Die erzählte Erinnerung: Ein Faszinosum aufgespannt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Eine Rezension von Andrea Züger (andrea.zueger@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Angehrn, Emil: Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag, 2017. 256 Seiten, 19,80 EUR. ISBN: 978-3-465-04299-0.
Abstract
Erinnerungen faszinieren seit Anfang der Menschheit. Mit Rückgriff auf literarische und philosophische Werke insbesondere des letzten Jahrhunderts zeichnet der Philosoph Emil Angehrn in seiner Monographie Sein Leben Schreiben die Wege der Erinnerung nach. Er arbeitet heraus, wie sich die Erinnerung in ihrer existentiellen Bedeutung zur Lebensbeschreibung und zur menschlichen Zeiterfahrung verhält. Seine Ausführungen sind ein gelungenes und äußerst lesenswertes Abbild der Verstrickungen von Erinnerungen, Zeit, Selbst und Sprache, das sich nicht zuletzt der Frage stellt, wieso der Mensch überhaupt nach Erinnerungen verlangt.
Rezension
In der philosophischen Monographie Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung fragt Emil Angehrn nach der existentiellen Bedeutung der Erinnerung. Dabei verknüpft er die Erinnerung mit den Dimensionen der Zeit, der Sprache und dem menschlichen Selbst. Ausgangspunkt und immer wiederkehrender Ankerpunkt ist Marcel Prousts Erzählung Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In seinen Ausführungen nimmt Angehrn aber auch einen Streifzug durch andere, für diese Thematik maßgebende literarische und philosophische Werke der Neuzeit vor. Von Ricœur, über Dilthey, Derrida, Freud, Kierkegaard, Celan und Kurzeck aus – um nur einige zu nennen – diskutiert, untermauert und konzeptualisiert Angehrn seine Überlegungen.
Die von Proust beschriebene Glückserfahrung der „unwillkürlichen Erinnerung“ (S. 11) bildet die Basis für Angehrns Fragestellung. Wie wird Vergangenes in dieser plötzlichen Erinnerung gegenwärtig? Und in welcher Form entspricht die „vermittelnde Erinnerung“ (S. 87), als ‚bewusste‘ Suche nach der Vergegenwärtigung durch Lebensbeschreibung, einer menschlichen Sehnsucht?
Das Buch ist in fünf übergeordnete Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel hebt Angehrn das menschliche Leben als bewusstes Leben hervor, das im Vollzug sich selbst interpretiert. Dabei steht die Sprache als Medium des Erkennens im Zentrum. Anschließend diskutiert er die Frage der existentiellen Bedeutung des Zeiterlebens. Sein expliziter Hinweis, dass es sich bei seiner Herangehensweise eben nicht um eine ontologische, metaphysische oder epistemologische handelt, hilft dem Leser mit möglicher Irritation umzugehen. Mit der Unterscheidung von „subjektiver und objektiver Zeit“ (S. 32) und den ebenfalls aus den Zeittheorien bekannten Grundrastern „Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig“ und „Früher – Gleichzeitig – Später“ (S. 33) arbeitet Angehrn spitzfindig und minutiös Motivationen der Erinnerung heraus.
In Kapitel zwei „Die Kunst der Erinnerung“ fasst Angehrn die bisher genannten Facetten der Erinnerungen stichwortartig als „temporäre Vergegenwärtigung des Vergangenen“, „sinnhafte Strukturierung und Gestaltung“, „lebensweltliche Aneignung“ und „historische Selbstverständigung“ (S. 55) zusammen. Darauf aufbauend geht der Autor nun auf jene zwei Erinnerungsarten – die „unwillkürliche“ und die „vermittelnde Erinnerung“ – ein, die er zuvor schon in der Einleitung prominent platziert hat.
Im Kapitel drei rückt nun die Lebensbeschreibung in den Mittelpunkt. Mit den Konzepten der „Narrativen Identität (S. 105) der „Narrativen Kohärenz“ (S. 110) und der „Autobiographischen Selbstfindung“ (S. 113) schafft Angehrn eine Verbindung von Selbst und Erzählung, wobei er sich auf wichtige Namen der Erzählforschung bezieht. Angehrn formuliert in diesem Teil eine Frage, die letztlich das zusammenfasst, was der Autor auf den knapp 240 Seiten abhandelt. Wieweit gelingt es dem Menschen, „über den Umweg der Lebensbeschreibung jene Selbstgegenwart einzuholen, die sich ihm in der unwillkürlichen Erinnerung auftat?“ (S. 113)
Die „Zukunft des Vergangenen“ steht im Kapitel vier im Zentrum. Dieses sehr dichte und komplexe Kapitel zeichnet das Paradox nach, dass dem Leben Vergangenes entzogen wird, dessen Zukunft aber gleichsam retrospektiv gestaltet werden kann. Angehrn nennt folglich das Vergangene ein „unvergangenes Vergangenes“ (S. 147), das sowohl lähmen als auch aktiveren kann. In philosophischer Manier entwirrt Angehrn dieses Paradox der Zeitlichkeit, dabei integriert er zahlreiche Theoretiker_innen des 20. Jahrhunderts. Wie die Umgestaltung des Vergangenen und die Gestaltung des Zukünftigen ablaufen, hängt von der Art der Erinnerung ab. Angehrn diskutiert dabei die basalen Idealtypen der Leideserinnerung vorrangig am Beispiel der Shoa und der Glückserinnerung, letzteres verkörpert in der Urform der Kindheitserinnerung.
Das abschließende Kapitel fünf „Erinnerung und Selbstfindung“ löst die an manchen Stellen diffus gebliebenen Ergründungen teilweise auf. So benennt Angehrn nun deutlich, was er mit der zuvor bezeichneten gelingenden Erinnerung meint: „Selbstfindung im Leben und die Aneignung der eigenen Geschichte“ (S. 219). Mit dem Konzept der „Selbstgegenwart“ als ein „Innewerden seiner selbst“ (S. 234) schließt er sein Werk.
Emil Angehrn schafft es, die dichten Verstrickungen und Verwirrungen zwischen Erinnerung, Sprache, Zeit und Selbst so zu ergründen, dass sich bekannte Knoten lösen und unbekannte erst bilden können. Das Werk ist geprägt von vielen Redundanzen, die aber nicht langweilen, sondern vielmehr als Lesehilfe dienen. Durch die Unterteilung in kurze Unterkapitel und das Schaffen von nachvollziehbaren Übergängen leitet Angehrn den Lesern durch die Wege der Erinnerungen. Emil Angehrn positioniert sich nicht explizit im dargestellten Diskurs, sondern bringt die Gedanken großer Theoretiker_innen zusammen und schafft ein Ganzes aus ihnen.
Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung ist kein Nachschlagewerk und beantwortet auch nicht jede aufgegriffene Frage. Vielmehr ist es ein Sammelwerk, das die faszinierende Reise der Erinnerung beobachtbar macht; und dies für Vertreter_innen unterschiedlichster Disziplinen. Das von Angehrn gefasste Ziel, das „Faszinosum der Erinnerung zu ergründen und ihre Binnenstruktur ebenso wie ihren Ort im menschlichen Leben zu erhellen“ (S. 14) wird somit im vollen Sinne erreicht.
English Abstract
The Narrated Memory: A Fascination Stretched Out Over Past, Present, and Future
Since the dawn of men memories have been of great interest. By drawing on literary and philosophical works, especially from the last century, the philosophical monograph Sein Leben Schreiben attempts to make the ways of memories observable. Emil Angehrn explores memories in their existential meaning and their interaction with the concept of life-writing and human temporal experiences. His considerations are highly worth reading and a thoroughly well written reflection on the entanglement between memories, time, language, and the self. Moreover, he raises the question why we desire memories in the first place.
Copyright 2017, ANDREA ZÜGER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).