Von der Frage nach der Masterkategorie – Potential und Fallstricke bei der empirischen Analyse von Intersektionalität
Eine Rezension von Teresa Streiß (Teresa.Streiss@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Bereswill, Mechthild; Degenring, Folkert und Sabine Stange (Hg.): Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015. 232 Seiten, 24,90 EUR. ISBN: 978-3-89691-243-5.
Abstract
Der Sammelband Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen, herausgegeben von Mechthild Bereswill, Folkert Degenring und Sabine Stange, widmet sich den Möglichkeiten der forschungspraktischen Umsetzung des Intersektionalitätskonzepts und lotet dabei Potentiale sowie Grenzen aus. Die Beiträge stammen aus verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen und stellen individuelle empirische Forschungsprojekte vor. Gleichzeitig reflektieren sie jeweils ihr methodologisches Vorgehen in der Analyse von sich überkreuzenden Ungleichheitsverhältnissen.
Rezension
Kaum ein Begriff prägt die Geschlechterforschung der letzten Jahrzehnte so stark wie die Metapher der Straßenkreuzung – intersection – zur Verbildlichung sich überkreuzender Diskriminierungsmechanismen. Trotz umfangreicher theoretischer und begrifflicher Debatten stellt die Umsetzung des Intersektionalitätskonzepts in konkrete empirische Forschung nach wie vor eine große Herausforderung dar. An dieser Stelle setzt der von Mechthild Bereswill, Folkert Degenring und Sabine Stange herausgegebene Sammelband Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen an. Der interdisziplinär angelegte Band versammelt zehn Beiträge, die jeweils sowohl empirische Forschungsergebnisse vorstellen, als auch auf Ebene der Theoriebildung sowie in der methodologisch-methodischen Umsetzung die Anwendbarkeit und die Implikationen von „Intersektionalität“ als Analyseansatz reflektieren. Entstehungskontext des Bands ist eine Vortragsreihe im Wintersemester 2012/13 an der Universität Kassel, der Band enthält Beiträge von Mitgliedern aus den dortigen Forschungsschwerpunkten ‚Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis’ sowie ‚Normalität und Ordnung – Interdisziplinäre Perspektiven auf Geschlecht’. Die disziplinäre Breite reicht von den Rechts- und Geschichtswissenschaften über Literatur- und Kulturwissenschaften bis zu sozial- und politikwissenschaftlichen Beiträgen. Gerahmt werden die Beiträge durch ein in die Debatten um „Intersektionalität“ einführendes Vorwort der Herausgeber*innen sowie ein Resümee von Mechthild Bereswill, die die vorgestellten Herangehensweisen systematisierend zusammenfasst.
Der Band zeigt anschaulich, wie unterschiedlich ein theoretisches Konzept interpretiert und genutzt werden kann. Als ein Pol lässt sich dabei ein eng auf explizit politisches Handeln bezogener Intersektionalitätsbegriff ausmachen, wie er etwa im Beitrag von Birte Siim angewendet wird. Der Beitrag präsentiert zwei Fallstudien um nachzuvollziehen, wie politische Akteur*innen die Überkreuzung von geschlechtlicher und ethnischer Diversität artikulieren („ [...] how political actors articulate the intersection of gender and ethnic diversity“, S. 193). Dem gegenüber steht etwa der Beitrag von Elisabeth Tuider, die in ihrer Untersuchung von Migrations- beziehungsweise Grenzregimen herausarbeitet, wie eine intersektional informierte diskursanalytische Untersuchung soziale Kategorien dekonstruieren und Uneindeutigkeiten sowie Nicht-Sagbares herausarbeiten kann.
Hier wird bereits deutlich, dass der Umgang mit Kategorien bei Überlegungen zu Intersektionalität im Vordergrund steht; die Frage nach der Kategorienbildung durchzieht entsprechend den gesamten Band. Die versammelten Beiträge changieren zwischen induktiven Ansätzen wie dem von Mareike Böth, die in ihrer Analyse frühneuzeitlicher Selbstbildungsprozesse ihre Kategorien offen aus der Lektüre von Briefen Liselottes von der Pfalz entwickelt; demgegenüber steht beispielsweise der Aufsatz von Nicole Maruo-Schröder, die in der Analyse von afroamerikanischen Sklavenerzählungen die Kategorien gender und race als Untersuchungsfokus an literarische Texte anlegt – dadurch jedoch die Bedeutung von ‚Raum’ als dritter Kategorie erst herausarbeiten kann. Insbesondere die geschichtswissenschaftlichen Beiträge machen hierbei die Bedeutung einer Historisierung und Kontextualisierung der Kategorien deutlich, wie es etwa Christian Koller in seinem Beitrag zum Spannungsverhältnis von Quellen und Kategorien formuliert: „Die Frage, ob die Kategorien in den Quellen angelegt sind oder von den Forschenden an das Feld herangetragen werden, erweist sich als komplex, da es sich bei Kategorien wie gender, race und class grundsätzlich um soziokulturelle Konstruktionen mit ihrer je eigenen Historizität handelt. [...] Diese unbesehen zu übernehmen, kann aber [...] in manchen Fällen in die Irre führen.“ (S. 54f.)
Besonders auffällig sind solche Beiträge, die auch kritische Betrachtungen zum Konzept Intersektionalität beinhalten, wie etwa Stefan Wellgrafs Analyse des Boxerstils von Jugendlichen. Wellgraf wendet sich hier insbesondere gegen die Vorstellung, dass soziale Kategorien zunächst abtrennbare Einheiten darstellen, deren Überkreuzung dann untersuchbar ist. Er schlägt deswegen den Begriff der Formation vor, der es durch seine Fokussierung auf die Prozesshaftigkeit der Ausbildung und Reproduktion sozialer Kategorien im Zuge alltäglicher Praxis ermöglicht, Verhältnisse von Klasse, Herkunft, Geschlecht und Körper zu analysieren, „nicht aber als sich bündelnde oder einander abschwächende Einzelkräfte, sondern als aufeinander bezogene Dimensionen einer komplexen Formation [...]“ (S.169).
Die große Stärke des Bandes liegt darin, dass er nicht versucht, die Vielfalt der darin versammelten Ansätze anzugleichen, wenngleich der abschließend resümierende Beitrag strukturiert die übergreifenden zentralen Fragen herausarbeitet. Aus diesem Grund ermöglicht das Buch nicht nur einen Überblick über mögliche Fragestellungen intersektionaler (Ungleichheits-)Forschung, sondern zeigt anschaulich auf, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt, um mit dem Konzept in der empirischen Forschung umzugehen. Vielmehr muss in jedem Forschungsdesign erneut reflektiert werden, wie theoretische Überlegungen genutzt werden sollen und welche Potentiale und Schwierigkeiten damit jeweils einhergehen. Die durchweg hoch reflexiven Beiträge des Bandes laden dabei dazu ein, sich dem diversen Feld der Intersektionalitätsforschung tiefergehend zu widmen und können zugleich interdisziplinäre Denkanstöße für die eigene Forschung bieten.
English Abstract
On (Master) Categories – Potentialities and Snares of Empirically Analyzing Intersectionality
The edited volume Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen by Mechthild Bereswill, Folkert Degenring, and Sabine Stange addresses the potentialities and limits of implementing the concept ‚intersectionality‘ in empirical research. The disciplinary background of the articles covers the different social sciences and the humanities. The articles represent individual empirical research projects while simultaneously reflecting on their methodological approaches in the analysis of intersecting conditions of inequality.
Copyright 2017, TERESA STREISS. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).