Subversives Zeichnen. Toni Hildebrandt über die Bedeutung der Zeichnung von Joseph Beuys bis Andy Warhol
Eine Rezension von Fabian Goppelsröder (fabian.goppelsroeder@gmail.com)
Freie Universität Berlin
Hildebrandt, Toni: Entwurf und Entgrenzung. Kontradispositive der Zeichnung 1955–1975, München: Fink 2017. 410 Seiten 79 EUR. ISBN: 978-3-7705-5961-9.
Abstract
In Zeiten einer alles erfassenden Digitalisierung scheint das Zeichnen mit Stift und Papier Relikt einer Welt von gestern. Selbst als künstlerische Praxis ist die analoge Zeichnung heute beinahe obsolet geworden. Dass Toni Hildebrandt in seinem Buch Entwurf und Entgrenzung. Kontradispositive der Zeichnung 1955–1975 sich auf einen mehr als vierzig Jahre zurückliegenden Ausschnitt der Kunstgeschichte konzentriert, ist da zunächst nicht weiter überraschend. Tatsächlich allerdings ist diese Studie nicht auf den historischen Fachbeitrag zu reduzieren. Entlang der Dekonstruktion des klassischen Dispositivs der Zeichnung bei Hartung, Morris, Dieter Roth oder Daniel Buren stellt er gerade auch die Frage nach den Möglichkeiten des Zeichnens heute.
Rezension
Hildebrandts Ausgangspunkt ist die zwischen Januar 1976 und Juni 1977 auf Tournée von New York bis Tel Aviv gehende Großausstellung „Drawing Now: 1955-1977“. Die Kuratorin Bernice Rose wollte die damals jüngsten künstlerischen Entwicklungen wie Konzeptkunst, Minimal Art und Performance „ausgehend von den zeichnerischen Arbeiten begreifen; sie von Zeichnungen her sichtbar und verständlich werden lassen“, wie Hildebrandt schreibt (S. 11). Ein Ansatz, der in Bezug auf das zeichnerische Werk von Joseph Beuys bis Andy Warhol mindestens zwei grundlegende Konsequenzen hatte: während die Zeichnung zum einen nicht einfach als Vorstudie des eigentlichen Werks missverstanden werden durfte, konnte sie zugleich auch nicht länger in die alte Kategorie der Meisterzeichnung eingeordnet werden. Roses Konzeption verlangte vielmehr „die Grenzen der Zeichnung und Horizonte ihrer Geschichte“ zu hinterfragen und neu zu bestimmen (S. 13). Es ist nicht zuletzt diese Herausforderung, die Hildebrandt auch für seine eigene Arbeit annimmt. Wie kann die Zeichnung zwischen ihrer Abwertung als schlichte Hilfstechnik und einer selektiven Aufwertung einzelner Meisterzeichnungen als medial eigenständige künstlerische Praxis verstanden werden? Und wo liegt dann ihre besondere kritische Qualität?
Als „Hauptaufgabe“ der Studie formuliert Hildebrandt somit „die wichtigsten Paradigmen und Kategorien einer Dekonstruktion der Zeichnung systematisch zu erschließen und sie als Befreiung oder Umbesetzung des zeichnerisch Möglichen zu begreifen.“ (S. 15). Eine Aufgabe, die in der Folge mit umfassender Detailkenntnis und souveräner Handhabung der Theorie angegangen wird. In einem ersten Teil werden in sechs Kapiteln unterschiedliche Perspektivierungen innerhalb der Reflexion auf die Kulturtechnik des Zeichnens nachvollzogen, pointiert und kritisch eingeordnet. Die von Plinius dem Älteren berichtete Geschichte des Butades wird dabei zur sich immer wieder aufdrängenden Urszene nicht allein des Zeichnens selbst, sondern auch seiner Theorie. Butades’ Tochter hatte den Schattenriss ihres Geliebten auf einer Wand in der Werkstatt ihres Vaters festgehalten und damit sowohl die Zeichen-Kunst erfunden als auch mit und durch diese das erste Tonrelief ermöglicht. Hildebrandt entfaltet nun Fragen wie die vom Verhältnis zwischen Linie und Fläche oder der Wichtigkeit von Hand, Geste und Spur aus Plinius’ Mythos, statt ihre Relevanz allein dem Kanon schon geführter Diskussionen zu entnehmen. Heraus kommt ein Verständnis der Zeichnung, das sie auch jenseits ihrer dezidierten Rahmung als eigenständiges Kunstwerk in ihrer unabhängigen Medialität als eine grundlegende Kunstform zeigt, welche zum Ziel einer künstlerischen Entgrenzung durch gerade jene Künstler wird, denen eben auch Bernice Rose nicht zufällig mit ihrer Ausstellung eine gemeinsame Plattform geboten hat. Statt hier aber Kritik oder gar Ikonoklasmus im üblichen Sinn am Werk zu sehen, will Hildebrandt der dekonstruktiven Zeichnerei von Hartung, Pollock, Morris oder Cage mit dem Begriff des „Kontradispositivs“ näher kommen. Mit ihm sollen die „Entgrenzungen der Zeichnung im Zeitraum von 1955 bis 1975“ (123) erfasst werden. „Als Kontradispositive – so die These – lässt sich die neoavantgardistische Zeichenpraxis über ihren experimentellen Charakter hinaus als Dekonstruktion(en) geschichtlicher Dispositive beschreiben.“ (123).
Vor diesem Hintergrund wird der zweite Teil der Studie zu einer Art Durchführung des im ersten Teil Entwickelten. Unter den Überschriften „Geste und Automatismus“, „Blindheit und Berührung“, „Händigkeit“, „Aleatorik“, „Linienräumlichkeit und Trägerextension“ sowie „Nominalismus und Aufhebung“ werden die Kontradispositive umrissen, entlang derer Hildebrandt die Besonderheit der Zeichnung in den von ihm betrachteten zwei Dekaden herauszuarbeiten sucht. Die Strategien, sich durch neue Techniken, Routinen oder aber Störungen und Hürden aus dem traditionellen Dispositiv zu befreien, es zu unterlaufen sind vom Tachismus bis zu LeWitts Minimalismus vielfältig. Doch schafft es Hildebrandt, die Unterschiede in seiner Analyse produktiv werden zu lassen. Die einzelnen Kapitel sind dabei als pointierte Einlassungen zu den jeweils ins Zentrum gerückten Künstlern auch eigenständig gut zu lesen. Tatsächlich ist die Dichte des Textes, das schnelle Hin und Her zwischen den als selbstverständlich und vertraut vorausgesetzten theoretischen Diskursen und der konkreten Analyse künstlerischer Praktiken in solch kleinen Portionen manchmal sogar besser zu verdauen. Die eigentliche These dieses Buches aber wird erst in der Zusammenschau deutlich: gerade die Geschichte der Zeichnung zwischen 1955 und 1975, die Dekonstruktion des zeichnerischen Dispositivs durch es fortführend unterlaufende Kontradispositive zeigt die „differenzielle[…] Spezifik“ (S. 278) der Zeichnung auch in Zeiten, in denen das Zeichnen von Hand auf Papier geradezu anachronistisch geworden ist. Nicht zufällig lässt Hildebrandt seine Reflexion mit zwei kurzen Kapiteln zu Rosalind Krauss und Walter Benjamin enden. Insbesondere letzterer hat immer wieder auf die Historizität von Wissen und die Medialität aller Erkenntnis hingewiesen. Wenn der erste Schattenriss in der Werkstatt des Butades nicht allein das Zeichnen, sondern auch dessen Theorie begründete, so sind die medialen Verschiebungen unserer Zeit, mit welchen das Medium der Handzeichnung geradezu obsolet zu werden scheint, doch die Voraussetzung, ihr eigentliches Potential überhaupt zu erkennen. Damit bekommt auch Hildebrandts Studie einen Index, der sie in ihrem Fokus auf eine (lang) vergangene Epoche in der Geschichte der Zeichnung als eine unserer Zeit ausweist.
English Abstract
Subversive Drawing. Toni Hildebrandt on the Importance of Drawing from Joseph Beuys to Andy Warhol
In times of all-encompassing digitalization, drawing with a pencil on paper seems to be a relict from a bygone world. Even as artistic practice it has become obsolete. Consequently, one could think, Toni Hildebrandt’s book Entwurf und Entgrenzung. Kontradispositive der Zeichnung 1955–1975 focuses on a chapter of art history lying more than forty years in the past. However, this study is not just a specialist contribution to a discussion led only by experts in the art movements in the 1960s and 70s. Alongside the deconstruction of the classical dispositif of drawing in the oeuvre of Hartung, Morris, Dieter Roth or Daniel Buren he points less at the historical than at the actual potential of drawing in our time.
Copyright 2018, FABIAN GOPPELSRÖDER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).