Die Spuren der „Menschenregierungskünste“
Eine Rezension von Dominique Autschbach (dominique.autschbach@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Bröckling, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp, 2017. 425 Seiten, 20 EUR. ISBN: 978-3-518-29817-6.
Abstract
In seinem neuen Buch Gute Hirten führen sanft versammelt Ulrich Bröckling sowohl theoretisch als auch empirisch orientierte Aufsätze. Zuerst werden Vorannahmen eines von Michel Foucaults Werk inspirierten Forschungsprogrammes aufgezeigt, dann wird die Produktivität dieses Ansatzes anhand von Einzelstudien exemplifiziert und schlussendlich wird eine Verortung von Kritik, Gegen-Verhalten und Soziologie angeboten. Ein wiederkehrendes Thema dieser Essays ist das Aufkommen subtiler, konsensorientierter Formen der Regierung und der Herrschaftseffekte, die diese zeitigen.
Rezension
Prävention, Resilienz, Mediation, Nudging, Feedback, Burnout und Humankapital sind allesamt Dispositive, gleichermaßen diskursive Ereignisse und Knotenpunkte alltäglicher Praktiken und Deutungen, und damit Objekte der von Ulrich Bröckling vorgeschlagenen „Soziologie der Menschenregierungskünste“ (S. 7). In seiner Aufsatzsammlung, hauptsächlich einer Werkschau bereits publizierter und nun in überarbeiteter Neufassung vorgelegter Texte, zeigt Bröckling die Stärken einer von Michel Foucaults Werk inspirierten Sozialforschung auf. Die Aufsätze kreisen um das gemeinsame Thema einer „sanften“ Form der Fremd- und Selbstkontrolle (S. 9), d.h. Rationalitäten, Technologien und Subjektivierungsweisen, die weniger auf Verbot und Repression als auf Konsens und Teilhabe fußen. Im ersten von drei Abschnitten werden generelle theoretische Zugänge seines Ansatzes in zwei Artikeln ausgeführt. Das Zentrum des Bandes bilden dann diskursanalytische Einzelstudien zu den unterschiedlichen Dispositiven. Diese sind meist um einen Begriff versammelt: Während in einigen Artikeln diese Begriffe an ihre wissenschaftlichen Entstehungszusammenhänge rückgebunden werden, wie beispielsweise im Beitrag zu Feedback, wird in anderen eher lose der Metaphorik des Burnout-Syndroms oder der „Semantik des Wettkampfs“ (S. 245) gefolgt. Konsequent arbeitet Bröckling dabei Transformationen und Kontinuitäten heraus. So ergänzt er Foucaults Ideen zum Liberalismus im Aufsatz zu Nudging um eine Dimension des „libertären Paternalismus“ (S. 189), der Möglichkeitsräume abzustecken sucht. Im Text zu Kontraktpädagogik hingegen verweist Bröckling darauf, dass sich sowohl klassisch-liberale als auch gegenwärtige pädagogische Entwürfe an ein „kontraktualistisches Subjekt“ (S. 240) richteten: Als Produkt von Befehlen und Verboten einerseits und als kompetente, verbalisierungsfähige und selbstreflektierte Partner andererseits. Abgerundet wird der Band durch vier Artikel, die sich mit einer Verhältnisbestimmung von Soziologie und Kritik befassen und Formen des „Gegen-Verhaltens“ (S. 10) in den Blick nehmen.
Im titelgebenden Aufsatz „Von Hirten, Herden und dem Gott Pan.“ untersucht Bröckling drei Metaphernfelder: Zuerst wendet er sich Foucaults Überlegungen zur Pastoralmacht zu. Diese im Christentum generalisierte Regierungsform versammle den Menschen – im Singular wie im Plural – unter dem sorgenden und wohltätigen Schutz des Hirten und habe deshalb den Gehorsam des Schafsmenschen zum zentralen Problem. Foucaults Analyse mache nun, so Bröckling, zwar die klare Trennung zwischen Führenden und Folgenden sichtbar, dabei würden Regierte aber zum „Effekt des Regierens“ (S. 26) reduziert. Anders sei dies bei Nietzsches Kulturkritik der Herdenmoral des modernen Menschen, dem zweiten Metaphernfeld. Hier sei der Hirte lediglich die Projektionsfläche der Wünsche eines sozial verformten Selbst. Abseits seiner abstrusen Vorstellung vom Übermenschen helfe Nietzsche somit die Internalisierung von Führungsbedürftigkeit aufzuzeigen, die auch “egalitärer Selbstorganisation“ (S. 33) innewohne. Im dritten Metaphernfeld, dem des Hirtengottes Pan, findet Bröckling nun eine Thematisierung der „Grenzen der Regierbarkeit“ (S. 35). Als Namengeber der Panik verweise der Gott auf die doppelte Problematisierung der unkontrollierbaren Masse und der darin begründeten Unabsehbarkeit der Konsequenzen des regierenden Eingriffes.
Der Aufsatz zu Prävention ist zwar dem Oberkapitel zu Dispositiven zugeordnet, nimmt aber eine Scharnierfunktion ein, da hier bereits die Artikel zu Planung und Resilienz angedeutet werden. Bröckling argumentiert, die Logik der Vorbeugung sei die grundlegende Form der Zukunftsbearbeitung in der Gegenwart und habe „fraglose Plausibilität“ (S. 74). Die Fortschrittseuphorie der 1970er sei dabei durch einen „aktivistischen Negativismus“ (S. 75) ersetzt worden: „Prävention will nichts schaffen, sie will verhindern.“ (S. 77) Nicht jedes zweckrationale Handeln sei nun auch Prävention; diese sei vielmehr ein spezifisches „Rationalitätsschema“ (S. 86), welches sich aus dem neuzeitlichen Umgang mit Kontingenzerfahrungen speise. Prävention weise operative Überschneidungen mit Handlungsschemata wie Behandlung, Planung oder Versicherung auf und somit bestünden „Deutungskämpfe“ (S. 94-95) darüber, ob eine spezifische Intervention zur Prävention erklärt werden könne. Abschließend wendet sich Bröckling den „Vorbeugungsregimen“ (S. 96) Hygiene, Immunisierung und Precaution zu, die lose an historische Epochen gekoppelt seien.
Wenn verstreute „Grammatiken der Selbst- und Fremdführung“ (S. 8) – hier ist der Plural relevant – verfolgt werden, bleiben wohl notwendigerweise offene Enden übrig. So ist beispielsweise nicht ganz schlüssig, weshalb Hirte und Herde zur zentralen Metaphorisierung von Führung erklärt werden, wenn, wie Bröckling ja selbst feststellt, in den anderen Aufsätzen mit der Kybernetik immer wieder die Figur des Steuermanns aufkommt. Auch blieb es unklar, wie Resilienz gleichzeitig Teil des immunologischen Präventionsregimes und dessen Alternative sein kann (S. 115). Hier wäre wohl eine Überlegung zum Verhältnis der Dispositive zueinander hilfreich gewesen. Schlussendlich hätte der ‚lesende Schafskopf’ einer einführenden Erklärung darüber bedurft, wie Kreativität in den Absatz zur Kritik hat wandern können. Bröckling tut hingegen gut daran, immer wieder aufzuzeigen, dass die sanfte Form der Regierung nur eine Art des gegenwärtigen Zugriffs auf Selbst und Andere ist und nicht zur generellen Leitformel der Gesellschaftsanalyse gereicht. Somit wird der Gleichzeitigkeit sorgender und strafender Formen des Eingreifens Rechnung getragen. Aufgrund dieser Weitsicht, der Bandbreite der bearbeiteten Themen, der enormen Quellenlage der Beiträge und des formidablen Schreibstils kann dieses Buch nur empfohlen werden.
English Abstract
Traces of the Art of Governing People
In his new book Gute Hirten führen sanft, Ulrich Bröckling assembles theoretically as well as empirically oriented essays. The collected works firstly point out the premises of a research program inspired by the work of Michel Foucault; secondly, they exemplify this agenda through several individual studies treating empirical subjects; finally, they offer insights into the relationship of critique, counter-action, and sociology. The recurring theme of these essays is the rise of a subtle, consensus-oriented form of government and the effects of domination it bears.
Copyright 2018, DOMINIQUE AUTSCHBACH. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).