Und alles taumelt, tänzelt, stürzt. Fallen im interdisziplinären Dialog

 

Eine Rezension von Ruben Pfizenmaier (Ruben.Pfizenmaier@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Winfried Gerling, Fabian Goppelsröder: Was der Fall ist ... Prekäre Choreographien. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2017. 78 Seiten, 19,90 EUR. ISBN: 978-3-86599-355-7.

  

Abstract

Winfried Gerling und Fabian Goppelsröder betrachten in Was der Fall ist ... Prekäre Choreographien das Fallen und Stürzen – anhand von Gemälden und Fotografien, in Literatur und Philosophie, konkret und metaphorisch. Als erster Band der neu gegründeten Reihe „Zwiegespräche“ im Kulturverlag Kadmos versucht das Buch, inhaltlich wie formal und gestalterisch, ein interdisziplinärer Dialog zu sein. Verhandelt und reflektiert werden Kleist und Heidegger ebenso wie fotografische Aufnahmen aus Extremsport und avantgardistischer Kunst. Entstanden ist so: ein teils sprunghaftes, oft inspirierendes, aber stets durchdachtes und mitreißend komponiertes Essay aus zwei Stimmen.

 

 

Rezension

Ein Buch, das schon vor dem Lesen zeigt, was es ist: ein Gespräch. Der gesamte Fließtext von Was der Fall ist ... Prekäre Choreographien besteht aus zwei Kolumnen, die dem Zwiegespräch zwischen den beiden Autoren Winfried Gerling und Fabian Goppelsröder seine Form geben. Satz und Gestaltung sind durchdacht, das gesamte Buch hochwertig hergestellt, vom Papier bis zum durchgehend vierfarbigen Druck. Was die Form verspricht, löst der Inhalt ein: Hier wird nicht abgehandelt, nicht nach Lehrbuch erörtert. Die Phrasen der Wissenschaftsprosa, sie gibt es hier nicht.

 

Was der Fall ist ... ist der erste Band der unregelmäßig erscheinenden Reihe „Zwiegespräche“, die vom Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaften herausgegeben wird und im Kulturverlag Kadmos erscheint. Das gesamte Projekt will nichts weniger, als ein angemessenes Format für interdisziplinäres Denken und Forschen zu entwickeln, fokussiert jeweils auf einen Begriff, eine Frage oder ein Phänomen. Auf Höhe der Zeit und die Komplexität ihrer Gegenstände affirmierend. Ein Raum für intensive Auseinandersetzung, der Offenheit ermöglicht und Irritation zulässt, auch als Gegenmodell zu Produktivität und Effizienz, die die Forschung gegenwärtig bestimmen.

 

Ein ganzes Buch, das sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht dem Fallen widmet, setzt sich einem gewissen Erklärungsdruck aus. Entsprechend beginnen Gerling und Goppelsröder im Vorwort auf großer Bühne und mit Verweis auf den exemplarischen Fall des Abendlandes: den Sündenfall, Sturz des Menschen aus der Unschuld. Der Mensch ist Mensch, weil er stürzen kann. Eröffnet wird das Gespräch dann von Winfried Gerling, Professor für Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien in Potsdam, mit jener Fotografie, die auch das Cover des Buches zeigt: Der Air Force-Pilot Joseph Kittinger sprang am 16. August 1960 mit einem Fallschirm aus 31.300 Metern Höhe auf die Erde. Der Fall dauerte 4 Minuten und 36 Sekunden, die Maximalgeschwindigkeit lag bei 988 km/h. Wahrzunehmen war diese Geschwindigkeit jedoch kaum: mangelnder Luftwiderstand, fehlende perspektivische Referenz und keine Bezugsgrößen. Auf den Bildern scheint der Fallende zu schweben, ein Fall im Stillstand. Diesem Moment geht Gerling nach, eigentlich durch den Verlauf des gesamten Buches, zuerst aber in der Geschichte der Malerei, anhand von Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle, Phaeton und Ikarus in der Antike und mit Peter Paul Rubens Höllensturz der Verdammten, wo der Fall zum ersten Mal in seiner existentiellen Dramatik zur Darstellung kommt.

 

Hier übernimmt Fabian Goppelsröder, Philosoph und Literaturwissenschaftler, und lotet die Ambivalenz von Fall und Aufstieg, das Fallen als ständige Antithese zum Aufsteigen, aus. Jede Möglichkeit ist nur Möglichkeit, wenn sie auch die Gefahr des Scheiterns mit sich führt. „Nur mit der Schwerkraft lässt sich tanzen.“ (S. 17). Kleist folgt auf Wittgenstein, Blanchot auf Kleist und parallel zu den Gedanken Gerlings, deren Wegmarken Gemälde und Fotografien sind, spannt Goppelsröder ein Netz an Textverweisen. Bei Wittgenstein wird der Fall als „Stellung der Dinge zueinander“ (S. 18) in den Blick genommen und wird zur Grundlage eines ganzen Modus des Philosophierens; bei Kleist ist der Lesende Zeuge des Strauchelns und Stürzens der Protagonist_innen – Kunst, Erkenntnis und Religion werden einer unhintergehbaren Gravitation ausgesetzt. Kleist selbst zog Trost aus einem ganz eigentümlichen Bild, niedergeschrieben in einem Liebesbrief: Die Steine eines Gewölbes, die gerade an ihrem Platz bleiben, weil sie alle zugleich einstürzen wollen (vgl. S. 20).

 

Die Durchdringung von Leben und Tod im Fallen, ein weiteres großes Thema des Bandes. Zur Sprache kommt an dieser Stelle Barbie Zelizers Band About to Die, der nicht Fotografien des Todes, aber der Unausweichlichkeit des Todes im Fall versammelt. Mit diesen Fotografien ist ein Fixpunkt gefunden, der die Gedankengänge beider Gesprächspartner zusammenführt – und wieder entlässt. Von Anfang an laufen die Beiträge parallel und anstatt nur die Dynamik des gesprochenen Wortes visuell nachzubilden, gelingt hier etwas ganz anderes: wo der Verlauf des Gesprächs im Interview als klare Folge von Rede und Gegenrede abgebildet ist, umfließen sich hier die Einfälle und beschleunigen sich wechselseitig. Das gedruckte Wort, die Haltung des Lesens und die Möglichkeit des Fotodrucks werden gelungen zu etwas Neuem kombiniert. Lediglich das leider notwendige Zurückblättern-Müssen unterbricht hin und wieder den Lesefluss.

 

Nach knapp 40 Seiten: dieses Gespräch ist voller Ideen und Einfälle, die Assoziationen folgen dennoch so klar geordnet wie Perlen auf einer Schnur. Verweise und Referenzen sind kein Selbstzweck, mehr Sprossen einer Leiter als Treibstoff oder Schmiermittel. Fäden beginnen und enden, Gedankengänge werden begleitet und wieder losgelassen, ohne dass je die grundlegende Bewegung unterbrochen würde.

 

Botho Strauss und Yves Klein, Chronofotografie und Wingsuits werden noch folgen, bis dann das Gespräch mit einer scharfsinnigen Zeitdiagnose einen Abschluss findet. Die GoPro, eine robuste, kleine Kamera, die direkt und oft mehrfach am Körper getragen wird, bevorzugt von Extremsportler_innen wie bspw. Fallschirmspringenden, löst die Differenz von Apparat und Körper auf und bringt das fotografische Off letztlich zum Verschwinden. Und speist diese Bilder direkt in die sozialen Netzwerke ein. Wo Gerling die technischen Implikationen erläutert und medienwissenschaftlich ausfaltet, analysiert Goppelsröder hier eine „Demokratisierung des Rechts auf Selbstverwirklichung“ (S. 64), die zugleich ein „Kampf um Aufmerksamkeit“ (S. 64) und eine Verdeckung des Fallen-Könnens des Menschen ist: Der Mensch als Meister der Gefahr und (damit wieder) Zentrum der Welt. „Nirgends wird das deutlicher als in jenen Filmen, in denen sich der Fallende über eine auf ihn gerichtete Helmkamera selbst aufnimmt. Der Eindruck, dass nicht er, sondern alles um ihn herum im Fallen ist, scheint emblematisch für das Weltbild einer Zeit, in der das Selfie Wirklichkeit konstituiert.“ (S. 65).

 

Wie bei jeden guten Gespräch sind am Ende mehr Fragen offen als zu Beginn. Dieses Buch ist mehr als nur die Summe zweier Positionen. Und an manchen Stellen mag sich der Lesende fragen, wie um alles in der Welt er hier landen konnte – seien es die Abgüsse der Toten von Pompeji oder die Diskussion eines längeren Heidegger-Zitats. Aber Gerling und Goppelsröder sind aufmerksame Gesprächsführer: Hier taucht alles wieder auf, wird vernetzt und verortet. Der Band zeigt, wie die Perspektiven zweier Disziplinen zusammenfinden und sich gegenseitig befruchten können. Details werden hervorgehoben und Kulturdiagnosen anskizziert – die Schwebe, in der vieles dabei bleibt, ist keine Substanzlosigkeit, sondern Offenheit und Entfaltungsraum; die Sprünge der Gedanken erhöhen die Dynamik, anstatt Brüche zu erzeugen. Es bleibt der Eindruck: dieses Experiment ist gelungen. Inwiefern mit der Reihe „Zwiegespräche“ ein neues Format für interdisziplinäre Forschung in den Kulturwissenschaften per se gefunden wurde, werden die folgenden Bände der Reihe zeigen.

 

 

English Abstract

Falling, Dropping, Plunging. An Interdisciplinary Dialog

In Was der Fall ist ... Prekäre Choreographien, Winfried Gerling and Fabian Goppelsröder investigate falling and plunging – in reference to paintings and photographs, literature and philosophy, specifically and figuratively. As the first issue of the newly founded series “Zwiegespräche”, published by Kulturverlag Kadmos, it attempts to create an interdisciplinary dialog, contentual as well as formal and in its material appearance. Debated and reflected are Kleist and Heidegger, photographic documentations of extreme sport and avant-garde works of art. What finally emerges is a sometimes disjointed, often inspiring but always elaborate and stirringly composed essay of two voices.

 

 

Copyright 2018, RUBEN PFIZENMAIER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).