Eine kritische Wissensgeschichte der umkämpften deutsch-deutschen Kolonialgeschichtsschreibung zum Genozid in Namibia

 

Eine Rezension von Kaya de Wolff (kaya.de-wolff@uni-tuebingen.de)

Universität Tübingen

 

Bürger, Christiane: Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD. Bielefeld: transcript, 2017. 320 Seiten, 39,99 Euro. ISBN: 978-3-8376-3768-7.

  

Abstract

Auf welche Weisen haben sich Historiker*innen im geteilten Deutschland mit dem kolonialen Namibia beschäftigt? Wie hat sich das Wissen um die Kolonialzeit und den Genozid in Namibia gewandelt? Welche Kontinuitäten zeigen sich in der Geschichtsschreibung der DDR und BRD mit Blick auf (post-)koloniale Wissensformationen? Diesen Fragen geht Christiane Bürger in Deutsche Kolonialgeschichte(n) nach. Darin rekonstruiert sie eine bewegte Geschichte der umkämpften Kolonialhistoriografie nach dem Zweiten Weltkrieg, in deren Mittelpunkt (Um-)Deutungen des deutschen Genozids an den Herero und Nama (1904 bis 1908) stehen. Auf der Grundlage verschiedenartiger Texte und Medien analysiert sie akademische und populäre Wissenstraditionen, die über Disziplinen-, Epochen- und Staatengrenzen hinaus in DDR und BRD zirkulierten.

 

 

Rezension

Die Geschichtsschreibung zum kolonialen Namibia weist selbst eine bewegte Geschichte auf, insbesondere Deutungen des deutschen Genozids an den Herero und Nama (1904 bis 1908) waren stets umkämpft. Dennoch fehle bisher eine systematische Auseinandersetzung mit der Kolonialhistoriografie und Rezeptionsgeschichte, so Christiane Bürger (S. 10/11). Diese Forschungslücke soll ihre vorliegende Untersuchung schließen und damit dazu beitragen, „die gegenwärtigen Forschungsdebatten inhaltlich und wissensgeschichtlich zu historisieren, gegebenenfalls neu zu bewerten und einen kritischen Beitrag zur Verortung des eigenen Faches zu leisten.“ (S. 11) Konkret geht es Bürger darum, „wissensgeschichtliche Veränderungen und Kontinuitäten in der historiografischen Beschäftigung mit dem kolonialen Namibia aufzuzeigen und sie auf ihre Verschränkung mit politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu befragen.“ (S. 12) Mit ihrem Buch will Bürger freilich keine Gesamtdarstellung leisten, sondern exemplarisch Brüche, Kontinuitäten und Leerstellen in der Historiografie des kolonialen Namibias aufzeigen (S. 16).

 

Zunächst setzt sich Bürger in „Kapitel II. Kolonialgeschichte(n) schreiben nach 1945“ mit der These der (post-)kolonialen „Amnesie“ (S. 47f.) auseinander. Sie weist aus, dass in der Nachkriegszeit ein paralleler Diskurs der „imperialen Nostalgie“ (S. 47f.) populär gewesen ist und durchaus ein geschichtswissenschaftliches Interesse an dem deutschen Kolonialismus bestand; allerdings wurden diese Arbeiten im ersten Nachkriegsjahrzehnt noch nicht sichtbar, sodass tatsächlich „eine Leerstelle innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft“ entstanden sei (S. 49). Wie Bürger am Beispiel zweier zentraler Autoren, – dem Linguisten und Ethnologen Diedrich Westermann und dem ehemaligen stellvertretenen Gouverneur des kolonialen Namibias, Oskar Hintrager –, zeigt, profitierten vor allem „ältere, männliche Autoren, die ihre Karrieren nach 1949 fortsetzten“ und ihre kolonialistischen Positionen in Wissenschaft und Populärkultur in der DDR und der BRD verbreiten konnten, von „der verzögerten geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung“ (S. 49).

 

In „Kapitel III“ und „Kapitel IV“ widmet sich Bürger Erzähl- und Wissenstransformationen in den beiden deutschen Staaten und zeigt, dass in der DDR bereits in den ersten Nachkriegsjahrzehnten eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des kolonialen Namibia stattfand, die zugleich identitätsbildenden Charakter hatte. Wie sie betont, blieb das in dieser Zeit entworfene Narrativ – welches maßgeblich von dem Historiker Horst Drechsler geprägt war, dem ‚Begründer‘ der These vom kolonialen Genozid in Namibia – bis zum Ende der DDR wirkmächtig (S. 97). Im Gegensatz zur staatlich organisierten sozialistischen Geschichtsschreibung in der DDR, beschreibt Bürger die Debatten in der BRD, – wo eine kritische Aufarbeitung aufgrund der politischen Rahmenbedingungen erst verzögert einsetzte – als sehr heterogen und offen. Als Anstoß für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung nennt sie Ralph Giordanos kontrovers diskutierten Dokumentarfilm Heia Safari von 1966; dieser konfrontierte erstmals ein (westdeutsches) Massenpublikum mit der deutschen Kolonialvergangenheit und beförderte eine verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung. Dass Kolonialgeschichte bis weit in die 1970er Jahre brisant blieb, wird mit Blick auf die Kontroversen und Hierarchiekämpfe an der Universität Hamburg deutlich, die sich hier im Kreis um den Historiker Fritz Fischer und den damaligen Doktoranden Helmut Bley zuspitzten.

 

Mit Blick auf die publizistischen Aktivitäten in den 1980er Jahren, stellt Bürger heraus, dass die gesellschaftliche Debatte entscheidend durch Uwe Timms erfolgreichen Roman Morenga (1978) geprägt war, der als eine „geschichtspolitische Intervention“ (S. 235) verstanden werden kann und 1985 mit ebenfalls großem Erfolg verfilmt wurde.

 

In ihren – leider vergleichsweise kurzen – Ausführungen zur „Genderperspektive“ (S. 235ff.) verweist Bürger auf ein wichtiges und bisher unterbeleuchtetes Problemfeld der Geschichtsschreibung, die das koloniale Namibia in erster Linie als „Handlungsraum männlicher Akteure“ (S. 237) darstellt. Das Beispiel von Martha Marmozais Publikation Herrenmenschen (1982) demonstriert, wie weibliche Erfahrungen und Autorinnen in dem männlich dominierten Forschungsfeld marginalisiert wurden. Als Manifestation eines „normativen Wissens“ betrachtet Bürger dagegen etwa Horst Gründers Geschichte der Kolonien (S. 241ff.), ein Referenzwerk, in dem der Genozid im kolonialen Namibia zumindest relativiert werde. An diesem Beispiel und in weiteren hier angeführten (populärwissenschaftlichen) Publikationen wie z.B. Walter Nuhns Sturm über Südwest (1989) weist Bürger aus, inwiefern kolonialapologetische Wissenskulturen auch über die Zeitzeug*innengeneration hinaus wirkmächtig blieben.

 

In dieser Hinsicht ist das Buch von großer Aktualität, insbesondere aufgrund des bis in die Gegenwart hin umkämpften erinnerungspolitischen Umgangs der Bundesregierung mit dem Genozid sowie neuerlichen öffentlichen und medialen Kontroversen. In ihren Analysen beleuchtet Bürger verschiedenartige Momente und Arenen geschichtspolitischer Deutungskämpfe, wertet erhellende, zum Teil neue Quellen aus und legt überzeugend dar, inwiefern die Durchsetzung historiografischen Wissens stets im Zusammenhang mit jeweiligen gesellschaftspolitischen Prozessen zu sehen gewesen und somit kontinuierlich kritisch zu befragen ist. Besonders eindrücklich ist der Blick auf die Biografien der vielen Autor*innen, die nicht selten kolonial und/oder nationalsozialistisch vorbelastet waren und nur aufgrund des Fachkräftemangels der Nachkriegszeit ihre Karrieren in BRD und DDR fortsetzen konnten.

 

Wenn auch einige historische Ungenauigkeiten nicht von der Hand zu weisen sind (vgl. hierzu die Rezension von Reinhart Kößler in der Peripherie Nr. 146/147), leistet die Untersuchung einen wichtigen Forschungsbeitrag in Richtung einer Dekolonialisierung von Wissenskulturen, die es disziplinübergreifend weiter voranzutreiben gilt.

 

 

German Abstract

A Critical History of Knowledge – Contested German-German Colonial Historiographies and the Genocide in Namibia

In what ways have historians in both German states dealt with the history of colonial Namibia? Which continuities become evident within the historiographies of the GDR and the FRG, specifically regarding (post-)colonial epistemologies? These questions are addressed by Christiane Bürger in Deutsche Kolonialgeschichte(n), in which she reconstructs the dynamic and challenging history of the colonial historiography after the Second World War. Her focus is on the various and varying interpretations of imperial Germany’s colonial genocide com-mitted against the Herero and Nama (1904 to 1908). Based on an analysis of diverse texts and media she shows how academic and popular traditions of knowledge have circulated and transformed across disciplinary, epochal, and national borders.

 

 

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