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KULT_online. Review Journal for the Study of Culture

journals.ub.uni-giessen.de/kult-online

(ISSN 1868-2855)

Issue 72 (November 2025)

„Widerspruchs-Kulturen“. Ein gelungener Einstieg in die aktuellen Welten des Widerspruchs

„Widerspruchs-Kulturen“. Ein gelungener Einstieg in die aktuellen Welten des Widerspruchs


“Cultures of Dissent”: A Successful Introduction to the Current World of Contradiction


Füllenbach, Magdalena Tonia; Münnich, Michael; Spanke, Johanna (eds.): Widerspruchs-Kulturen. Medien, Praktiken und Räume des Widersprechens. Berlin: Dietrich Reimer Verlag GmbH, 2023. 196 Seiten, 29,90 EUR. ISBN: 978-3-496-01686-1.


Widerspruchs-Kulturen sind für eine dynamische Gesellschaft essenziell, besonders in Zeiten von gesellschaftlicher Unruhe. Sie tragen dazu bei, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen, Innovationen zu fördern und demokratische Prinzipien zu verteidigen. Gleichzeitig erfordern sie kritische Reflexion, um destruktiven oder manipulativen Formen des Widerspruchs entgegenzuwirken. Von Jürgen Habermas über Michel Foucault bis hin zu Judith Butler – seit mehr als 60 Jahren wird über die Praktiken und Räume des Widerspruchs diskutiert. Mit dem Sammelband Widerspruchs-Kulturen: Medien, Praktiken und Räume des Widersprechens, herausgegeben von Magdalena Tonia Füllenbach, Michael Münnich und Johanna Spanke, ist dieses Vorhaben bis auf wenige Ausnahmen gelungen.

Sinnvoll gegliedert in eine Einleitung und drei Überkapitel bietet Widerspruchs-Kulturen über „Gesellschaftliche Aushandlungen von Widersprüchen“ einen ersten Zugang zum Thema (S. 3). Mit Blick auf Demokratie, Satire als Widerspruch und dem Widersprechen in und mit sozialen Medien erörtern die Autor_innen neue Praktiken des individuellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Widerspruchs. In ihrer Einleitung präsentieren die Herausgeber_innen ihren epistemologischen Anspruch auf der Suche nach neuem Umgang mit Räumen des Widersprechens an den Sammelband, der sich durch die verschiedenen Artikel zieht. Akte des Opponierens werden auch als Unvereinbarkeiten oder sich diametral gegenüberstehende Gegensätze besprochen.

Marie-Luisa Fricks „Diskurstapferkeit als demokratische Tugend“ macht einen teilweise überzeugenden Anfang zur Bedeutung von Widerspruch in demokratisch organisierten Gesellschaften, indem sie die Standhaftigkeit von aktiver und passiver Diskurstapferkeit vergleicht. Besonders aus kulturwissenschaftlicher Sicht sind die These und Argumentation interessant, hin und wieder wünscht man sich als Forscher_in aus diesem Gebiet an manchen Stellen einen Schritt des Weiterdenkens und die daraus resultierende Tiefe des Arguments. Das Beispiel von Hate Speech im Kontext von Diskursivität zieht sich durch das gesamte Kapitel, eine klare Abgrenzung zwischen rechtlichen und moralischen Konsequenzen im Kollektiv und nicht nur im Einzelfall wird jedoch nicht dargestellt. Gerade weil der Ansatz spannend ist, hätten weitere oder abgrenzende Ausführungen die Sichtweise und damit das Argument unterstützt.

Nach Magdalena Tonia Füllenbachs Kapitel zu Satire als Widerspruch im Kontext von Kolonialdenkmalen in den Karikaturen des deutschen Kaiserreichs sticht Jan-Hinrik Schmidts Beitrag zu sozialen Medien im ersten Abschnitt hervor. Seine Perspektive auf diese als Räume des Widersprechens, auf Basis des Widersprechens als Praxis, ermöglicht eine kritische Analyse nicht nur der Medien selbst, sondern auch die Ambivalenzen, die sie mit sich bringen. Denn obwohl soziale Medien auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene, Community, wichtige Möglichkeiten zum Austausch bieten, stärken sie „Geschäftsmodelle, denen wir als Nutzende nicht widersprechen können“ (S. 63). Schmidt eröffnet damit einen weiteren Ausblick auf die sozialen, aber auch gesellschaftlich moralischen, sowie potenziell destruktiven, Normen des (Wider-)Sprechens in den sozialen Medien.

Der zweite Themenblock „Widerspruch als Praxis der (Selbst-)Ermächtigung“ überzeugt bereits im ersten Kapitel von Johanna Spanke über Formen der Selbstermächtigung im Werk von Chicanx-Künstler_innen. Am Beispiel von Werken und Performances der Gruppe Asco zeigt die Autorin, wie die Künstler_innen sich gezielt durch Räume bewegen, die von einer rassifizierten Machtdifferenz geprägt waren. Für Asco war das eine Form des Widerstands durch die Räume zurück- oder eingefordert wurden, also ein wahres ‚Reclaiming‘ als Selbstermächtigungspraxis. Auch die beiden weiteren Kapitel über Menschen mit Behinderung mit Blick auf das Widersprechen im Rechtssystem sowie die Körper von Kunstschaffenden in Relation zu Fatness und Geschlecht bieten wichtige Einblicke in Praxen des Widersprechens. Gerade die Fragen, wieso es in der Geschichte keine erfolgreichen fetten Künstlerinnen gab, und bis heute kaum gibt, wird besonders überzeugend diskutiert. Wie Anja Hermann schreibt, sind vor allem Selbstportraits „eine visuelle Widerrede und ein differenzierender Beitrag zu aktuellem fat shaming und hate speech“ (S. 121).

Im letzten, und längsten, Themenblock befassen die Autor_innen sich mit Widerspruch in der Wissenschaft. Auf die letzten Jahre blickend, ergibt auch diese Unterteilung Sinn. Gerade der Beginn mit Katharina Jackes Artikel „Widersprüche des Medizinischen. Zum Wandel medizinischer Trans*Konzepte“ entspricht dem aktuellen Zeitgeist sowie den Kulturkämpfen, die besonders Trans-Menschen in der Medizin und im Sport zum Politikum rechter Narrative gemacht hat. Diese Perspektive auf Räume des Widerspruchs in der Medizin, sowie Mediziner_innen als Teil eines hegemonialen politischen Prozesses, quasi als „außerparlamentarischer Politikbetrieb“, überzeugt nicht nur, sondern präsentiert die Dringlichkeit, mit der von einer „rhetorischen Liberalität“ zu einer „tatsächlichen Fürsorge“ für Trans-Menschen übergegangen werden sollte (S. 140).

Den Abschluss des Buches stellt Jörg Teschners Artikel „Führen Quanten auf Widersprüche“, der sich mit Interpretation der Quantenmechanik zur Illustration im Umgang mit (vermeintlichen) Widersprüchen befasst. Inhaltlich stringent wäre als Abschluss allerdings das Kapitel davor, „Widersprüche in der Wissenschaft“ von Susanne Weis, gewesen. Es berührt alle Themen, sowohl gesellschaftlich, moralisch und medizinisch, die mit dem epistemologischen Anspruch des Buchs einher gingen. Anhand der Corona-Pandemie beschreibt Weis treffend die Herausforderungen in der Wissenschaftskommunikation und ihren vermeintlichen Widersprüchen unserer Zeit.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Widerspruchs-Kulturen: Medien, Praktiken und Räume des Widersprechens einen zufriedenstellenden Überblick über die Widerspruchs-Kulturen unserer Zeit bietet. Besonders mit Blick auf digitale Medien und medizinische Hintergründe bereichert es den Diskurs für Kultur- und Sozialwissenschaftler_innen, die die traditionelleren Theorien schon sehr gut kennen, oder einen Einblick in aktuelle Entwicklungen bekommen wollen. An wenigen anderen Stellen, allen voran Diskurstapferkeit und Wissenschaftskommunikation in den Hard Sciences, wäre etwas mehr Tiefgang gewünscht.

How to cite:

Stengel, Lilli: „WiderspruchsKulturen: Medien, Praktiken und Räume des Widersprechens. [Rezension von: Füllenbach, Magdalena Tonia, Michael Münnich und Johanna Spanke (Hgg.): Widerspruchs-Kulturen: Medien, Praktiken und Räume des Widersprechens. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2023.]”. In: KULT_online 72 (2025).

DOI: https://doi.org/10.22029/ko.2025.1529

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