Produktivität des „Nicht-Wissens‟

 

Eine Rezension von Silvia Boide (silvia.boide@geschichte.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Nitzke, Solvejg: Die Produktion der Katastrophe. Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne. Bielefeld: Transcript Verlag, 2017. 358 Seiten, 36,99 EUR, ISBN: 978-3-8376-3657-4.

  

Abstract

Solvejg Nitzke verortet in ihrer Monographie Die Produktion der Katastrophe: Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne das wissenschaftlich bisher unerklärte Tunguska-Ereignis anhand verschiedener Aspekte, die den Diskurs leiten: als Rätsel, als Katastrophe, als Mythos, als Geheimnis und geschichtliches Ereignis. Zwischen wissenschaftlichem und literarischem Diskurs einerseits und Expert_innen- sowie Laienforschung andererseits angesiedelt, stört „Tunguska‟ die Wissens-Ordnungen und -Hierarchien der Moderne. Nitzke entfächert das Natur-Kultur-Hybrid und zeigt die Produktivität von „Nicht-Wissen‟ für die kulturwissenschaftliche Forschung auf.

 

 

Rezension

Im Tunguska-Ereignis, so lernt man von Solvejg Nitzke, kreuzen sich zahlreiche Diskurse. Sie widersprechen und ergänzen sich; das ‚Entwirren’ der verschiedenen Fäden, das Nitzke in sehr übersichtlicher und unterhaltsamer Weise unternimmt, öffnet den Blick für komplexe Problemzusammenhänge solcher Art ganz allgemein. Im Einleitungskapitel der Monographie zeigt die Autorin die „Tunguska-Potentiale‟ auf und fasst knapp und übersichtlich ihre Argumentationslinie zusammen, die im Verlauf der Schrift ausgearbeitet wird. „Tunguska‟ wird dabei als Ereignis definiert, dessen Komponenten (Name, Ort, Datum, Explosion, fehlende Erklärung, andauernde Forschung, Varietät an Erklärung) bereits einen so hohen Wiedererkennungswert besitzen, dass eine Bezugnahme auf das Ereignis nicht einmal eine explizite Erwähnung des Namens „Tunguska‟ erfordert. Mit Latour setzt Nitzke „Tunguska‟ als Natur-Kultur-Hybrid, als Ereignis, das in ihrer Arbeit keine Hierarchisierung von wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Ansätzen erfordert und somit als Störung der Ordnung von Wissen in der Moderne gelesen werden kann.

 

Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit Tunguska als einem Gegenstand nicht-literarischer Texte. In den drei Unterkapiteln liest Nitzke Tunguska „als Rätsel‟, „als Katastrophe‟ sowie schließlich „als Mythos‟ und stellt jeweils umfangreichen theoretischen und konzeptuellen Vorüberlegungen die Lektüre nicht-literarischer Publikationen zum Thema „Tunguska‟ gegenüber. Der Rätselcharakter des Ereignisses zeichne sich durch die Möglichkeit der Engführung von Popularisierung und Plausibilisierung aus. Die Ergebnisoffenheit der Detektivgeschichte ist in den entsprechenden Texten die Wahl der Inszenierung. Als Beispieltexte nutzt Nitzke hier einerseits Surendra Vermas The Tunguska Fireball (2005) und Felix Siegels Das Tunguska-Phänomen (1997). In beiden Texten inszeniere sich der Autor als Detektivfigur im Sinne eines Sherlock Holmes, der, nicht institutionell angebunden, keiner Autorität allein verpflichtet sei, sondern sich ganzheitlich und exklusiv dem Ereignis an sich widmen könne. Im Endeffekt werde durch die Strategie einer Überblicksposition, die den Leser_innen das Urteil überlässt, der Rätselcharakter des Tunguska-Ereignisses bestätigt, womit auch der Detektiv seine Autorität in Bezug auf die angestrebte Lösung des Rätsels behalte.

 

Als Katastrophenerzählung nimmt Tunguska eine Sonderstellung ein, da es sich, obwohl bereits geschehen, nur über den Umweg des noch nicht Eingetretenen als Katastrophe definieren lässt. Die Ungeklärtheit der Ursache qualifiziert das Ereignis als potentiell jederzeit wiederholbar – und dann mit katastrophalen Folgen. Tunguska wird somit als potentielles Weltuntergangsszenario und als globale Gefahr betrachtet. Ebenso wie im Rätselcharakter, stellt sich im Katastrophencharakter des Ereignisses die Störung einer Ordnung dar. Dementsprechend stellt Nitzke hier zwei Interpretationen von Tunguska vor, die den Rätsel-Aspekt zugunsten des Katastrophen-Aspekts vernachlässigen. Eine Katastrophe zu definieren setze voraus, die Ursache des Ereignisses bestimmen zu können. So stellen die vorgestellten Texte eine bestimmte Ursache des Ereignisses (Einschlag von extraterrestrischem Material) als gewissermaßen erwiesen dar.

 

Der Mythos-Charakter des Ereignisses ergebe sich wiederum aus dem Zusammenspiel des Rätselhaften und der „Beinahe-Katastrophe‟, die sich mit einer Art Schicksalshaftigkeit der Verschonung zusammenfassen lässt. Beispielhaft für diesen Aspekt des Tunguska-Diskurses stellt Nitzke einen Text vor, den sie selbst als Grenzfall auffasst, da er formal experimentiert: Michael Hampes Tunguska oder Das Ende der Natur (2011).

 

In Teil II der Arbeit werden sodann literarische Texte unter die Lupe genommen, die „Tunguska‟ zwischen „Science und Fiction‟, „Geheimnis und Verschwörung‟ und „Ereignis und Geschichte‟ erzählen. Stanislaw Lems Solaris und Die Astronauten sowie Boris und Arkadi Strugatzkis Picknick am Wegesrand bzw. Der Montag fängt am Samstag an (alle im Original erschienen in den 1960er und 1970er Jahren) erweisen sich als Kommentare auf die Definition der als gültig erachteten Wissens-Ordnungen, die zu Beginn der Moderne „sowohl einen kategorialen Unterschied zwischen Experten und Laien als auch zwischen Wissenschaft und Spekulation (science und fiction) einführt.‟ (205) Im „Tunguska‟-Diskurs werden, so Nitzkes Beobachtung, einerseits die Unterscheidung von „professionellen und Amateur-Wissenschaftlern‟ (178) und andererseits die „Gegenüberstellung von literarischer und wissenschaftlicher Kultur‟ (179) in Frage gestellt. Im zweiten Unterkapitel stehen Verschwörungstheorien als Narrative im Zentrum der Untersuchung. Hier erfolgt ein Rückbezug auf die Detektivfigur des Sherlock Holmes, die zuvor mit dem Rätselcharakter des Ereignisses verknüpft wurde. Aus seiner institutionellen Ungebundenheit heraus könne dieser in Zeiten von institutionalisierter Geheimniswahrung (Intransparenz, Geheimdienste als Experten für Geheimnisse) eine „Reinigungsarbeit‟ erledigen, die dem Staat nicht möglich sei.

 

Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei der Inszenierung als Geheimnis arbeitet Nitzke in Wolfgang Hohlbeins Die Rückkehr der Zauberer, Martina Andrés Schamanenfeuer, Bill DeSmedts Singularity, der US TV-Serie Akte X und dem Computerspiel Geheimakte Tunguska heraus. Alle ‚Texte’ lägen im Spannungsfeld von Affirmation der Dichotomien „Wahrheit / Lüge, Natur / Kultur, Magie / Wissenschaft‟ (281) und der Intransparenz des Geheimnisses. Dabei betonen sie verschiedene, teilweise auch mehrere Aspekte von Geheimnis (arcanum / secretum / mysterium). Im dritten Unterkapitel schließlich stellt Nitzke den inhaltlichen Dimensionen „Phänomen“, „Rätsel“ und „Katastrophe“ die systematischen Ereignisdimensionen von Tunguska gegenüber (naturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand, strukturierendes Erzählelement und historiographisch relevantes Element). Sie erarbeitet zunächst die Verbindung dieser Dimensionen untereinander, um anschließend deren Bezugsgrößen in Romanen von Thomas Pynchon (Against the Day), Christian Kracht (Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten) und Vladimir Sorokin (Ljod-Trilogie) zu ermitteln.

 

Nitzkes Die Produktion der Katastrophe ist ein außerordentlich dichter Text, der in seiner Lesart eines Konkurrenzkampfes von Wissens-Ordnungen mit dem Tunguska-Ereignis ein sehr anschauliches und dankbares Beispiel behandelt. Das Versprechen des einleitenden Satzes, dieses Buch solle „nicht zur Aufklärung des Tunguska-Ereignisses beitragen‟ (11) wird im besten Sinne erfüllt, wenn sich das Nicht-Wissen als das produktivste Element des Diskurses zeigt.

 

 

English Abstract

Productivity of “Non-Knowledge”

In her monograph Die Produktion der Katastrophe: Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne, Solveig Nitzke interprets narratives of the “Tunguska”-event that shaped the corresponding discourse: as a riddle, as a catastrophe, as a myth, as a secret and as a historical incident. Between scientific and literary discourse on the one hand, and expert and lay research on the other, “Tunguska” threatens the orders and hierarchies of knowledge within modernity. Nitzke unfolds this nature-culture-hybrid and shows the productivity of “non-knowledge” for the study of culture.

 

 

Copyright 2017, SILVIA BOIDE. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).