Bericht zur Tagung „On the Concept of Imagination”
Conference Report for "On the Concept of Imagination"
Die interdisziplinäre Konferenz „On the Concept of Imagination“ stellte die zweite Veranstaltung einer dreiteiligen Workshopreihe dar, die thematisch an das Auftakttreffen mit dem Titel „On the Concept of Speculation“ (11.–12. Dezember 2024, Gießen) anschloss.
Veranstaltet wurde die Tagung von der DFG-geförderten Forschungsgruppe „Economic Agnosticism. Doubting Economic Knowledge in 19th-Century Literature and Sociology“, die von Kirsten von Hagen, Professorin für französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik und Andreas Langenohl, Professor für Allgemeinen Gesellschaftsvergleich am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen, geleitet wird. Zum wissenschaftlichen Team der Forschungsgruppe zählen zudem die Mitarbeiter_innen Marie-Theres Stickel und Felix Hempe, deren Beiträge die methodische und theoretische Vielfalt des Projekts mitprägen. Tagungsort war das International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Justus-Liebig-Universität Gießen, das sich als profilgebende Institution für die kulturwissenschaftliche (Nachwuchs-)Forschung mit interdisziplinärer Ausrichtung etabliert hat. Im fachübergreifenden Dialog diskutierten und analysierten die Teilnehmenden, inwiefern Imagination nicht nur als ästhetische, sondern auch als epistemische Praxis verstanden werden kann und wie dadurch neue Perspektiven auf (historische) Konstellationen ökonomischen Wissens entstehen können.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde eröffnete ANDREAS LANGENOHL (Gießen) den Workshop mit einer Einführung in die thematischen Schwerpunkte des Forschungsprojekts. In diesem Rahmen skizzierte er verschiedene disziplinäre Zugriffsmöglichkeiten auf die zentrale Fragestellung nach der epistemologischen Konstitution von Geld. Die Forschungsgruppe messe dem interdisziplinären Zugang eine zentrale Bedeutung bei, da die Analyse und der Einsatz disziplinübergreifender Konzepte einen methodologischen Kern des Projekts bilde.
Aus soziologischer Perspektive richte sich das Erkenntnisinteresse, so wurde ausgeführt, insbesondere auf die soziale Konstruktion von Plausibilitäten innerhalb ökonomischer Wissensformationen sowie auf die konstitutiven Bedingungen ökonomischer Handlungsträgerschaft. Als theoretischer Bezugspunkt dienten dabei die Arbeiten des sogenannten Durkheim-Kreises; darüber hinaus würden weitere zentrale Texte und Theorieansätze aus dem Zeitraum zwischen 1850 und 1930 in die Analyse einbezogen.
Ein weiterer analytischer Fokus liege auf der Auseinandersetzung mit Zweifeln an Formen ökonomischen (Nicht-)Wissens, die im Kontext eines „ökonomischen Agnostizismus“ als bedeutungsstiftendes Motiv konturiert werden. Auf dem ersten Workshop zum ‚Spekulativen‘ wurde dieser Aspekt als zentraler Punkt herausgearbeitet. Die abschließende Zusammenfassung der vorangegangenen Sitzung mündete in die Formulierung einer leitenden Forschungsfrage, die im Verlauf des Workshops – insbesondere in den folgenden Vorträgen und Diskussionen – immer wieder aufgegriffen und weiter differenziert wurde: Welche Formen nimmt (zweifelndes) Nichtwissen innerhalb ökonomischer Dynamiken und dem Nachdenken darüber an?
Hempe rekonstruierte zunächst, wie der sogenannte Durkheim-Kreis bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg durch eine Reihe von Zeitschriftenprojekten institutionell sichtbar wurde. Simiand hingegen erkannte darüber hinaus die Herausforderung, soziologisches Wissen gesellschaftlich zu legitimieren, und formulierte dieses Anliegen explizit als programmatisches Ziel. In diesem Kontext argumentiert er in der genannten Publikation für das statistische Experiment als zentrales methodisches Instrument zur empirischen Fundierung und Plausibilisierung soziologischen Wissens über soziale (und ökonomische) Realität.
Wie Hempe herausarbeitete, dient Simiands experimentelles Begriffsverständnis zugleich als paradigmatisches Beispiel für dessen Konzeption des Ökonomischen als genuin kollektive Realität. Die statistische Methode und das soziologische Wissen erscheinen in Simiands Argumentation als komplementäre Instanzen. Gleichwohl identifizierte Hempe eine diskursive Bruchlinie zwischen soziologischen und ökonomischen Wissensformen, die sich im Rahmen von Simiands Theorieansatz analytisch nachzeichnen lasse. Diese Differenz verweise auf die begrenzte Reichweite des sozialen Imaginären als Modellierungsinstanz epistemischer Prozesse und eröffne Perspektiven für weiterführende Forschung zur Divergenz von Wissensformaten in der Soziologie und Ökonomie.
Im Zentrum des folgenden Vortrags stand ein historisch einschlägiges Beispiel kollektiver (sozialer) Imagination, das von JÜRGEN FINGER (Paris), Leiter der Abteilung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte am Deutschen Historischen Institut Paris, vorgestellt wurde. Gegenstand seines Beitrags war die Figur Henri Rochettes und dessen spektakuläre Flucht vor der französischen Polizei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Finger rekonstruierte die ambivalente Biografie Rochettes, eines erfolgreichen, jedoch als dubios geltenden Privatbankiers, der insbesondere auf dem sogenannten ‚Graumarkt‘ operierte. Dort nahm Rochette nicht nur als Finanzakteur Einfluss, sondern kontrollierte auch die öffentliche Meinungsbildung über eigens herausgegebene Zeitungen und Zeitschriften – eine Strategie, die seine ökonomische Position weiter stabilisierte.
Den Mittelpunkt der historischen Fallanalyse bildete ein Betrugsfall, in dessen Rahmen Rochette französische Anleger im Zusammenhang mit mexikanischen Eisenbahnanleihen um rund zehn Millionen Francs geschädigt hatte. Angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Haftbefehls entzog sich Rochette den staatlichen Zugriffen durch eine spektakuläre Flucht, die sich über drei Kontinente erstreckte. Finger betonte in seiner Analyse insbesondere den öffentlichen Charakter dieser Flucht, deren mediale Rezeption maßgeblich zur Ausbildung eines kollektiven Imaginären beitrug. Die zahlreichen offenen Fragen, etwa zum Aufenthaltsort Rochettes, zu den ihm zur Verfügung stehenden sozialen, finanziellen und kulturellen Ressourcen sowie zur Herkunft der eingesetzten Mittel, wurden im zeitgenössischen Diskurs durch imaginative Zuschreibungen substituiert.
Diese kollektiven Projektionen fungierten, so Finger, als Sinnbildungsmechanismen im Umgang mit epistemischer Ungewissheit. Die Flüchtigkeit und Undurchsichtigkeit von Rochettes Ressourcen aktivierte dabei nicht nur die Fantasie von Polizei, Presse und Öffentlichkeit, sondern wirkt auch aus heutiger Perspektive weiterhin als narratives Moment historiografischer Rekonstruktion. Abschließend lenkte Finger den Blick auf die imaginative Konstruktion von Rochettes geschäftlicher Persona. Als skandalisierte Figur agierte Rochette nicht allein als Bankier, sondern auch als exemplarische Sozialfigur des Projektemachers (homme à projet) – eines intermediären Akteurs, der bei seinen Kunden Hoffnungen auf Teilhabe an den kapitalmarktbasierten Zukunftserwartungen generiert. In der anschließenden Diskussion führte diese Deutung zu einer begrifflichen Differenzierung zwischen den Typen des Spekulanten und des Projektemachers, mit der die heuristische Trennschärfe ökonomischer Akteursmodelle weiter ausgelotet wurde.
Das Phänomen der Spekulation bildete auch im Vortrag von URS STÄHELI (Hamburg) einen zentralen Bezugspunkt. In seinem Beitrag rekonstruierte Stäheli, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg, die Genealogie des Volatilitätsbegriffs, wobei er insbesondere dessen Ursprünge in chemisch-parfümistischen Diskursen in den Blick nahm. Durch diese historisch-semantische Umdeutung eröffnete er eine alternative Perspektive auf das seit dem 20. Jahrhundert im finanzwirtschaftlichen Kontext etablierte Verständnis von Volatilität als Maß für die Intensität von Schwankungen.
Volatilität wurde in Stähelis Argumentation als transversale Semantik der Flüchtigkeit entfaltet – ein Begriff, der in der Parfümerie nicht als Risikoanzeige, sondern als ästhetisch-materiale Grundlage von Gestaltung fungiert. Diese ästhetische Semantisierung von Volatilität reicht, so Stäheli, bis in die arabisch-islamische Alchemie des 8. und 9. Jahrhunderts zurück und wurde im 19. Jahrhundert durch fortschreitende chemisch-technologische Entwicklungen weiter präzisiert. Im Kontext der Parfümerie handele es sich bei dem Konzept der Volatilität demnach um ein sensorisches Phänomen, das Flüchtigkeit als Medium nutzt, um ästhetische Erfahrungen gezielt hervorzubringen und zu modulieren.
Zur Veranschaulichung dieser Praktiken verwies Stäheli auf Volatilitätstabellen und die sogenannte olfaktorische Pyramide – Instrumente, die zur Komposition bestimmter Grade von Flüchtigkeit eingesetzt werden. Exemplarisch wurde das Parfüm Jicky von Guerlain (1889) vorgestellt, das als erstes abstraktes Parfüm der Moderne gilt und in dem die olfaktorischen Komponenten so komponiert wurden, dass sie nicht mehr als einzelne Duftstoffe identifizierbar sind. Diese Ästhetik der gezielten Entdifferenzierung verweise auf ein grundlegendes epistemologisches Umdenken in der Wahrnehmung und Nutzung von Volatilität.
Im Anschluss an diese Analyse führte Stäheli den Begriff der embodied abstraction ein, um die sensorisch fundierten Wissens- und Gestaltungstechniken im Bereich der Parfümerie zu beschreiben. Diese Form verkörperter Abstraktion wurde mit der im Finanzwesen dominanten disembodied abstraction kontrastiert, in der Volatilität durch mathematische Modelle quantifiziert, kalkuliert und in Hinblick auf Risikoabsicherung prognostiziert wird. Diese Gegenüberstellung verdeutlichte, dass die semantische Verschiebung des Volatilitätsbegriffs nicht nur neue Perspektiven auf das Konzept der Spekulation eröffnet, sondern auch alternative epistemische Konfigurationen sichtbar macht: Flüchtigkeit erscheint hier nicht als zu minimierendes Risiko, sondern als intentional erzeugte Qualität – als Produkt und Komposition ästhetisch-materieller Gestaltung und sinnlicher Erfahrung.
Im Anschluss knüpfte KIRSTEN VON HAGEN (Gießen) an die einleitenden Ausführungen zu Beginn der Tagung an und vertiefte die literaturwissenschaftliche Perspektive innerhalb der Forschungsgruppe. Im Zentrum dieser Perspektive stehe die Untersuchung der ästhetischen und narrativen Produktivität von Zweifel in literarischen Inszenierungen ökonomischer Transaktionen und deren gesellschaftlicher Implikationen. Literatur erscheine in diesem Kontext nicht lediglich als Reflexionsmedium ökonomischer Wirklichkeit, sondern zudem als epistemische Instanz, die ökonomische Wissensformen befragt, unterläuft oder neu formatiert.
Besondere Aufmerksamkeit galt dem spezifischen Erkenntnispotenzial literarischer Texte dort, wo diese an ökonomische Diskurse anschließen, jedoch nicht affirmativ, sondern im Modus des Zweifel(n)s oder der Unsicherheit operieren. Mit dem Begriff einer Poetik des Zweifels und im Rekurs auf Überlegungen von Levine und Kornbluh, wonach ästhetische auch soziale Formen verhandeln, illustrierte von Hagen diese Überlegungen exemplarisch an Romantexten von Gustave Flaubert und Edith Wharton, wobei Whartons Roman The House of Mirth (1905) als ein literarisch wie diskursiv eigenständiges female re-writing von Flauberts Madame Bovary (1856) vorgestellt wurde.
Durch diese komparatistische Lesart wurde deutlich, inwiefern literarische Texte Räume eröffnen, in denen ökonomisches Wissen nicht nur dargestellt, sondern performativ verhandelt wird – insbesondere dort, wo es prekär, uneindeutig oder spekulativ ist.
Im letzten Vortrag des ersten Tages widmete sich MARIE-THERES STICKEL (Gießen) den journalistisch-aktivistischen Arbeiten der französischen Schriftstellerin Daniel-Lesueur (1854–1921) im Kontext der Exposition Universelle des Jahres 1900 in Paris. Diese Arbeiten untersucht Stickel im Rahmen ihres Forschungsprojekts zu einem weiblich kodierten ökonomischen Agnostizismus, der sich an der Schnittstelle von feministisch informierter Literatur und Ökonomie verortet.
Die im Rahmen der Weltausstellung stattfindenden feministischen Kongresse wurden in diesem Zusammenhang als frühe Orte und Szenen weiblich-kodierter ökonomischer Wissenspraktiken interpretiert, an denen nicht nur alternative ökonomische Konzepte artikuliert, sondern zugleich auch Zweifel an hegemonialen ökonomischen Doktrinen formuliert wurden. Diese Veranstaltungen fungierten damit als dynamische think tanks, in denen neue kulturelle und ökonomische Praktiken diskutiert sowie Forderungen nach einer Neuaushandlung der „rôle de la femme moderne“ formuliert wurden.
Vor diesem Hintergrund wurden auch Lesueurs Texte analysiert, die, wie Stickel betonte, als ethische und imaginative Ressourcen gelesen werden können, in denen ökonomische Dilemmata, wie das der weiblichen (Care-)Arbeit, unter Bedingungen alltäglicher Komplexität verhandelt werden. Die Autorin erschließe damit nicht nur einen Zugang zu den Ambivalenzen ökonomischer Lebensrealitäten, sondern plädiere zugleich für die Überwindung jener „imaginären Barrieren“, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts das antagonistische Verhältnis zwischen literarischem und ökonomischem Schreiben konstituierten.
Die epistemischen Praktiken, die sich in Lesueurs literarischer Produktion manifestieren, fungieren als Ausdruck eines Zweifels gegenüber hegemonialem ökonomischem Wissen. Ihre Texte rücken damit in die Nähe eines economic social imaginary, in dem imaginative und relationale kulturelle Praxis als narrative Aushandlung und Zirkulation von Wissen agieren. In diesem Sinne wurde Lesueurs Werk nicht nur als Form literarischer (Selbst-)Positionierung im ökonomisch-sozialen Imaginären eingeordnet, sondern erschien auch als Beitrag zur Ausdifferenzierung eines gendersensiblen und reflexiven ökonomischen Wissens, das sich jenseits traditioneller Disziplingrenzen artikuliert.
Der zweite Tag des Workshops wurde durch einen Vortrag von MAXIMILIAN BERGENGRUEN (Würzburg), Professor für Neuere Deutsche Literatur- und Ideengeschichte an der Universität Würzburg, eröffnet, der sich mit Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) und dessen ideengeschichtlichem Kontext auseinandersetzte. Im Zentrum des Beitrags stand eine kritische Rekonstruktion der programmatischen Zusammenarbeit zwischen Freytag und Julian Schmidt im Rahmen der kulturpolitischen Zeitschrift Grenzbote, in der beide Autoren das Konzept der „Arbeit“ als zentrales ordnungspolitisches und ästhetisches Paradigma der Nachmärzzeit verhandelten.
Als interpretatorischen Ausgangspunkt wählte Bergengruen das dem Roman vorangestellte Motto, das er als Pseudo-Zitat identifizierte, und dessen Formulierungen sich nachweislich auf einen Artikel Julian Schmidts zurückführen lassen. In einem weiteren Schritt wurde Soll und Haben als paradigmatischer Text des poetischen Realismus analysiert, dessen ästhetisches Selbstverständnis maßgeblich durch eine Dichotomisierung von Prosa und Poesie geprägt sei. In Anlehnung an Schmidts These, wonach die gesellschaftlichen Bedingungen nach 1848 nicht länger „poesiefähig“ seien, wurde die Gattung der Prosa als bevorzugtes Medium einer realistischen Schreibweise dargestellt, die auf soziale Wirklichkeit nicht durch Verklärung, sondern durch strukturierende Abbildung reagieren soll.
Bergengruen wies jedoch darauf hin, dass diese Selbstbeschreibung nicht widerspruchsfrei bleibt. Die redaktionellen Schriften Freytags und Schmidts, insbesondere im Grenzbote, erscheinen aus dieser Perspektive als Form des literarischen Selbstmarketings: Der Roman Soll und Haben erfüllt nicht, sondern inszeniert nachträglich jene poetologischen Postulate, die zuvor programmatisch formuliert wurden. In einer kritischen Wendung interpretierte Bergengruen den Roman somit weniger als Verwirklichung denn als Scheitern der Freytag-Schmidtschen Ästhetik der Arbeit: Der literarische Text vermag nicht zu zeigen, dass gewöhnliche Erwerbsarbeit poetisches Potenzial besitzt.
Vielmehr eröffnet sich aus dieser Diskrepanz die weiterführende Frage, ob Arbeit überhaupt über ein genuines poetisches Moment verfügt oder ob jenes Potenzial allein durch die Begeisterung – oder ideologische Projektion – ihrer literarischen Beobachter und Deuter erzeugt wird. Aus dieser Perspektive erscheine die Verklärung als konstitutives Moment des poetischen Realismus, dessen ästhetische Verfahren weniger die Wirklichkeit der Arbeit erfassen, als vielmehr deren Imagination im bürgerlich-literarischen Diskurs ermöglichen.
Ebenfalls dem Lehrstuhl für Deutsche Literatur- und Ideengeschichte der Universität Würzburg zugehörig, vertiefte ELISABETH WEIß-SINN (Würzburg) die literaturwissenschaftliche Perspektive der Tagung und widmete sich in ihrem Vortrag den ökonomischen Imaginationen in zwei weitgehend in Vergessenheit geratenen Romanen der Erfolgsautorin Margarete Böhme (1867–1939). Böhme, zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Raum, wurde dabei als ambivalente Figur zwischen marktorientierter „Romanfabrikantin“ und präziser Chronistin gesellschaftlicher Transformationsprozesse profiliert.
Im Zentrum der Analyse standen die Romane W.A.G.M.U.S. Der Kaufhausroman (1911) und Millionenrausch (1919), die Weiß-Sinn unter den Gesichtspunkten der ökonomischen und kriegsbedingten Imagination untersuchte. Während W.A.G.M.U.S. eine von sozialdarwinistischen Prinzipien durchzogene Marktordnung inszeniert, in der Angestellte durch Leistungsanreize, Kontrolle und Konkurrenz diszipliniert werden, fokussiert Millionenrausch auf die Figur eines Kriegsgewinnlers, dessen soziale und ökonomische Position sich während und nach dem Ersten Weltkrieg fundamental wandelt.
Ungeachtet der inhaltlichen Divergenzen der beiden Texte arbeitete Weiß-Sinn strukturelle Parallelen in der narrativen Konstruktion von Imagination heraus: So fungiere das Warenhaus im Kaufhausroman als imaginärer Raum gesellschaftlicher Teilhabe, der in Form einer konsumistischen Utopie ökonomischen Aufstieg verspricht. Millionenrausch hingegen verfremde die Kriegserfahrung durch eine innerräumliche Refiguration: Nicht das Schlachtfeld, sondern die Küche wird zur symbolischen Frontlinie, an der sich die Logik der Verknappung und der Kommerzialisierung des Alltäglichen manifestiert. Der Krieg erscheine hier weniger als historische Realität denn als ökonomische Imagination, deren Effekte auf das Alltagsleben durch narrative Strategien und Formen sichtbar gemacht werden.
Weiß-Sinn betonte in ihrer Schlussfolgerung, dass es sich bei Böhmes Texten nicht um moralisierende Parabeln, sondern vielmehr um literarische Diagnosen gesellschaftlich-ökonomischer Zustände handle. In diesem Sinne eröffnen die Romane nicht nur Perspektiven auf wirtschaftliche Phänomene, sondern fungieren zugleich als epistemische Räume, in denen ökonomisches Wissen generiert, reflektiert und literarisch vermittelt wird.
Im Zentrum des folgenden Beitrags stand die Kapitalismuskritik des französischen Frühsozialisten Charles Fourier, die von ANNE KWASCHIK (Konstanz), Professorin für Wissensgeschichte an der Universität Konstanz, aus der Perspektive des sozialen Imaginären analysiert wurde. Ausgangspunkt der Analyse war eine alltägliche Beobachtung Fouriers: die Preisdivergenz eines Apfels in Paris und in seiner Heimatstadt Besançon, die er auf spekulative Zwischenhandelspraktiken zurückführte. Fourier schloss daraus, dass in der modernen Gesellschaft der Wert nicht länger durch Arbeit, sondern durch Zirkulation generiert werde – eine Dynamik, die zur Loslösung ökonomischer Prozesse von produktiver Tätigkeit und somit zur Erosion sozialer Bindungen führe.
Kwaschik rekonstruierte, wie Fourier diese Einsicht in die Konzeption einer „monde à rebours“ überführt, in der das gesellschaftliche Leben durch das Primat spekulativer Ökonomien deformiert werde. Dennoch bleibt Fouriers Theorie nicht bei einer reinen Kritik stehen. Vielmehr entwickelt er in seinen Schriften imaginative Gegenmodelle (associative countermodels) zur kapitalistischen Moderne: alternative Gesellschaftsentwürfe, die spekulative Kritik mit sozialer Experimentierfreude verbinden.
Kwaschik argumentierte, dass Fourier auf diese Weise Imagination als epistemisches Widerstandsinstrument mobilisiert. Seine Mischung aus soziologischer Spekulation und utopischer Narration destabilisiere die kulturelle Autorität marktwirtschaftlicher Rationalität und eröffne neue Denkräume für die Kritik monetären Wissens. Damit leiste Fouriers Denken einen grundlegenden Beitrag zur Untersuchung des sozialen Imaginären als Ort, an dem die epistemischen Grenzen ökonomischer Wissensformationen sichtbar gemacht, infrage gestellt und transformativ umgedeutet werden.
Der letzte Vortrag des Workshops befasste sich mit der Frage, inwiefern das ökonomische Denken von sozialen Imaginären durchdrungen ist und analysierte dies am Begriff des „Marktes“. WALTER ÖTSCH (Koblenz), Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz, erläuterte einleitend, dass in den Geschichts- und Kulturwissenschaften Formationsbegriffe wie „Nation“, „Gesellschaft“, „Kultur“ oder „Volk“ als kollektive Imaginationen gelten, die zwar keine objektive Entsprechung in der Realität besitzen, jedoch aufgrund ihres erfahrungsleitenden und performativen Sinngehalts wesentlich zur Konstitution sozialer Wirklichkeit beitragen.
Als paradigmatisches Beispiel hierfür gelte der Begriff „der Markt“ (in der Einzahl), der in den 1920er Jahren von Ludwig von Mises geprägt und in der Folge von Friedrich von Hayek weiterentwickelt wurde. In seiner diskursiven und normativen Wirksamkeit erfülle dieser Begriff die Funktion eines sozialen Imaginären im Sinne Charles Taylors. Zugleich verweise seine begriffliche Struktur auf Merkmale, die ihn als nicht-wissenschaftliche Kategorie qualifizieren.
Im zweiten Teil des Vortrags argumentierte PATRICK MAKAL (Paderborn), dass sich „der Markt“ vor diesem Hintergrund als Ausdruck mythischen Denkens interpretieren lasse – als eine Form nicht-wissenschaftlicher Rationalität, in der ökonomische Komplexität über narrative Vereinfachungen symbolisch bewältigt wird. Die omnipräsente Rede von „dem Markt“ steht damit symptomatisch für eine Rückwendung vom Logos zum Mythos.
Der Promotionsstipendiat der Universität Paderborn, mit den Forschungsschwerpunkten Kritische Philosophie und Gesellschaftstheorie, fundierte diese Perspektive mithilfe der systematischen Philosophie Ernst Cassirers: dessen Theorie erlaube es, die epistemischen und performativen Dimensionen des Marktbegriffs analytisch zu fassen und seine konstitutive Rolle in der symbolischen Ordnung des ökonomischen Denkens systematisch zu reflektieren. Im Zentrum der hegemonialen neoklassischen Ökonomik stehe demnach ein mythischer Begriff, was reale Gefahren für Gesellschaft und Demokratie mit sich bringen könne.
Eine abschließende Diskussion der Tagung rückte ein zentrales theoretisches Spannungsfeld zwischen Spekulation und Imagination in den Fokus und warf grundlegende Fragen zur epistemischen Reichweite des Imaginären auf: Welche erkenntnisleitenden Potenziale entfalten sich, wenn unterschiedliche Konzepte des sozialen Imaginären auf literarische und soziologische Texte angewendet werden – etwa im Hinblick auf ökonomische Phänomene wie Geld oder Märkte? In dieser Perspektive erscheint das Imaginäre nicht nur als defizitäre Kategorie, die auf ein Fehlendes verweist, sondern zugleich als produktive Leerstelle, die gesellschaftliche Ordnungen überhaupt erst denkbar und erfahrbar macht.
Dabei blieb offen – und gerade darin liegt das erkenntnisfördernde Moment – ob die Imagination als vorgängige, dem Gesellschaftlichen äußerliche Instanz zu begreifen ist oder ob sie selbst bereits als konstitutives Moment sozialer Formationsprozesse zu gelten hat. Für das Forschungsprojekt bedeutete dies eine vertiefte Reflexion über das Verhältnis von Literatur und Soziologie im Horizont eines imaginären Substrats ökonomischer Ordnungen: Literatur fungiert in dieser Konstellation nicht lediglich als Repräsentationsmedium, sondern als epistemisches Feld, in dem spekulative und imaginäre Denkformen als experimentelle Zugriffe auf soziale Wirklichkeit erprobt werden.
Aus kulturhistorischer und literaturwissenschaftlicher Sicht lässt sich Literatur so als Form des Gedankenexperiments begreifen – als eine Praxis, in der alternative Ordnungen des Sozialen imaginierbar werden und sich neue Deutungsräume für ökonomische wie gesellschaftliche Zusammenhänge eröffnen. Diese emphatische Perspektive kann zudem auf ein utopisches Denken verweisen, das weniger außerhalb der Gesellschaft steht, als vielmehr deren Möglichkeitsbedingungen literarisch reflektiert und artikuliert. Der Rückbezug auf frühere Beiträge der Workshopreihe verdeutlichte zudem, dass sowohl Spekulation als auch Imagination stets auf Mögliches bezogene Operationen sind: Sie konvergieren in der literarischen wie soziologischen Analyse zu heuristischen Instrumenten einer möglichen Gegenwartsdiagnose, die über das Gegebene hinausweist – nicht als Eskapismus, sondern als kritisches Denken in Möglichkeitsformen.
Zum Schluss wurde auf den dritten und letzten Teil der interdisziplinären Workshopreihe hingewiesen, der sich thematisch dem Konzept der „Szene“ widmen wird und die bisherigen Diskussionen zu Spekulation und Imagination um eine weitere zentrale Kategorie erweitert. Darüber hinaus ist eine Publikation geplant, die die Beiträge aus allen drei Workshops versammelt und in der die zentralen theoretischen Perspektiven und interdisziplinären Impulse des Projekts systematisch aufgearbeitet und dokumentiert werden sollen.
Programm
Introduction
Andreas Langenohl (Justus-Liebig-Universität, Gießen): „Project Overview – Sociology“
Lecture 1
Felix Hempe (Justus-Liebig-Universität, Gießen): „‘La monnaie est ce qu’elle est, et elle agit ainsi qu’elle agit, parce qu’elle es tune réalité sociale’: Tracing the Social Imaginary in François Simiand’s Economic Sociology”
Lecture 2
Jürgen Finger (Deutsches Historisches Institut, Paris): „Capitalising on Hidden Resources? The French Banker Henri Rochette on the Run”
Lecture 3
Urs Stäheli (Universität Hamburg, Hamburg): „Volatile Scents, Volatile Worth: Perfumery and the Imagination of Volatiliy in the 19th Century”
Introduction
Kirsten von Hagen (Justus-Liebig-Universität, Gießen): „Project Overview – Literature“
Lecture 4
Marie-Theres Stickel (Justus-Liebig-Universität, Gießen): „‘Il faut travailler l’opinion‘: Daniel-Lesueur’s (Writing) Work on an Economic Social Imaginary at the 1900 Paris Universal Exposition”
Lecture 5
Maximilian Bergengruen (Universität Würzburg, Würzburg): „Das Imaginäre und das Reale der Arbeit: Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘“
Lecture 6
Elisabeth Weiß-Sinn (Universität Würzburg, Würzburg): „Utopias of Consumption and Economic Conflict: War, Desire, and Belonging in Margarete Böhme’s Fiction”
Lecture 7
Anne Kwaschik (Universität Konstanz, Konstanz): „The Apple of Social Disorder: Charles Fourier and the Epistemic Limits of Market Rationality”
Lecture 8
Walter Ötsch (Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Koblenz), Patrick Makal (Universität Paderborn, Paderborn): „‘Der Markt‘ als soziales Imaginäres“
Closing Session
Joint Conceptual Discussion