Gattungsgeschichte hinterfragen mit Pierre Bourdieu – der Fall des Bildungsromans
Eine Rezension von Irad Ben Isaak (irad.ben.isaak@hu-berlin.de)
Humboldt-Universität zu Berlin
Böhm, Elisabeth; Katrin Dennerlin (Hg.): Der Bildungsroman im literarischen Feld – neue Perspektive auf eine Gattung. Berlin: De Gruyter, 2016. 308 Seiten, 100 EUR. ISBN 978-3-11-047481-7.
Abstract
Der Sammelband Der Bildungsroman im literarischen Feld entwickelt die Verwendung von Bourdieus Feldtheorie für die Hinterfragung der Gattungsgeschichte des Bildungsromans. Er beschäftigt sich in erster Linie mit der Frage, warum einige Bücher in dem Kanon dieser Gattung als zentral gelten, während andere – obgleich mit ähnlichen textuellen Merkmalen – eher randständig im Genre des Bildungsromans sind. Durch Untersuchung von Sekundärliteratur, Rezeptionen und Rezensionen beschreiben die Beiträge wie seit der Etablierung des deutschen literarischen Feldes um 1800 Autor_innen um eine bessere Position in dem Gattungsfeld konkurrieren und welche Positionierungsstrategien dabei verwendet wurden. Die Analysen sind nachvollziehbar und überzeugend. Daneben sind die im Buch entwickelten Perspektiven und Begrifflichkeiten aussagekräftig, auch für zukünftige Auseinandersetzungen mit literatursoziologischen Fragen über Gattungsentwicklung und -differenzierung.
Rezension
Der Sammelband Der Bildungsroman im literarischem Feld bietet eine alternative Geschichte der Entwicklung des literarischen Genres ‚Bildungsroman’ in der deutschen Literatur. Der Ausgangspunkt, laut dem es keinen essenziellen Kern von innertextuellen Merkmalen des Bildungsromans gibt, wird deutlich und überzeugend dargestellt. Traditionelle Analysen von literarischen Merkmalen eines Textes werden dahingehend untersucht, ob sie als Positionierungsstrategien im literarischen Feld funktionieren. Dafür werden detailliert Sekundärliteratur, Rezensionen, sowie Texte von Philolog_innen und Literaturwissenschaftler_innen analysiert. Zugleich wird gezeigt, wie sie durch performative Akte und Positionierungsstrategien im literarischem Feld auftreten, und dadurch die Ausbildung von Gattungen und Subgattungen mit konstruieren beziehungsweise verhandeln.
Die Beitragenden des Bandes, hauptsächlich deutsche Germanist_innen, verwenden dabei die Theorie und Begrifflichkeit des einflussreichen französischen Soziologen Pierre Bourdieus (1930-2002). Aus der bourdieuschen Perspektive besteht die menschliche Gesellschaft aus „Feldern“, das heißt Sphären oder Arenen, in denen verschiedene Akteur_innen über Positionen und feldspezifische Belohnungen konkurrieren. In diesem Rahmen wird im Buch die etablierte Geschichte der Gattung Bildungsroman dekonstruiert. Bourdieus theoretische Metaphern werden hier dahingehend weiterentwickelt, dass die Literatur als ein soziales Feld gesehen werden kann, in dem verschiedene Akteur_innen um Feldpositionen ringen. Beschrieben wird etwa wie um 1800 das deutsche literarische Feld überhaupt erst entstanden ist, und zwar durch soziale Tatsachen wie die Entwicklung von Pressefreiheit, Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen. Das damals entstandene deutsche literarische Feld funktioniert in diesem theoretischen Sinne wie jedes andere bourdieusche Feld. In diesem Bild werden konsensuelle gattungsgeschichtliche Gegebenheiten hinterfragt – warum zum Beispiel gerade Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre in die angesehene Feldposition des Gattungsbegründers bzw. des Prototyps einer Gattung einsortiert wurde, und eben nicht andere Romane dieser Zeit, die über die gleichen literarischen Merkmale verfügten?
Das Buch verortet sich zwar bewusst innerhalb der Germanistik, es fehlt aber trotzdem die detailliert internationale Perspektive, zumal das Genre des deutschsprachigen Bildungsromans größten Einfluss auf die allgemeine Literatur hatte. So wird etwa in mehreren Ländern der deutsche Begriff ‚Bildungsroman’ für Coming-Of-Age-Romane verwendet. Gerade der im Buch erfolgreich entwickelte theoretische Rahmen bietet die entsprechenden Werkzeuge für die Auseinandersetzung mit gattungsgeschichtlichen Fragen auf einer transnationalen Ebene: Wie kommt es beispielsweise dazu, dass sich ein Roman über die Jugendjahre eines Mädchens oder Knabens in Länder außerhalb Europas als Bildungsroman klassifizieren lässt? Das beste Beispiel zur Relevanz des sozialen beziehungsweise literarischen Feldes im Vergleich zu den rein textuellen Merkmalen der Gattungszuschreibung und Rezeption eines Buches, bietet die Welt außerhalb des deutschen bzw. literarischen Feldes. So zeigt etwa Simone Schiedermair in ihrem Beitrag, wie schnell sich die Zuschreibung eines Buches ändern kann, wenn es in eine andere Sprache übersetzt und damit auf eine andere Kultur oder ein anderes literarisches Feld bezogen wird. Schiedermair untersucht das Fallbeispiel eines Buches, das in Deutschland explizit als Bildungsroman gelesen und verhandelt wurde, aber nach der Übersetzung in der skandinavischen Literaturwelt nur als ein „DDR-Roman“ rezipiert wurde.
Insgesamt erzeugt die durchdachte Anwendung von Bourdieus Feldtheorie erhellende Ergebnisse, die uns traditionelle, verfestigte Kategorien in der Literaturwissenschaft und Gattungsgeschichte neu denken lässt. Der Sammelband als Ganzes bietet einen wichtigen Beitrag zur Literatursoziologe und Gattungsforschung, indem er die bourdieuschen Metaphern und Modellen aussagekräftig verwendet und weiterentwickelt. Er kann als Beispiel und Vorbild für zukünftige Auseinandersetzungen mit Fragen zur Kanonisierung, Gattungsbegründung und Gattungswandel verwendet werden – sowohl mit Blick auf Bildungsromane, als auch hinsichtlich anderer Genres im internationalen Zusammenhang.
English Abstract
Questioning the History of the Bildungsroman with Pierre Bourdieu
The edited volume Der Bildungsroman im literarischen Feld sketches an alternative history of the ‘Bildungsroman’ genre through a careful observation of reception and secondary literature. By applying Pierre Bourdieu´s field theory, the book depicts the German literary world as a literary field where the authors as social agents are fighting over positions. It traces the development of the German Bildungsroman from its beginning until today, asking how it happens that some novels are considered central in the genres canon, while others with exactly the same textual features are not. This innovative approach proves to be convincing and develops a theoretical framework that seems promising for dealing with future questions about the development and differentiation of literary genres.
Copyright 2017, IRAD BEN ISAAK. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).