in den Blick genommen. Christian von Scheve und Maximilian Dehne bieten hier eine Zusammenführung von emotionssoziologischen Ansätzen und Anomietheorien an. Mithilfe von Robert K. Mertons analytischer Trennung von Sozialstruktur und Kultur gelingt es den Autoren, ein klassisches Anomieverhältnis in der gegenwärtigen Gesellschaft, zwischen den sozial-strukturellen Bedingungen einerseits und kulturellen Imperativen zur Hervorbringung positiver Emotionalität andererseits, aufzuzeigen.

Um die affektive Intensität von Wandel und das Verhältnis von Ritual und Affekt näher bestimmen zu können, verbindet Paul Stenner Affekt- und Liminalitätstheorien. Monica Greco wendet Engin Isins Konzept der Neuropolitik, welches die gegenwärtige Gesellschaft als bestimmt von „neoliberalen“ und des „neurotischen“ Subjektpositionen begreift (vgl. S. 73), auf die wandelnde Diagnose somatischer und somatoformer Störungen der revidierten Fassung des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Discorders an. Subjektpositionen und Sehnsuchtsorte des Wellness-Diskurses werden in Elisabeth Mixas Bild- und Artefaktanalysen betrachtet. Wellness versteht die Autorin dabei als „spätmodernen Anstandsdiskurs“ (S. 95), der gesellschaftliche Transformationen unterstützt.


Die Artikel des zweiten Themenblocks gehen der Beziehung von Geschlecht, Sexualität und Unwohlgefühlen nach. Die Bilder und Bedeutungszusammenhänge der Trias von Geld, Körper und Geschlecht zeichnet Christina von Braun in ihrem Aufsatz nach. Birgit Sauer untersucht die Neuordnung der Beziehung von Politischem und Affektivem und erarbeitet hierfür mit dem Konzept der „affektiven Gouvernementalität“ ein machtanalytisches Vokabular (vgl. insbesondere S. 154). Die beiden folgenden Artikel nehmen die unterschiedliche Prävalenz von Depression bei Männern und Frauen zum Ausgangspunkt: In Anlehnung an Sigmund Freuds Unterscheidung von Depression und Melancholie und Judith Butlers Theorem der Verwerfung formuliert Ilka Quindeau einen psychodynamischen Erklärungsansatz der Depression. Anhand psychoanalytischer Verlusttheorien von, Risikoanalysen zu und Bildern von Depression stellt Nadine Teuber heraus, dass es zu einer veränderten Konstruktion und Naturalisierung von depressiver Männlichkeit und Weiblichkeit komme.


Den letzten Abschnitt des Sammelbandes bilden Artikel zu Burnout-Syndrom und Selbstmanagement: August Ruhs erklärt in seinem Beitrag, die gegenwärtige Gesellschaft sei durch die Verleugnung jeglichen Mangels gekennzeichnet. In seiner empirischen Studie geht Markus Tumeltshammer den Selbsterforschungformen von Kompetenz sowie self tracking nach und führt diese auf Praktiken und Diskurse der Eignung, der Optimierung und der Kontrolle zurück. Linda V. Heinemann und Tors- ten Heinemann zeigen in ihrer Analyse von medizinischen Fachartikeln zum Burnout-Syndrom deren inhärente Anforderung zur Selbstoptimierung auf. Sie argumentieren, das Burnout-Syndrom habe sich von der Diagnose von arbeitsbezogenem Stress in spezifischen Berufsgruppen zu einer verallgemeinerten Beschreibung psychischer Belastung gewandelt. Abschließend beleuchtet Rainer Gross die Debatte um das Burnout-Syndrom und bietet eine anerkennungstheoretisch begründete Positionierung der Therapierenden an.


Neben Schreibenden des affective turns in den Sozial- und Kulturwissenschaften kommen in diesem Sammelband insbesondere Therapierende zu Wort. Hierdurch gelingt es, der eindimensionalen Schuldzuweisung einer Individualisierung sozialer Probleme durch therapeutische Angebote zuvorzukommen und die normative Verklärung des Wohlbefindens zu vermeiden. Der – schon im Titel angekündigte – Begriff der Befindlichkeit bleibt aber offen. In den einzelnen Beiträgen wird er meist durch die Worte Affekt, Emotion oder Gefühl ersetzt, was, wie die Herausgebenden selbst anmerken, unterschiedliche Konzepte des betrachteten Objektes nach sich zieht (siehe S. 13). Die Unterschiede dieser Begrifflichkeiten verweisen darüber hinaus auch auf verschiedene Theorieströmungen. Da diese Einfärbung der Terminologie jedoch nicht vorher expliziert wird, bleibt die theoretische Verortung der Beiträge diesen selbst überlassen. Das Herstellen von Bezügen zwischen den Beiträgen oder das Herausarbeiten von (möglicherweise fruchtbaren) Spannungen zwischen theoretischen Positionen wird damit erschwert. Insbesondere aufgrund der disziplinären Vielfalt der Artikel stellt der Sammelband trotzdem eine anregende Lektüre dar und ermuntert zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Unwohlsein und Wohlbefinden in der gegenwärtigen Gesellschaft.

 

English Abstract

How are we doing today? An interdisciplinary debate on emotional states in contemporary society

The anthology Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten intervenes in the debate on the societal production of emotional (dis-)harmonies. The volume contributes to this interdisciplinary discussion by fostering the dialogue between therapeutic and cultural-theoretical positions. The collected articles explore affectivity in relation to a wide array of topics, such as sociocultural change, gender relations, psychological illness, and self-management.

 

 

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