Intertextualität als Welterschließung, oder ‚Nebenwerk‘ ist nicht Nebenwerk
Eine Rezension von Silvia Boide (Silvia.Boide@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Bronner, Stefan und Björn Weyand (Hg.): Christian Krachts Weltliteratur. Eine Topographie. Berlin/Boston: De Gruyter, 2018. 331 Seiten, 39,95 EUR. ISBN: 978-3-11-053117-6.
Abstract
Der Sammelband Christian Krachts Weltliteratur. Eine Topographie, herausgegeben von Stefan Bronner und Björn Weyand, arbeitet mit einem weiten Begriff von ‚Weltliteratur‘ und nutzt ihn einerseits als Ausdruck der Betonung eines auf der Ebene der Schauplätze topographisch diversen Werks und andererseits zur Beschreibung einer ambivalenten Form der literarischen Welterschließung, die zwischen Fakt/Fiktion, Leben/Literatur, Selbstreferenz/Kontext stattfindet. Es werden zudem die bisher in der Kracht-Forschung weniger beachteten ‚Nebenwerke‘ (v.a. Reisetexte und/oder in Ko-Autorschaft entstandene Texte) stärker ins Licht gerückt und in ihrer Verbindung zum Romanwerk betrachtet.
Rezension
Der Schweizer Autor Christian Kracht hat zuletzt im Zuge seiner im Mai 2018 in Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesungen reichlich mediale Aufmerksamkeit erhalten. Im Oktober 2018 erschien, nach zwei in den letzten beiden Jahren publizierten Kracht-Bänden (Christoph Kleinschmidt (Hg.): Text und Kritik Heft 216: Christian Kracht. München 2017; Matthias N. Lorenz/Christine Riniker (Hg.): Christian Kracht revisited. Irritation und Rezeption. Berlin 2018), ein weiterer Sammelband, der das Werk als „Weltliteratur“ und anhand seiner „Topographien“ zu erschließen sucht.
Im Aufschlag nehmen die Herausgeber die Thematik des Reisens und die sich stets erweiternde Liste der topographischen Schauplätze – dem Band ist auch ein Ortsregister beigegeben – zum Ausgangspunkt der Beschreibung von Krachts Werk. Seine ‚Weltliteratur‘ wird hier mit einem starken Fokus auf Welterschließung „im ästhetischen Dazwischen“ (S. 9) und literarischen Entwürfen von Welt gesehen. Der Band möchte dabei die topographischen, poetologischen und medialen Dimensionen in den Fokus nehmen. Ein zweiter einleitender Artikel von Schriftsteller, Journalist und Ko-Autor Krachts Eckhart Nickel befasst sich mit den Facetten des Fliegens im Werk Krachts, das stets als „narrative[s] Scharnier“ (S. 18) fungiere und wichtige Wendepunkte markiere.
Der erste Teil ‚Aufenthalte‘ widmet sich den hier unter dem Stichwort ‚Reiseberichte‘ gefassten Texten Krachts. Dabei zeigen alle fünf Beiträge verschiedene Dimensionen der Grenzüberschreitung des traditionellen ‚Reiseberichts‘ vor allem in Bezug auf ihre Literarizität auf, die in diesen kürzeren und kurzen Prosatexten – in Allein- oder Ko-Autorschaft – zum Tragen kommen. Dabei spielten Intertextualität und Selbstreferenzialität ebenso eine Rolle wie die textliche Gestaltung der beschriebenen Orte im Rückgriff auf Stereotype oder eine Sprache, die eine spezifische Erwartungshaltung bediene. Weyand z.B. beschreibt, wie Eckhart Nickel und Christian Kracht in ihren Gemeinschaftsprojekten (Ferien für immer und Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal) dem Dilemma des Verlusts authentischer Reiseerlebnisse durch den Massentourismus mit einer „Poetisierung der Welt“ (S. 34) begegnen, die traditionelle Strategien des Reiseberichts über explizite wie implizite intertextuelle/-mediale Verweise „postromantisch“ weiterdenken (S. 33). Mergenthaler argumentiert, dass die peritextuelle Einbettung eines ‚Reiseberichts‘ über die Mongolei (2002), gerade durch die Veröffentlichung im journalistischen Kontext (Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) die Literarizität des Textes noch steigere.
Weitere fünf Texte betrachten im nächsten Teil ‚Kunsträume‘ Dimensionen der Raumdarstellung und Welterschließung aus poetologischer Perspektive vor allem im Romanwerk und der Reiseliteratur. Besonders präsent ist dabei die aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitete Frage nach der Gestaltung des Wirklichkeitsbezugs. Dieser könne beispielsweise bei einer nicht mehr sauber zu ziehenden Grenze zwischen faktualen und fiktionalen Bezugspunkten in der Zuspitzung eines „paralogischen Erzählens“ empfunden werden (Baßler) oder als unauflösbares, bis in die Rezeption von Krachts Werk hineinwirkendes, „tautologisches Bauprinzip“ (Kleinschmidt, S. 177). Laurenz Schulz bietet mit seiner narratologischen Interpretation der Reiseliteratur einen Blick auf vielversprechende Analysen formeller Besonderheiten im Werk Krachts (hier: ‚unnatürliches Erzählen‘). Im Anschluss an einige Beiträge des ersten Teils, nimmt der Aufsatz auf der sprachlich-formellen Ebene des Textes die Abweichung von der in Reiseführern überwiegend genutzten „Man-Erzählform“ (S. 193) als ein spezifisches erzählstrukturelles Merkmal in den Blick, das zur besonders herausgestellten Literarizität von Krachts Texten erheblich beitrage. Der Beitrag Stefan Bronners zu Krachts bis dato letztem Roman Die Toten ist eine ausführliche und sprachlich dichte Auseinandersetzung mit einem Schreiben im Modus des Pastiche, das er anhand zahlreicher Beispiele als u.a. „Gegenteil eines naiven Dualismus von Realität versus Fiktion“ (S. 223) bewertet.
Im letzten Teil ‚Zukunftsszenarien‘ beschäftigen sich schließlich vier Aufsätze mit utopischen Dimensionen und Verweisen auf Verschwörungstheorie(n) im Werk Krachts. Birgfeld schlägt vor, Krachts Werk als eine unterhalterische Begleitung des unausweichlichen Untergangs der Menschheit wahrzunehmen, ohne jedoch Bedauern über diesen spüren zu lassen. Arnim Seelig folgt dem Verweisgeflecht in Metan hin zu einer Lesart, die ein aufklärerisches und ideologiekritisches Programm in dem Text entdeckt, durchexerziert u.a. durch die Offenlegung der willkürlichen Art von Bedeutungszuweisung, wie sie in verschwörungstheoretischen Erzählungen zum Tragen komme. Im letzten (einzigen englischsprachigen) Beitrag vollzieht Randall Halle aus filmwissenschaftlicher Perspektive detailliert nach, wie Faserland, Treatment und Faserland, Drehbuch sich sowohl der Roman- Vorlage wie auch den filmindustriellen Standards für diese Textsorten entziehen.
Gegebenenfalls irritierend wirkt die prominente Positionierung des ‚Weltliteratur‘-Begriffs im Titel des Bandes. Wenige Beiträge nehmen explizit auf theoretische in der Literatur(wissenschaft) existierende Konzepte von ‚Weltliteratur‘ Bezug, keiner von ihnen arbeitet jedoch mit einem entsprechenden theoretischen Fokus. Allerdings wird dieser offene Ansatz auch bereits in der Einleitung erläutert (s.o.).
Die Diversität der hier versammelten Forschungsansätze zeigt eindrucksvoll die verschiedenen Ebenen auf, die Krachts Texte zur Lektüre anbietet. Dabei wird deutlich, dass in einzelnen Analysen die werkumspannende Intertextualität und Komplexität nur angedeutet werden kann. In der Zusammenstellung verschiedener Perspektiven auf das Werk jedoch lässt sich erahnen, wie Fakt und Fiktion, Leben und Literatur, Selbstreferenz und Kontext über die Textgrenzen hinweg mit- und ineinander greifen und dieses unübersichtliche, aber an jedem Punkt auf Weiteres verweisende (inter-)textuelle Geflecht zustande kommt.
Der Band knüpft an die bestehenden Tendenzen in der Kracht-Forschung an, eröffnet aber auch neue Perspektiven. Insbesondere das im Band häufig so benannte und von der Forschung bisher weniger stark beachtete ‚Nebenwerk‘ – v.a. ‚kleine Formen‘ und in Ko-Autorschaft geschriebene Texte – wird mit dieser Aufsatzsammlung in eine zentralere Position gebracht.
English Abstract
Intertextuality as a Means of Discovering the World, or Minor Works in a New Light
The edited volume Christian Krachts Weltliteratur. Eine Topographie by Stefan Bronner and Björn Weyand (ed.) uses an expansive concept of world literature to describe an author’s work which includes more and more diverse topographies in its texts, and which refers to the world in an ambivalent manner, as taking place between fact and fiction, life and literature, self-reference and context. Furthermore, Kracht’s travel writing and co-authored texts are brought into focus and can now be observed as being part of and interacting with his novels.
Copyright 2019, SILVIA BOIDE. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).