Zur Erweiterung der Game Studies. Eine ganzheitliche kultursemiotische Erschließung des Videospiels
Eine Rezension von Maren Conrad (maren.conrad@fau.de)
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Hennig, Martin: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels. Marburg: Verlag Schüren 2017. 404 Seiten, 48 EUR. ISBN 978-3-89472-951-6.
Abstract
Martin Hennigs Publikation Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels leistet einiges mehr, als der Titel vermuten lässt: die Publikation erbringt eine systematische und umfassende Erschließung und Typologisierung des Gegenstandes des Computer- bzw. Videospiels aus medien-, literatur- und kultursemiotischer Perspektive und ergänzt diese durch eine zusätzliche Konzentration auf Aspekte der Privatheitsforschung, die unmittelbar mit kulturwissenschaftlichen Betrachtungen verknüpft werden, um so sowohl den ludischen und narrativen wie auch den sozialen Charakteristika seines Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden.
Rezension
Entgegen zahlreicher auf dem Markt vorhandener Arbeiten zur vermeintlichen ‚Einführung‘ in die Computerspielanalyse, ebenso wie wissenschaftlicher Arbeiten zum Computerspiel, die sich zumeist primär einer spezifischen Fragestellung widmen und selten über eine monothematische Diskussion, etwa der ludologischen und narratologischen Perspektiven hinausreichen, nähert sich die Studie von Martin Hennig ihrem Gegenstand bzw. ihren Gegenständen aus gleich mehreren geisteswissenschaftlichen Perspektiven gleichzeitig und führt diese fruchtbar zusammen. So leistet seine Arbeit sowohl a) eine kenntnisreiche Reflexion über den Gegenstand und seine medialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte sowie b) ein umfassendes Analysemodell für Videospiele, indem sie eine systematische und umfassende Erschließung und Typologisierung der Computerbzw. Videospielanalyse aus medien-, literatur- und kultursemiotischer Perspektive liefert. Martin Hennig versteht und betrachtet Computerspiele insgesamt und insbesondere Onlinespiele als „Experimentierfeld möglicher Überschneidung von individuellen und kollektiven Handlungsbezügen“, aus denen „prinzipiell ein beträchtliches diskursives Potenzial des Spielraums erwächst“ (10).
Die besondere Relevanz der Arbeit speist sich dabei nicht zuletzt auch aus dem Zeitpunkt der Veröffentlichung, der einhergeht mit einem beginnenden Umbruch, im Sinne eines Aufbrechens und Wachstums sowie einer Verlagerung des Videospielmarktes in den Onlinebereich. Diese Umbrüche bringen sowohl einen technologischen Innovationsschub innerhalb der Spieleindustrie mit sich, als auch ein erneutes Aufflammen gesellschaftlich vieldiskutierter Themen der Bedeutung, des Potenzials und der ‚Gefahr‘ des Videospiels als Unterhaltungsmedium. Zu diesem Themenfeld der Privatheitsforschung gehören Aspekte des Datenschutzes ebenso wie die Problematisierung von Unterhaltungsmedien insgesamt ebenso sehr, wie die Analyse der Darstellung von Privatheit und Öffentlichkeit innerhalb des Computerspiels als Erzählmedium. Diese Gesichtspunkte und Themen werden von anderen Arbeiten im Feld der Game Studies kontinuierlich als lästiger Medienund Öffentlichkeitsdiskurs ausgespart, oder wenn, dann nur außerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung, etwa in journalistischen Publikationen, kommentiert. Martin Hennig ist daher die Leistung zuzuschreiben, die aus dem öffentlichen Diskurs wohlbekannten Einwürfe konservativer Bewertungen des Videospiels in seiner Arbeit nicht nur beständig mitzudenken, sondern diese aus der Perspektive der Privatheitsforschung im Rahmen seiner wissenschaftlichen Analyse immer differenziert mit zu reflektieren und zu analysieren. Anliegen der Arbeit ist es dabei auch zu klären, „inwiefern Videospiele Tendenzen innerhalb des kulturellen Werte-, Normen- und Diskurssystems verarbeiten“ (S.19) und diese medial transformieren. Als kulturelle Leitdichotomien wählt Hennig hierfür „Öffentlichkeit vs. Privatheit“ und daran anschließende Ausdifferenzierungen (Individuum vs. Kollektiv, Autonomie vs. Heteronomie).
Die Studie besitzt dabei „explorativen Charakter“ (S.20) und widmet sich einem entsprechend weiten Feld bei der Wahl ihrer Analysegegenstände. So werden sowohl Online- als auch Offline- Spiele betrachtet, die knapp 150 ausgewählten und besprochenen sowie analysierten Computer- und Videospiele bilden ein dementsprechend vielfältiges Textkorpus und decken von den frühen Arcade Spielen über Ego-Shooter, Adventure und Rollenspiele bis hin zu Wirtschaftssimulationen die gesamte Breite des Videospielmarktes ab. Die Publikation bietet im ersten Teil die Erarbeitung von Grundlagen einer kultursemiotischen Fragestellung und Terminologie. Diese werden dann sowohl mit Grundlagen der strukturalen Textanalyse und Semiotik, als auch mit Kernbegriffen der Narratologie verknüpft. Auf dieser Basis entwickelt die Arbeit den Begriff der ‚Videospielsemiotik‘ (Kapitel 5) und zeigt die wichtigen Grundlagen einer medienwissenschaftlichen Erschließung des Gegenstandes auf. Dieses Kapitel 5 ist sprachlich, methodisch und strukturell so stringent, dass es nicht nur die Grundlage für alle kommenden Analysen darstellt, sondern sich als eigenständiger Teil der Arbeit auch problemlos als Grundlage und Standardwerk zur Einführung in die Computerspielanalyse für die Forschung und insbesondere als Grundlage für die wissenschaftliche Heranführung an das Thema in der Lehre genutzt werden könnte. Die bis hierher in den Kapiteln 1 bis 4 entwickelten Untersuchungskategorien und die in Kapitel 5 aufgeführten und präzise erfassten Analysewerkzeuge und Methoden kommen dann in den anschließenden Kapiteln 6 bis 9 zur unmittelbaren Anwendung und werden immer wieder gewinnbringend mit dem Erkenntnisinteresse der Privatheitsforschung kombiniert.
Die Zusammenführung dieser multiperspektivischen Dimensionen einer Beschäftigung mit dem Computerspiel machen die Vielfalt des Erkenntnisgewinns der Publikation aus, der man im Gegensatz zu zahlreichen anderen Arbeiten im Feld, keinerlei fachspezifische Eindimensionalität vorwerfen kann.
Bei dem vorgelegten Buch handelt es sich um eine innovative Fundgrube für an Computerspielen und ihrer Analyse interessierte Kultur- und Literaturwissenschaftler, aber auch für Lehrer und Laien eignen sich große Teile der Publikation. Besonders die konzisen Einführungen in die jeweiligen Grundlagenthemen der Computerspielanalyse stechen hierbei hervor, etwa wenn der Autor die kulturwissenschaftliche Spieleforschung und die Themenfelder ‚Ludologie vs. Narratologie‘ und den aktuellen Stand der Game Studies referiert (Kap. 2 ), oder die historische Entwicklung des Medienwandels und aktuelle formalästhetische Tendenzen kenntnisreich skizziert (Kap. 3.1 und 3.7).
English Abstract
Expanding Game Studies. A Holistic, Cultural-Semiotic Approach Towards Video Games
There is even more to Martin Hennig’s Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels than the title might suggest at first sight. The book not only offers a plethora of methods as well as analytical approaches towards video games from the perspective of semiotics and cultural studies, but it also works with approaches from narratology, structural text analysis, literary and media studies. Furthermore, it offers a comprehensive theory of privacy in order to analyze the video game within the variety of its narrative, ludological, and social functions.
Copyright 2019, MAREN CONRAD. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).