Auf wessen Kosten leben wir? Von „Externalisierungsgesellschaft“ und „imperialer Lebensweise“

 

Eine Rezension von Carmen Ludwig (carmen.ludwig@sowi.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universtiät Gießen

 

Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München: Hanser Berlin, 2016. 224 Seiten, 20 EUR. ISBN: 3446252959.

 

Brand, Ulrich und Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom verlag, 2017. 224 Seiten, 14,95 EUR. ISBN: 3865818439.

  

Abstract

Wir sind konfrontiert mit einer multiplen Krise – des Klimawandels, wachsenden globalen Ungleichheiten und der Erschöpfung natürlicher Ressourcen – konfrontiert. Angesichts dieser drängenden gesellschaftlichen Fragen ist es kein Zufall, dass jüngst zwei Bücher erschienen sind, die die Krisen des globalen Entwicklungsmodells und unserer Lebensweise thematisieren: Während der Münchner Soziologe Stephan Lessenich dies in seinem 2016 erschienen Buch im Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ fasst, haben die beiden Politikwissenschaftler Ulrich Brand (Wien) und Markus Wissen (Berlin) 2017 eine Analyse zur „imperialen Lebensweise“ vorgelegt. Beide Bücher machen eindrücklich deutlich, dass unsere privilegierende Konsumgesellschaft ihren Preis hat, der insbesondere von den Menschen in den Ländern des globalen Südens gezahlt wird.

 

 

Rezension

Vom Leben auf Kosten der Anderen in der Externalisierungsgesellschaft

Lessenich spürt in den fünf Kapiteln seines Buches und anhand exemplarischer Fälle – unter anderem dem Anbau von Sojabohnen in Argentinien, der Palmölproduktion in Indonesien sowie der Garnelenproduktion in Thailand – den vielfältigen Verbindungen von Zentrum (des globalen Nordens) und Peripherie (des globalen Südens) theoretisch und empirisch nach. Damit schafft er zugleich Einblicke in globale Beziehungsstrukturen und Zusammenhänge. So sind alle Einkommensgruppen in den europäischen Ländern dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung zuzurechnen. Das Ausmaß globaler Ungleichheiten zeige, dass sich zwischen dem Zentrum und der Peripherie ein größeres Ungleichheitsgefälle entwickelt hat als in jeder Nationalgesellschaft. Zum anderen sei entgegen der verbreiteten Annahme eines Fahrstuhleffekts, bei dem auf längere Sicht alle Menschen von freien Märkten profitierten, die globale Wirtschaft durch ein Nullsummenspiel gekennzeichnet, in dem die Gewinne der einen, die Verluste der Anderen sind. Den funktionalen Zusammenhang zwischen dem Zentrum und der Peripherie fasst Lessenich mit dem strukturanalytischen und zugleich zeitdiagnostischen Begriff der Externalisierungsgesellschaft. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Lebensführung in den reichen Gesellschaften des Zentrums auf einem seit langem existierenden System ungleichen Tausch und anderen Ausbeutungsmechanismen beruht. Die reichen, hochindustrialisierten Gesellschaften lagern ressourcenintensive Produktionen und die negativen Effekte und Risiken der eigenen Lebensweise aus. Während dies eine Durchlässigkeit nach außen voraussetzt, ist ein weiteres Kennzeichen der Externalisierungsgesellschaft ihre Abschottung nach innen. Lessenich führt dies anhand des gespaltenen Mobilitätsregimes vor Augen: Je höher das BIP, umso freier könne sich die Menschen aus diesem Land in der Welt bewegen. Als ein Ungleichheitsfaktor wirkt hier die Staatsbürgerschaft und damit die „Geburtsrechtslotterie“ (S. 145). Während hochqualifizierte Einwander*innen erwünscht und Migrant*innen auf informellen Arbeitsmärkten in transnationalen Sorgeketten zumindest geduldet sind, werden Grenzen externalisiert, um globale Fluchtbewegungen abzuhalten.

 

Die Externalisierungsgesellschaft beruht zum einen auf einer Verschränkung von politischer und ökonomischer Macht in den Zentren, aber auch auf dem impliziten Einverständnis gesellschaftlicher Mehrheiten. Externalisierung wird von Lessenich folglich nicht nur als ein Ergebnis des wirtschaftlichen Handelns, sondern auch der sozialen Praxis gedacht. Es werde jedoch immer schwieriger, den bequemen Schleier der Verdrängung und des „Nicht-Wissen-Wollens“ aufrecht zu erhalten, da die durch die Externalisierungsgesellschaft produzierten Krisen in einem „weltgesellschaftlichen Bumerang-Effekt“ (S. 75) zunehmend auf die Zentren zurückschlagen.

 

„Imperiale Lebensweise“ als Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus

In der Tradition Antonio Gramscis gehen Brand und Wissen davon aus, dass es zur Reproduktion einer widersprüchlichen Gesellschaftsformation wie der kapitalistischen einer Verankerung in den Alltagspraxen und im Alltagsverstand der Menschen bedarf. Folglich bestehe ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Struktur und Alltagshandeln. Der vielschichtige Begriff der ‚imperialen Lebensweise‘ zeigt auf, dass die kapitalistische Produktionsweise in den südlichen Ländern zu einer Verschärfung der Ausbeutung führt und dort die Lebensgrundlagen der Bevölkerung unterminiert. Gleichzeitig steige der Wohlstand und die Wahlmöglichkeiten in den Ländern des Nordens. Eine Stärke des Buchs von Brand und Wissen ist, dass sie im vierten Kapital die Entstehung und Dynamik der imperialen Lebensweise anhand verschiedener historischer Phasen – des Kolonialismus und Frühkapitalismus, des Imperialismus des 19. Jahrhunderts und des Fordismus – eingehend nachzeichnen.

 

Die imperiale Lebensweise bedeute für viele Menschen die Möglichkeit eines subjektiv erfüllten Lebens, auch wenn von dieser nicht alle Klassen und Schichten gleichermaßen profitieren. Diese Exklusivität könne jedoch aufgrund der zunehmenden Konkurrenz, die angetrieben wird durch die imperiale Lebensweise, immer schwerer aufrecht erhalten werden. Exemplarisch untersuchen Brand und Wissen die sich wandelnde Rolle der Schwellenländer am Beispiel des Neoextraktivismus in Lateinamerika und der Herausbildung einer Mittelklasse in China. Die imperiale Lebensweise „kann sich nur so lange erhalten, wie sie über ein Außen verfügt, auf das sie ihre Kosten verlagern kann. Dieses Außen schwindet jedoch, denn immer mehr Ökonomien greifen darauf zu, und immer weniger Menschen sind bereit oder in der Lage, die Kosten von Externalisierungsprozessen zu tragen. Die imperiale Lebensweise wird dadurch zum Opfer ihrer eigenen Attraktivität und Verallgemeinerung“ (S. 15). Die Folge seien zunehmende öko-imperale Spannungen zwischen den Ländern des globalen Nordens und den aufstrebenden Ländern des globalen Südens. Brand und Wissen konstatieren, dass die kapitalistischen Zentren durch die sich verschärfende Konkurrenz versuchen, ihre Lebensweise durch Abschottung und Ausgrenzung exklusiv zu stabilisieren. Auch wenn die imperiale Lebensweise hegemonial und damit in den Alltagspraxen der Menschen tief verankert sei, ist es den Autoren wichtig aufzuzeigen, dass die Lebensweise umkämpft bleibt – was Ansatzpunkte für widerständige Praktiken und eine grundlegende gesellschaftliche Transformation bietet.

 

Gesellschaftliche Alternativen gesucht!

Die beiden Bücher sind eher als komplementäre, denn als gegenläufige Analysen zu lesen. So nehmen auch die Autoren stellenweise direkt aufeinander Bezug. Beide Bücher vermeiden Moralisierungen; vielmehr geht es ihnen darum, in soziologischer bzw. politisch-ökonomischer Perspektive Macht- und Herrschaftsstrukturen herauszuarbeiten. Sie zeichnen sich zudem durch Suchbewegungen nach gesellschaftlichen Alternativen aus und teilen die Ansicht, dass alle bisherigen Vorschläge – zum Beispiel die Idee eines grünen Kapitalismus – letztlich der markwirtschaftlichen Logik unterworfen blieben und damit nur begrenzt Anschlussmöglichkeiten für eine grundlegende Transformation böten. Aufgrund der hohen gesellschaftspolitischen Bedeutung der beiden Bücher ist es zudem folgerichtig, dass sie sich erkennbar nicht nur an die wissenschaftliche Community, sondern auch an ein breiteres Publikum richten und sich damit um eine Verbreiterung der Diskussion bemühen.

 

Lessenich betont die Notwendigkeit einer doppelten Umverteilung (von oben nach unten, von innen nach außen) und sieht in Kollektivität und Politisierung eine Voraussetzung für gesellschaftliche Transformation. Deshalb macht er insbesondere die Bewegungen im globalen Süden als transformative Akteurinnen aus. Brand und Wissen stellen der imperialen die solidarische Lebensweise entgegen. Diese ziele nicht nur auf die Verteidigung und Schaffung von Gemeingütern, sondern auch auf andere Formen des Zusammenlebens, etwa eine andere Verteilung von Reproduktionsarbeit und damit eine Veränderung der Geschlechterverhältnisse oder auch auf eine solidarische Form der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Beiden Büchern ist anzumerken, dass die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen noch am Anfang steht. Dies ist ihnen jedoch schwerlich zum Vorwurf zu machen, zumal ein Masterplan für eine alternative Gesellschaftsformation kaum zu erwarten ist. Sie haben jedoch eine wichtige und gesellschaftlich notwendige Diskussion und damit – so bleibt zu hoffen – weitere Suchbewegungen angestoßen. Kritik ist eine Voraussetzung für Veränderung; der Grundstein wurde mit beiden Büchern gelegt.

 

 

English Abstract

Who is Paying for our Lifestyle? On “Externalization Society” and “Imperial Mode of Living”

Who is paying for our lifestyle? With these volumes on “externalization society” and “imperial mode of living” we are confronted with multi-layered crises such as climate change, growing global inequalities, and the exhaustion of natural resources. In light of these pressing societal issues, it is no coincidence that two books were published recently that broach the issue of the crisis of our global development model and our way of living. While the sociologist Stephan Lessenich (Munich) coined the term “Externalisierungsgesellschaft” in his book from 2016, the two political scientists Ulrich Brand (Vienna) and Markus Wissen (Berlin) submitted an analysis of the “imperial Lebensweise” in 2017. Both books demonstrate impressively that our consumer society has its price, one which is paid first and foremost by the people in the global South.

 

 

Copyright 2017, CARMEN LUDWIG. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).