Kulturalisierung und Popularisierung von Geschlecht
A Review by Katharina Wolf (Katharina.Wolf@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Langenohl, Andreas und Anna Schober (Hg.): Metamorphosen von Kultur und Geschlecht. Genealogien, Praktiken, Imaginationen. Paderborn: Fink, 2016. 262 Seiten, 32,90 EUR. ISBN 978-3-7705-5802-5.
Abstract
Der Sammelband Metamorphosen von Kultur und Geschlecht, herausgegeben von Andreas Langenohl und Anna Schober, nimmt Inszenierungen von Geschlecht in Politik, Wissenschaft, bildender Kunst und Populärkultur in den Blick. Gezeigt wird, wie Geschlechterdifferenz in wissenschaftlichen, politischen und künstlerisch-ästhetischen Kontexten ‚als Kultur‘ öffentlich problematisiert, aber auch zelebriert wird und wie sich diese Prozesse im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts veränderten. Anhand von Untersuchungen zu Genealogien, Praktiken sowie Imaginationen von Geschlecht werden verschiedene Prozesse der Bedeutungsschaffung als miteinander verschränkt betrachtet und vor dem Hintergrund kategorialer Grenzziehungen kritisch diskutiert. Die vielfältigen, disziplinübergreifenden Analysegegenstände und -methoden machen die Lektüre dabei besonders gewinnbringend und rücken die Schnittstelle zwischen wissenschaftstheoretischen Diskursen und politischer wie ästhetischer Praxis von Geschlecht in den Vordergrund.
Review
Ähnlich wie in Ovids mythologischer Darstellung der Weltentstehung lässt sich auch die Entwicklung der sozialen Kategorie Geschlecht in Form von Metamorphosen beschreiben. Der vorliegende Band nimmt unterschiedliche Dimensionen öffentlicher Thematisierung von Geschlecht und deren Wandlungsprozesse in den Blick: Aus interdisziplinärer Perspektive wird eine große Bandbreite an Konzepten von Geschlecht in Politik, Wissenschaft und ästhetischen Repräsentationen des 20. und 21. Jahrhunderts analysiert und diskutiert. An diesem weiträumig angelegten Untersuchungsfeld wird deutlich, dass der Konstruktionscharakter von Geschlecht Bestandteil breiter gesellschaftlicher Praktiken geworden ist.
Die Beiträge beruhen zum Großteil auf Ergebnissen der Tagung Geschlecht als kulturelle Handlung. Genealogien, Praktiken und Imaginationen, die am 12. und 13. Oktober 2012 in Gießen stattfand. Dem Untertitel entsprechend widmen sich drei Sektionen genealogischen Analysen, Praktiken sowie Imaginationen von Geschlecht ‚als Kultur(en)‘: Politische und wissenschaftliche Debatten um Geschlecht, Interventionen durch Institutionen und Individuen sowie Inszenierungen von Geschlecht in Kunst und Populärkultur stellen die Forschungsgegenstände dar. Geschlecht wird dabei als Kultur verstanden, die Bilder und Bezugsgefüge für Prozesse der Identifikation, der Bezugnahme und der politischen Einmischung bietet (S. 7, 13).
Im Vorfeld rekapitulieren die Herausgeber_innen Anna Schober und Andreas Langenohl historische Traditionslinien und Umbrüche kulturbezogener Figurationen von Geschlecht mit ihren politisch-ideologischen Ausrichtungen. Zwei grundlegende Verschiebungen in der Diskussion um Geschlechterdifferenz im öffentlichen Raum werden hierbei betont: Zum einen die Transformation der Kategorie ‚Frau(en)‘ hin zu ‚Geschlecht‘ (bzw. Gender) seit den 1980er Jahren; zum anderen die Ende der 1990er stattgefundene Überführung des ursprünglich feministisch und entwicklungspolitisch geprägten Konzepts ‚Gender Mainstreaming‘ in dessen politische Institutionalisierung als strategische Herstellung von Egalität (u.a. bezüglich Gehalt, Bildungszugang oder Rechten). Ambivalenzen von Geschlecht führt der Beitrag auf eine generell inhärente Unbestimmtheit von Kultur zurück: Kultur, verstanden als ein unscharf abgegrenzter Rahmen von Zuschreibungs- und Differenzwahrnehmungen, biete einen Spielraum, der häufig politisch genutzt werde – in Form von Kritik und Zurückweisung, aber auch als Bestätigung oder Zelebrierung des Gegebenen. Gerade Geschlecht sei seit den späten 1960er Jahren zu einer entscheidenden kulturellen Kategorie sowohl zur öffentlichen Austragung von Konflikten als auch zur Herstellung von Gemeinschaften geworden (S. 8-14).
Auf die einführenden Überlegungen folgen in der ersten Sektion genealogisch argumentierende Beiträge, die Betonungen der Hybridität und Konstruierbarkeit von kultureller Identität mit Verhandlungen von Geschlecht zusammenbringen. Gabriele Dietze nimmt Debatten um Intersektionalität und die kulturell bedingte Konstruktion von Geschlecht zum Ausgangspunkt und weist darauf hin, dass Konzepte von Geschlecht eine entscheidende Rolle in rassistischen Diskursen einnehmen (S. 56 f.). Sie problematisiert die hieraus resultierende „positive Kulturalisierung der europäischen Geschlechterverhältnisse als aufklärungsgesättigte Emanzipation“ (S. 63) in Abgrenzung von ‚orientalischen‘ patriarchalen Geschlechterregimen.
Das komplexe Zusammenspiel von Geschlecht mit weiteren sozialen Kategorien wird auch in der zweiten Sektion der Praktiken deutlich. Die Soziologin Andrea Doucet analysiert, wie wirkmächtig geschlechtliche Ordnungsvorstellungen Praktiken der Sorge in kanadischen und US-amerikanischen Haushalten strukturieren. Männer, die primär die Betreuung ihrer Kinder übernehmen und ein von hegemonialen Annahmen abweichendes, ‚alternatives‘ Familienmodell repräsentieren, erlebten eine starke Erwartungshaltung vonseiten der Öffentlichkeit, das ‚Funktionieren‘ ihrer Familie unter Beweis stellen zu müssen. Konstruktionen von Geschlecht wirken handlungsleitend, werden dabei aber auch an andere Sinnstrukturen angepasst. So nimmt der Beitrag von Encarnación Gutiérrez Rodríguez ebenfalls im Kontext ‚reproduktiver Arbeit‘ Verschränkungen europäischer Migrationsregime mit der Feminisierung von Fürsorge-, Haushalts- und Erziehungsarbeit in den Blick. Vor dem Hintergrund der EU-Finanzkrise und sozialstaatlichen Abbauprozessen weist sie auf eine zunehmende Abwertung und Privatisierung weiblich kodierter Arbeit bei gleichzeitiger Delegierung dieser Arbeit an migrierte Frauen hin. Die Soziologin plädiert daher für eine „historisch, geografisch und politisch kontextualisierte[ ] Betrachtungsweise“ (S. 148) von Prozessen der Feminisierung.
Die dritte Sektion eröffnet Perspektiven auf ‚Geschlechterkultur(en)‘ in ihren öffentlichen ästhetischen Repräsentationen und deren Prozesse der Bedeutungsherstellung. Geschlecht wird hier im Kontext visueller Populärkultur bzw. Kunst betrachtet und als Reservoir an Bildern, Themen und Mythen interpretiert, auf das sich öffentliche Debatten und Figurationen von Geschlecht beziehen. Umgekehrt wird veranschaulicht, wie wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse in ästhetische Praktiken überführt und dort problematisiert oder zelebriert werden (S. 26). Die Kulturwissenschaftlerin Bettina Papenburg leitet aus der filmischen Inszenierung gentechnologischer Experimente Imaginationen über weiblich kodierte, hybride Körper und Verhaltensweisen ab. Sowohl auf der Figuren- als auch auf der Zuschauer_innenebene seien Gefühle der Angst und des Ekels, aber auch der Faszination und Erotik an die Nichteindeutigkeit von Geschlecht gekoppelt. Letztlich transportiere der Film den Subtext, „dass ein ‚einfaches Menschsein‘ im Sinne eines Lebens außerhalb von Geschlechterkategorien unmöglich ist“ (S. 239).
Der Sammelband handelt über interdisziplinäre Zugänge die Verwobenheit der beiden Begriffe Kultur und Geschlecht neu aus. Die Autor_innen legen nicht nur überzeugend dar, wie Konzepte von Geschlecht in Debatten um Identität, Sexualität bzw. Familie zur Geltung kommen und politische Gestaltungsräume wirkmächtig beeinflussen; darüber hinaus situieren sie den Konstruktionscharakter der Kategorie Geschlecht selbst in politischen Kontexten. Anhand produktiver Perspektivverschiebungen auf die Kategorie Geschlecht in ihrem kulturellen Zusammenhang wird veranschaulicht, dass Inszenierungen sowie theoretische Konzepte von Geschlecht stetigen Metamorphosen unterworfen sind. Der Band eröffnet damit gerade Wissenschaftler_innen eine vertiefende Lektüre, die sich für Imaginationen und Repräsentationen von Geschlecht an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft, politischer sowie ästhetischer Praxis interessieren.
English Abstract
On Culturalization and Popularization of Gender
The volume Metamorphosen von Kultur und Geschlecht, edited by Andreas Langenohl and Anna Schober, focuses on performances of gender in politics, science, fine arts, and popular culture. Through several recent examples, it shows how gender differences are publicly problematized as well as celebrated within social, political, and artistic-aesthetic contexts and how these processes changed in the 20th and 21th centuries. Drawing from studies on genealogies, practices, and the imagining of gender, different processes of meaning production are observed in their entanglement and critically discussed in the context of categorical demarcations. The various cross-disciplinary methods and objects of analysis make the reading of this volume particularly rewarding and highlight the intersections between discourses on the theory of science and political as well as aesthetic practices of gender.
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