Eine künstlerische Praxis: Żmijewskis Angewandte Gesellschaftskunst
Eine Rezension von Fatma Kargin (Fatma.Kargin@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Frimmel, Sandra; Liptay, Fabienne; Sajewska, Dorota und Sylvia Sasse (Hg.): Artur Żmijewski. Kunst als Alibi. Diaphanes, Zürich/Berlin 2017. 240 Seiten, 25 EUR. ISBN 978-3-03734-979-3.
Abstract
Inwiefern könnte die Kunst als Mittel und Weg verwendet werden, um politisch in die Welt eingreifen zu können? Kommt es in Frage, die Wirkung der Kunst auf die Gesellschaft als eine autonome Kunstproduktion zu betrachten, anstatt über ihre fremde und ineffektive Wirkung zu sprechen? Der Sammelband Kunst als Alibi umfasst Gespräche, Aufsätze und visuelle Gespräche von Żmijewski, die nicht nur auf diese Fragen eingehen, sondern auch seine Idee der künstlerischen Praxis, die ‚Angewandte Gesellschaftskunst‘ sowie ihre Folgen untersuchen. Herausgegeben von Sandra Frimmel, Fabienne Liptay, Dorota Sajewska und Sylvia Sasse stellen die Autorinnen unterschiedliche Texte vor, die über Żmijewskis künstlerisches Manifest und seine Analyse der eigenen Praxis und der „Kulturinstitutionskultur“ (S. 145) hinausgehen.
Rezension
Die Kunst als ein Werkzeug zu betrachten, das in den gesellschaftlichen Gegebenheiten von Nutzen ist, dient als eine Grundlage für die Folgen der sichtbaren bzw. verifizierbaren Wirkung der Kunst. Die durch künstlerisches und politisches Engagement entstandenen Folgen heben noch einmal den Belang von unentbehrlicher Zusammenwirkung der Kunst und des Gesellschaftskörpers hervor. Der als Teil der Reihe ‚Denkt Kunst‘ entstandene Band legt den Fokus auf die Vorgehensweise des polnischen Videokünstlers Artur Żmijewski. Ausgebildet in der Akademie der Bildenden Künste Warschau, setzt er sich in seinen Arbeiten mit der Macht der Kunst und ihren gesellschaftlichen Folgen auseinander und folglich entfalten sich seine Handlungen hinsichtlich seiner ‚Idee der künstlerischen Praxis‘: ‚Angewandte Gesellschaftskunst‘.
Der Sammelband umfasst 12 Beiträge (Essays, Gespräche sowie Analysen der Kulturinstitutionen und der eigenen Praxis des Künstlers), die in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren entstanden sind (S. 24). Als Ansatzpunkt stellen die Autorinnen in dem Beitrag „Handeln ohne literarische Ambitionen, ein Vorwort“ unterschiedliche Begriffe wie ‚Situation‘, ‚Autonomie-Wirkung‘ und ‚Film‘ vor, die auf dem Praxisvokabular des Künstlers beruhen. Angesichts dieser gelungenen Einleitung werden die wichtigsten Konzepte für Żmijewskis künstlerisches Gesamtkonzept sowie deren Rolle in den von ihm konkret gestalteten ‚Situationen‘ erläutert.
Mit dem Fragen nach der künstlerischen Wirkung sowie deren sichtbaren gesellschaftlichen Folgen befasst sich Żmijewski in seinem Manifest „Angewandte Gesellschaftskunst“. In diesem Manifest besonders zu beachten ist die Thematisierung der Aufgaben bzw. der Merkmale von Kunst wie „Pflicht und Aufstand“ (S. 51), wobei er sich mit dem Einfluss auf radikale Aussageformen hinsichtlich der Nachfrage des Kunst-Marktes auseinandersetzt und somit die kulturelle Macht der Kunst auf die Probe stellt. Ferner thematisiert er in seinem Manifest die „Ignoranten und Analphabeten“ sowie die „Überschreitung der Entfremdung“ (S. 55, 56), womit er konkret auf die Entfremdung der Kunst und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft eingeht. Dennoch fehlen in den vielfältigen Analysen gewisse Erwägungen über die Aspekte der Wahrnehmung der Rezipienten.
Anhand der Essays und der Diskussionen werden die Situationen, die auf freiwilliger Teilnahme und gemeinsam gestalteter Erfahrung beruhen, als Kern Żmijewskis Arbeit bezeichnet. Diese von den Akteur_innen improvisierten und mit Kamera aufgezeichnete Situationen, in denen die Funktion der Teilnehmer_innen durch „das Demonstrieren der tieferen, oft verdrängten psychologischen und sozialen Prozesse“ (S. 8) definiert wird, werden nicht als künstlerische Produktionen, sondern als soziale Experimente bezeichnet.
Zudem finden sich in den Beiträgen „Kulturinstitutionskultur“ (S. 145) und „Kollektiver Bericht“ (S. 147) von Oleksij Radynski, Paula Struginska, Zofia Waslicka und Artur Żmijewski Analysen des Kunstbetriebs, die sich mit dem CSW (Zentrum für Gegenwartskunst Schloss Ujazdowski) und mit dem MWW (Zeitgenössisches Museum Warschau) befassen. Lesenswert ist dabei insbesondere die Partizipation der Angestellten und der Direktoren der Institutionen an den kritischen Berichten. Die auf den freiwilligen Gesprächen beruhenden Bemerkungen nehmen die kritische Selbstreflexion, die Konflikte, die Arbeitsbedingungen und die Strategie der sozialen Einflussnahme der Institutionen in Angriff.
Die Rolle der Strategie ‚Kunst als Alibi‘ wird in drei Filmen (Brushworks, Cookbook und The Making Of), die 2013 in einem Frauengefängnis gedreht wurden, diskutiert. In diesen Auftragswerken verwendet Żmijewski die Kunst als ein Alibi, um ins Gefängnis eine Art der künstlerischen Erfahrung, die auf der Grundlage des gemeinsamen Handelns der Insassinnen entsteht, zu bringen. Dem Text zufolge sei der Sinn dieser Aufträge, das Gefängnis als einen sozialen Raum zu betrachten, zu der Selbstentfaltung der Insassinnen beizutragen und darüber hinaus eine soziale Arbeit zu leisten. Es bleibt jedoch für die Rezipienten ungewiss, ob mit diesem Auftrag ein Stück Normalität im Gefängnis zurückgewonnen werden konnte. Wurde den Insassinnen ihre „Würde und ein Stück soziales Leben“ (S. 236) zurückgegeben, wie der Künstler im Text behauptet, oder wurden sie zugunsten des Auftrags instrumentalisiert? Fraglich bleibt daher, ob der ganze Auftrag eine Art der politischen Illusion darstellt, der auf der Profilierung des Auftraggebers beruht und eine wünschenswerte Realität lediglich symbolisiert.
Während das Buch nach dieser spezifischen Strategie benannt ist, wird sie lediglich in dem Beitrag „Kunst als Alibi, Ein Gespräch mit Artur Żmijewski“ von den Autorinnen thematisiert. Obwohl Żmijewski darin erklärt, dass seine Strategie ‚Kunst als Alibi‘ nur in den Auftragswerken im Frauengefängnis von Nutzen war, ist sie doch untrennbar mit seiner grundlegenden Idee der ‚Angewandten Gesellschaftskunst‘ verbunden und lässt sich auch in seinen weiteren, oft provokativen Arbeiten aufzeigen. Trotz der unzureichenden Thematisierung der Strategie veranschaulicht der Sammelband eine umfassende Darstellung von Żmijewskis engagierter und als kontrovers kritisierter Vorgehensweise. Zudem bilden die sorgfältige Auswahl der Beiträge vielfältige Funktionen von Żmijewskis Arbeiten ab, in denen er seine Idee der künstlerischen Verhandlung im kulturellen und politischen Kontext in die Praxis umsetzt. Mit seinen engagierten Arbeitsmethoden gehen die gestalteten Erfahrungen und Produkte des gemeinsamen Handelns über eine ineffektive Wirkung der Kunst hinaus. So ein maßgebliches Engagement stellt eine selbstreflexive Einstellung dar, die sich gegen die blinde Strömung der modernen Gesellschaft stellt. Aus dieser Sicht stellen die ausgewählten Essays und Interviews stimulierende Analysen und Strategien für Wissenschaftler_innen, die sich für die kritische Wirkung von Kunst auf Gesellschaft und die Folgen dieser Wirkungen interessieren, zur Diskussion.
English Abstract
An Artistic Practice: Applied Social Arts of Żmijewski
To what extend could art be used as a means to politically intervene in the world? Is it possible to consider the effects of art on society as an autonomous art production, instead of discussing its strange and pseudo effect? This anthology Kunst als Alibi comprises Żmijewski’s essays, conversations, and visual conversations, which not only address these questions, but also scrutinize his idea of a practice of ‘Angewandte Gesellschaftskunst’ and its consequences. Edited by Sandra Frimmel, Fabienne Liptay, Dorota Sajewska, and Sylvia Sasse, the authors present various texts that go beyond Żmijewski’s artistic manifesto, his analysis of his own practice, and the analysis of ‘Kulturinstitutionskultur’ (p. 145).
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