Aspekte der Vermittlung von Wissen in fiktionaler Literatur

 

Eine Rezension von Peter Drews (peter.drews@altphil.uni-freiburg.de)

Universität Freiburg

 

Ulbrechtová, Helena; Grub, Frank Thomas; Platen, Edgar und Siegfried Ulbrecht (Hg.): Literatur und menschliches Wissen. Analysen zu einer grenzüberschreitenden Beziehung. Berlin: Kulturverlag Kadmos (Kaleidogramme Bd. 154), 2018. 411 Seiten, 29,80 EUR. ISBN 978-3-86599-360-1.

 

Abstract

Der Band untersucht im Rahmen eines Forschungsprojekts von Prager Slavisten und Göteborger Germanisten Aspekte der Vermittlung empirischen Wissens im Grenzbereich von fiktionaler und pragmatischer Literatur. Je zur Hälfte germanistischen und slavistischen Themen gewidmet, behandelt er in zwölf Beiträgen meist anhand ausgewählter Werke deutscher, russischer und tschechischer Autoren vorwiegend des 20. Jahrhunderts kognitive und erzählerische Probleme der Wechselwirkung von Philosophie, Geschichtswissenschaft und Psychologie mit Belletristik und Bildender Kunst aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.

 

 

Rezension

Die Herausgeber eröffnen den Band mit einem Abriss der aktuellen Theorie-Diskussion in Germanistik wie Bohemistik „Literatur und menschliches Wissen als Forschungsthema“ (S.7-30), der Fiktion als anderen Medien ebenbürtiges, doch eher indirektes Mittel der Erkenntnis wertet. Edgar Platen überprüft dazu in „Wissen vom Andern als anderes Wissen. Anmerkungen zum Verhältnis von Literatur, Hermeneutik und Transkulturalität“ (S.31-54) Thesen von Rudolf zur Lippe zur Dichotomie von Ästhetik und wissenschaftlich ‚objektivierendem Subjektivismus‘ in Verfahren der Belletristik. Er befürwortet in sehr fundierter Auseinandersetzung mit vor allem Hans-Georg Gadamer ein transkulturelles Modell, das Raum für vielfältig ‚anderes Wissen‘ biete, versteht dies aber nur als Anregung und strebt explizit keine Lösung des ohnehin höchst komplexen Problems an. Achim Küpper erörtert in „Alchemie und Magie als poetologische Verfahren in der Literatur um 1800 / Prolegomena zu einem literatur- und wissensgeschichtlichen Spannungsfeld“ (S.55-82) fachkundig den Wandel der epistemologischen zur poetologischen Funktion des Okkultismus. Er vergleicht Szenen von Goethes Faust und E.T.A.Hoffmanns Der Sandmann mit zeitgenössischen Illustrationen und veranschaulicht dadurch, wie sich Alchemie mittels optisch orientierter Erzählverfahren als unwissenschaftlich entlarvt.

 

Dirk Uffelmann wählt in „Der weiße Oled weiß mehr als sie alle. Kolonial(isiert)es (Nicht-)Wissen über Afrika“ (S.83-104) einen Klassiker polnischer Jugendliteratur von Henryk Sienkiewicz W pustyni i w puszczy (dt. Durch Wüste und Wildnis) als Test für Vermittlungsstrategien kulturellen Wissens. Er verdeutlicht, wie die scheinbar objektive erzählerische Präsentation kulturgeographischer Realien zuvorderst elementare Wissenskonflikte zwischen Europäern und Afrikanern offenbart. Frank Thomas Grub beleuchtet faktenreich in „‘Der ideologische Gehalt des Manuskriptes erscheint fragwürdig.‘ Zur Wissensorganisation und –verarbeitung in Reisetexten aus der DDR“ (S.353-377), wie Eingriffe der Zensur in Reiseliteratur der DDR bis in die 1970er Jahre den Blick auf das nichtsozialistische europäische Ausland verengten und die DDR zum positiven Gegenentwurf des Kapitalismus erhoben. Und Karin S. Wozonig analysiert in „‘Der einzige Ort‘ und das gespenstische Wir. Ein Dialog“ (S.378- 398) Thomas Stangls Roman zu zwei Afrika-Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts bezüglich des unterschiedlichen Wissenstandes von Erzähler, Figuren und potentiellem Leser. Dies ergänzt Stangl mit eigenen Bemerkungen zu seinem Vorgehen, und so erscheint die mehrfache Mischung historischer Wirklichkeit mit Fiktion als letztlich vergeblicher Versuch, sich einem Gegenstand im Prozess des Schreibens angemessen zu nähern.

 

Die übrigen Studien behandeln Filiationen von Belletristik und Philosophie unter nur begrenzter Berücksichtigung des Generalthemas. Hanuš Nykl stellt in „Zwischen Philosophie und Literatur. Literarisches Schaffen von Aleksandr S. Chomjakov, Konstantin N. Leont’ev und Vladimir S. Solov’ev“ (S.105-152) drei unterschiedliche russische Slavophile des 19.Jahrhunderts vor – Chomjakov als religiös orientierten Spätromantiker, Leont’ev als Tolstojaner und Anhänger der Autokratie byzantinischen Typs, und Solov’ev als teils häretischen orthodoxen Mystiker. Dies erörtert er detailliert in Inhaltsangaben ihrer Werke, verzichtet aber leider auf eine Positionierung der Autoren innerhalb der Slavophilie. Jan Vorel vergleicht in „Die ästhetisch-philosophische Metamorphose des tschechischen und russischen Modernismus. Vom Kantschen Modell der autonomen Schönheit zur Hegelschen Darstellung der absoluten Idee in der Kunst“ (S.153-193) sehr instruktiv die dank gemeinsamer Quellen weitgehend parallele Entwicklung des russischen und tschechischen Symbolismus anhand programmatischer Äußerungen führender Dichter, darunter insbesondere Andrej Belyj und Otokar Březina. Dies führe vom Ästhetizismus zur Idee einer objektivistisch-idealistischen Theurgie, die letztlich zu Ur-Energien des Seins vordringen wolle. Isabel Wünsche kontrastiert in „Von der Metaphysik zur Psychophysik: Reflexionen zum Wesen des künstlerischen Schaffensprozesses in den kunsttheoretischen Schriften von Nikolaj Kul’bin und Wassily Kandinsky“ (S.194-215) sehr sachkundig Ansichten zur Bildenden Kunst zweier namhafter Vertreter der russischen Avantgarde. Kul’bin entwickelte in Anlehnung an Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt ein die Psyche einbeziehendes Konzept künstlerischer Sensibilisierung für die Realität, was Kandinskij mit Anregungen der Mystik und Anthroposophie verband. Und Miroslav Olšovský diskutiert in „‘Das Sehen des Nichtsehens‘. Das ‚andere‘ russische Denken – die atonale Philosophie Jakov Druskins“ (S.216-256) das Weltbild eines literarischen Einzelgängers aus dem Umfeld des Surrealismus, das auf dem Primat des Zufalls beruht und jede Kausalität negiert. Er verweist dazu öfter auf vergleichbare Gedanken der modernen französischen Philosophie, bleibt aber die eingangs versprochene Erörterung des Bezugs zu Husserl und Heidegger ebenso schuldig wie Druskins Einordnung in die moderne russische wie westeuropäische Philosophie.

 

Siegfried Ulbrecht untersucht in „Die Freiheitsidee bei Ernst Jünger am Beispiel des Essays ‚Der gordische Knoten‘. Mit Bezügen zu Johann Jakob Bachofen, Ernst Niekisch und Karl August Wittfogel“ (S.257-295) dessen heiklen Begriff von Freiheit als fundamentalem Unterscheidungsmerkmal von Ost und West. In kompetenter Kommentierung wesentlicher Aspekte belegt er überzeugend, wie Jünger auf Bachofens und Wittfogels Impulse meist positiv reagierte und sich zugleich deutlich von Niekisch distanzierte. Die Wertung der Schrift als immer noch aktuelle ‚Kulturgeschichte der Freiheit im kleinen‘ übersieht jedoch großzügig Mängel in Jüngers reichlich vereinfachtem Geschichtsbild. Helena Ulbrechtová schließlich vergleicht in „Die Flucht ins Jenseits. Zur Reflexion des Gnostizismus: Susan Taubes (‚Divorcing‘) und Marija Rybakova (‚Anna Grom i ee prizrak‘)“ (S.296-352) zwei ästhetisch umstrittene autobiographische Romane kultureller Selbstfindung, spürt akribisch Parallelen in Sujet, Komposition und Motivik nach und betont zutreffend disparate Tendenzen des Gnostizismus.

 

Von den meist auf recht hohem Niveau verfassten Beiträgen wirken gerade die theorie-orientierten Artikel überaus anregend. Die übrigen bieten zwar nützliche Einblicke in das literarische Schaffen einzelner Personen und Werke, doch hätte man sich auch hier eine stärkere Einbeziehung des Hauptthemas gewünscht.

 

 

English Abstract

Aspects of Knowledge Transfer in Literary Fiction

Based on a joint project of Slavists from Prague and Germanists from Göteborg, this volume treats problems of the transfer of empirical knowledge in the border area between fictional and pragmatic literature. Equally divided between German and Slavic topics, the twelve contributions deal mostly with a body of individual works of predominantly 20th-century authors from Germany, Russia, and Bohemia, addressing cognitive and narrative problems of the interaction of philosophy, historiography, and psychology with fiction and fine arts from the point of view of literature.

 

 

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