Die Vermessung eines semantischen Feldes. Umkämpfte Begriffe der Migration und wie sie inventarisiert werden können

 

A Review by Nora Theml (Nora.Theml@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

 

Bartels, Inken et al. (Hg.): Umkämpfte Begriffe der Migration. Ein Inventar. Bielefeld: transcript, 2023. 348 Seiten, 29,00EUR. ISBN: 978-3-8376-5712-8.

 

Abstract

Das Inventar Umkämpfte Begriffe der Migration bietet einen tiefen Einblick in die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Migration, indem es diskursive und semantische Verschiebungen, Wandlungen und Neuerungen von „Migrationsbegriffen“ erfasst. Ein reflexiver Zugang legt Konfliktfelder, Diskurse und Machstrukturen frei. Der Leserschaft bietet der Band mehr als einen knappen Überblick über unterschiedliche „Migrationsbegriffe“, er klärt außerdem über Dynamiken von Sprache, Macht und Gesellschaft auf.

 

Review

Wie lässt sich ein Glossar sinnvoll rezensieren? Die Herausgeber_innen und Autor_innen von Umkämpfte Begriffe der Migration – ein Inventar können eine Antwort auf diese Frage geben, indem sie aus einer Aneinanderreihung knapper Begriffsbeiträge eine spannende Gesamtlektüre machen. Dass es sich bei vorliegendem Band also nicht um ein reines Nachschlage- oder Überblickswerk handelt, ist seine große Stärke.
Die zahlreichen Beiträger_innen verpflichten sich der reflexiven Migrationsforschung und wollen mit der Auswahl von insgesamt 21 alphabetisch sortierten „Migrationsbegriffen“ Schlaglichter auf umkämpfte, widersprüchlich verwendete, zweckentfremdete, stark diskutierte, mal in der Alltags-, mal in der Wissenschaftssprache verwendete Begriffe aus dem semantischen Feld „Migration“ werfen. Die „Migrationsbegriffe“ reichen von „Asyl“ über „Diaspora“ oder „Postmigrantisch“ bis hin zu „Wilkommenskultur“. Ausgewählt wurde weniger nach einer umfassenden Abbildung einzelner (migrantischer) Gruppen als vielmehr nach Begriffen, die Aufschluss über gesellschaftliche Verhandlung von Migration geben. Dabei überwiegt die Zahl neuerer und aktuell diskutierter Begriffe (genannt seien z.B. „Diversität“, „Leitkultur“, „People of Color“ oder „Postmigrantisch“) gegenüber denen, die schon länger im deutschen Sprachgebrauch zu finden sind („Asyl/Asylsuchende“ oder „Diaspora“). Der Band positioniert sich also bewusst im Feld eines hochaktuellen Diskurses. Weil der Fokus auf Konfliktfeldern und Aushandlungsprozessen unter Anerkennung der machtstrukturierenden, -gebenden oder -benennenden Funktion von Sprache gelegt wird, unterscheidet sich die Publikation von anderen, ähnlich aufgebauten Werken wie dem Glossar Begriffe der Gegenwart (Brigitta Schmidt-Lauber und Manuel Liebig (Hg.): Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar, Wien/Köln 2022) oder dem von der Bundeszentrale für politische Bildung zusammengestellten Lexikon Migration – Integration – Flucht & Asyl (https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/glossar-migration-integration/, abgerufen am 18.01.2025).


Den Beiträger_innen geht es nicht um die Darlegung der Genese und Verwendung jeweiliger Begriffe im Sinne einer klassischen Etymologie, sondern um eine bewusste Wendung auf die Konflikthaftigkeiten und Ambivalenzen der „Migrationsbegriffe“. Es soll also, um Koselleck zu bemühen, ein semantisches Feld ausgemessen werden (Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 123). Wie sich dieses Feld für die Leserin erschließt, hängt von der Art des Lesens ab: Die einzelnen, recht knapp gehaltenen Beiträge bieten einen guten Einstieg, möchte man sich über gegenwärtige und vergangene Debatten und Deutungskämpfe um einzelne „Migrationsbegriffe“ informieren. Hier erweisen sich die Literaturangaben und bibliographischen Hinweise „zum Weiterlesen“ als besonders nützlich. Wird der Band „am Stück“ gelesen und werden die einzelnen Beiträge während der Lektüre zueinander in Bezug gestellt, bietet er Antworten auf ganz grundlegende Fragen nach Entstehung, Verwendung und Wandel von „Migrationsbegriffen“ im deutschsprachigen Raum. Denn erst durch das Nebeneinander der einzelnen Beiträge ergibt sich ein Gesamtbild der Vielzahl an umkämpften Begriffen der Migration.


Die einzelnen Texte greifen auf mehreren Ebenen ineinander. Dieter Gosewinkel und Anna Katzy-Reinshagen definieren im Beitrag „Ausländer“ (S. 46 ff.) den Begriff in seiner bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts primären Verwendung zur Beschreibung einer territorialen und rechtlichen Verfasstheit. Neben diese Dimension tritt erst in jüngerer Zeit eine politische Aufladung des Begriffs, einhergehend mit diskriminierender und pejorativer Funktion (S. 56). „Ausländer“ – passenderweise einer der ersten Beiträge im Buch – steht damit also am Beginn eines Prozesses der Diversifizierung im Bereich der Benennung und Bewertung von Zuwanderungen, von denen ebenfalls einige im Band thematisiert werden. Beispielhaft sei hier Helen Schwenkens Beitrag zu „Care-Migration“ genannt (S. 75 ff.). Schwenken zeigt auf, wann und wie Begriffe durch Kritik – in diese Falle feministische Kritik – an gesellschaftlichen Zuständen manifest werden. „Care-Migration“ grenzt sich damit von „schon immer da gewesenen“, vermeintlichen anthropologischen Konstanten wie „Ausländer“ ab, die dadurch zum Gegenstand von Kritik, Reflexion und Dekonstruktion werden. Diese Schnelllebigkeit und Reaktivität von Sprache stehen ihrer anderenorts thematisierten Beharrlichkeit und weit zurückreichenden ideellen Aufladung – wie etwa Karsten Schmidts Beitrag zu „Muttersprache“ (S. 237 ff.) offenlegt – gegenüber.


Es ist Verdienst aller Beitragenden, dass die Verknüpfung der einzelnen Texte untereinander gelingt, obwohl sie sich keineswegs einer einheitlichen Form verpflichtet haben. Gemeinsam haben aber dennoch alle Texte, dass sie Machtstrukturen, Hierarchisierungen, Bewertungen und normative Aufladungen, speziell im Kontext von Rechtsstatus und sozialem Status zuverlässig zu identifizieren und benennen wissen. Das scheint auch Intention der Herausgeber_innen zu sein, die im Einleitungstext als zentrales Anliegen „die Konflikthaftigkeit migrationsbezogener Debatten besonders im Hinblick auf ihre diskriminierenden Effekte und die sie strukturierenden Machtverhältnisse zu beleuchten“ (S. 7) nennen. Besonders gelungen ist dies Helge Schwiertz und Katarzyna Winiecka mit ihrem Text zur „Fluchthilfe“ (S. 135 ff.), der überzeugend darlegt, wie Machtstrukturen und Sprache zueinander in Beziehung stehen. Fluchthilfe als Praktik und damit „Fluchthilfe“ als Begriff, so die beiden Autor_innen, habe überhaupt erst durch die Illegalisierung von Grenzübertritten entstehen können (S. 137). Erst in den 1990er Jahren wurde die „Fluchthilfe“, unter der Bezeichnung „Schlepperei“, völkerrechtlich strafbar (S. 138 f.). Ob im öffentlichen Diskurs nun von „Schleppen“ bzw. „Schleusen“ oder von „Fluchthilfe“ gesprochen werde, hänge davon ab, wem geholfen wird: Die Bewertung der Praktik schwankt zwischen Heroisierung, Viktimisierung und Dämonisierung (S. 139).


Das Inventar beschränkt sich auf Begriffe aus dem deutschsprachigen Raum, in Bezug auf juristische Genesen, soziale Hierarchien und gesellschaftliche Debatten sogar ausschließlich auf den bundesrepublikanischen Raum. Das ist insofern nachvollziehbar und aufschlussreich, als dass der Raum hier durch die Sprache bestimmt wird. Anderssprachige „Migrationsbegriffe“ bringen ihrerseits andere Implikationen, Machtstrukturen, Gesetze und Konnotationen mit sich. Mit Ausnahme der Beiträge „Umsiedler/Aussiedler“ von Jannis Panagiotidis und „Fluchthilfe“ von Schwiertz und Wienicka bleiben divergierende semantische Entwicklungen während der deutschen Teilung allerdings unberücksichtigt. Das ist schade, denn gerade ein innerdeutscher Vergleich derselben Begriffe, die in unterschiedlichen Deutungstraditionen stehen, wäre sicherlich sehr aufschlussreich.


Die Kritik an der Unvollständigkeit des Bandes kann aber durch das parallel veröffentlichte Online-Inventar abgefangen werden. Auf der Website Inventar der Migrationsbegriffe (https://www.migrationsbegriffe.de/, abgerufen am 15.01.2025) finden sich alle Beiträge, die der Leserin auch in gedruckter Form vorliegen, darüber hinaus aber noch weitere, die keinen Eingang in das Buch gefunden haben. Der große Vorteil des erweiterbaren (und stetig erweiterten) Online-Inventars ist die Möglichkeit, auf zukünftige Debatten und Diskurse zu reagieren, neue Wortschöpfungen aufzunehmen und semantischen Wandel zu verzeichnen. Außerdem verfügt es über Querverweise innerhalb der einzelnen Beiträge, die einen direkten Exkurs zu weiteren Begriffseinträgen ermöglichen. Das Online-Inventar bildet also die Überlappung, Verschränkung, Beeinflussung und Gegenüberstellung im semantischen Feld der „Migrationsbegriffe“ noch angemessener ab, als es das vorliegende Buch tun kann.


English Abstract

Mapping of a Semantic Field: Disputed Terms of Migration and How They Can Be Catalogued

The inventory Disputed Terms of Migration provides an in-depth insight into society’s engagement with migration by capturing discursive and semantic shifts, transformations, and innovations in ‘migration terms.’ A reflexive approach uncovers conflict areas, discourses and power structures. This collection offers the reader more than a brief overview of different ‘migration terms,’ it also sheds light on the dynamics of language, power, and society.