Ewige Wiederkunft des Gleichen?! Zur Grammatik konservativer Krisenerzählungen

A Review by Henning Tauche (Henning.Tauche@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

 

Schilk, Felix: Die Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten. Zur politischen Soziologie konservativer Krisennarrative. Bielefeld: transcript, 2024. 438 Seiten, 46,00 EUR. ISBN: 978-3-8376-7471-2.

 

Abstract

In Die Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten analysiert Felix Schilk konservative Kernnarrative, welche es den Rechten ermöglichen, unterschiedliche Krisenerfahrungen in ein kohärentes Sinnkonstrukt zu integrieren. Schilk zeigt, wie die Neue Rechte als „Erzählgemeinschaft“ konservative Denkstile tradiert und zugleich durch narrative Flexibilität diskursive Koalitionen über rechte Diskursräume hinweg bildet. Seine Studie bietet einen tiefen Einblick in die politischen Narrationen der Neuen Rechten.

 

Review

Spätestens seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie stehen die Zeichen der Zeit auf Krise. Begriffe wie ‚Krisengesellschaft‘, ‚Polykrisen‘ und ‚multiple Krisen‘ haben längst leitmotivische Funktion in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung angenommen. Vor dem Hintergrund vermehrter und intensiverer Konflikt-, Verlust- und Unsicherheitserfahrungen drängt sich die Annahme auf, dass die jüngste Geschichte kaum noch als Fortschritt, sondern vielmehr als Krise erzählt werden kann.


Der Konservatismus, selbst ein Kind moderner Krisen- und Umbruchzeiten, sei mit einem festen Repertoire an Krisennarrativen für diesen Erzählmodus bestens gewappnet, so der Soziologe Felix Schilk in seiner 2024 erschienen Dissertation Die Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten. Schilk identifiziert darin drei Kernnarrative, die im Konservatismus immer wieder aufgegriffen werden: Der Mensch sei spätestens seit der Moderne entfremdet, die Gegenwart im Zustand der Dekadenz gefangen und am Horizont drohe der apokalyptische Untergang.


Als „Filiation des Konservatismus“ (S. 18) greift die Neue Rechte auf dieses Erzählarsenal zurück und trägt damit zur Bewahrung und Tradierung des konservativen Denkstils bei. Diese Krisennarrative entfalten weitreichende Resonanz auch über rechte Diskursräume hinaus, da sie vielfältige Anschlussmöglichkeiten und Berührungspunkte zu anderen Deutungsmustern bieten. Felix Schilk stellt die Rekonstruktion und Typologisierung dieser konservativen Krisennarrative in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Dazu analysiert der Sozialwissenschaftler zentrale metapolitische Zeitschriften der französischen Nouvelle Droite (Éléments) und der deutschen Neuen Rechten (Criticón und Sezession) und deckt damit insgesamt einen Untersuchungszeitraum von etwa 1970 bis 2023 ab. Methodisch orientiert sich Schilk an der wissenssoziologischen Diskursanalyse, die er durch narratologische Überlegungen ergänzt.


Die Monografie gliedert sich in fünf Hauptkapitel. Nach einer überblicksartigen Einleitung steckt der Autor im zweiten Kapitel das begriffliche und historische Terrain der Soziologie des Konservatismus ab. Schilk charakterisiert den Konservatismus nicht als statische, sondern als dynamische und anpassungsfähige Denkrichtung. Der Autor argumentiert, dass Konservatismus in seinen Dimensionen als dogmatischer Denkstil sowie als metapolitische Strategie und gouvernementale Sozialtechnik trennscharf beschrieben werden kann.


Das methodische Vorgehen ist Gegenstand des dritten Kapitels. In diesem führt Schilk auch sein Verständnis der Neuen Rechten als ‚Erzählgemeinschaft‘ aus. Unter Erzählgemeinschaften versteht er Kollektive, deren Verbundenheit sich aus einem gemeinsamen Bestand an Erzählmustern und Sinnstrukturen ergibt. Im folgenden Kapitel führt der Soziologe in die ‚entangled history‘ zwischen der (west-)deutschen Neuen Rechten und der französischen Nouvelle Droite ein und verortet die untersuchten Zeitschriften in ihrem historischen und gattungsspezifischen Kontext.


Im fünften Kapitel erfolgt schließlich die Ergebnisdarstellung der Narrations- und Diskursanalyse. Schilk argumentiert, dass das wesentliche Merkmal des Konservatismus in seinem spezifischen Zeitverständnis zu suchen sei, das sich in verschiedenen Krisenerzählungen der Entzweiung, Dekadenz und Apokalypse artikuliert. Diese Narrative verortet der Autor ideengeschichtlich und beschreibt sie als idealtypische Deutungsmuster. Diese treten laut Schilk selten isoliert auf, sondern sind miteinander verschränkt. Schilk betont in diesem Zusammenhang, dass diese Erzählmuster dem Konservatismus keinesfalls vorbehalten sind. Vielmehr handelt es sich um transversale Krisennarrative, die auch in anderen ideologischen Kontexten wiederzufinden sind, etwa bei linken Entfremdungsdiagnosen oder apokalyptischen Deutungen der Klimakrise. Diese Narrationsmuster erhalten ihren eindeutig konservativen Charakter in dem Moment, in dem sie als Bestandteile eines „rechten Erzählzyklus“ (S. 290) fungieren: Auf die Entzweiung folgt eine Phase des dekadenten Verfalls, die schließlich über einer apokalyptischen Klimax zu einem Neubeginn führt.


Die diskursive Anpassungsfähigkeit dieser Erzählmuster liegt darin begründet, dass sie jeweils zwei Lesarten aufweisen. So kann das Entzweiungsnarrativ als ontologisches Deutungsmuster entweder als die Verteidigung traditioneller Werte gegen moderne Entfremdungsprozesse („traditionalistisch“) oder als Ablehnung jeglicher utopischen Denkweisen („anti-utopisch“) auftreten. Das Dekadenznarrativ erfüllt die moralische Deutungsfunktion, indem es entweder den Kulturverfall der Massengesellschaft („anti-transgressiv“) oder die vermeintlich totalitäre Dominanz liberaler Eliten („anti-totalitär“) kritisiert. Das Endzeitlichkeitsnarrativ zeichnet sich schließlich durch „katechontische“ Bemühungen aus, den drohenden Untergang aufzuhalten, oder durch „akzelerationistische“ Bestrebungen, ihn bewusst herbeizuführen. Anhand dieser Typologie gelingt es Schilk überzeugend, die Ambivalenzen und Aporien, aber auch die Anschlusspotenziale rechter Erzählungen aufzuzeigen.


Im sechsten Kapitel zeigt Schilk, wie konservative Krisennarrative zur Bildung von Diskurskoalitionen beitragen. Dabei verdeutlicht er, dass sich die Verknüpfung dieser Narrative mit rechtspopulistischen, verschwörungstheoretischen, antisemitischen und esoterischen Weltanschauungen durch strukturelle Parallelen und inhaltliche Überschneidungen ihrer Erzählmuster erklären lässt. Diese Dynamik bezeichnet Schilk als „postkonservative Bricolage“, um darauf aufmerksam zu machen, wie die neurechte Erzählgemeinschaft „Begriffe, Theoriefragmente und Erzählungen immer wieder neu arrangiert, ohne dabei die untergründigen, dem Konservatismus entliehenen narrativen Muster zu verändern” (S. 344).


Schilk legt mit seiner Studie eine der erkenntnisreichsten Arbeiten zur Neuen Rechten der letzten Jahre vor. Seit etwa einem Jahrzehnt hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten wieder Konjunktur, wobei nicht selten durch mangelnde Kenntnis des bisherigen Forschungsstands alte Erkenntnisse als neue Ergebnisse präsentiert werden. Mit seinem Verständnis der Neuen Rechten als Erzählgemeinschaft rückt Schilk die entscheidende Frage nach den kultur- und sinnkonstruierenden Dimensionen dieses Denkkollektivs von der Peripherie ins Zentrum und erweitert damit die bislang überwiegend akteurszentrierten und ideologiekritischen Ansätze.


Die besondere Leistung dieser Arbeit besteht darin, zu zeigen, dass den neurechten Erzählungen zwar Dichotomien immanent sind, diese aber in keiner Weise zu einem Plausibilitätsverlust der Narrative führen, sondern vielmehr die Bedingung dafür sind, dass sehr unterschiedliche Krisenerfahrungen in ein kohärentes Sinn- und Identitätskonstrukt überführt werden können. Schilk macht deutlich, dass die Redundanzen und Ambivalenzen des konservativen Denkens keineswegs als logische Schwächen zu unterschätzen sind, sondern im Gegenteil gerade eine strategische Stärke darstellen. Die Krisennarrative bieten der Neuen Rechten eine semantische Flexibilität, die es ihr erlaubt, den eigenen Diskursraum immer wieder zu überschreiten und Koalitionen jenseits des eigenen Terrains zu bilden.


Gleichwohl lässt die Arbeit auf der analytischen Ebene eine gewisse Differenzierung der Akteur_innen vermissen, schließlich handelt es sich bei der Neuen Rechten um ein ideologisch wie strategisch heterogenes Feld. Dabei hätten bereits der Untersuchungszeitraum sowie die Auswahl des Untersuchungsmaterials einen diachronen und synchronen Vergleich nahegelegt. Zwar weist Schilk darauf hin, dass sich die zentralen Krisennarrative seit Jahren nicht verändert haben. Dennoch erlaubt es die kleinteilige Differenzierung seiner Typologie, die Unterschiede, Verschiebungen und Entwicklungslinien der verschiedenen Strömungen der Rechten in Deutschland und Frankreich herauszuarbeiten. Schließlich besteht gerade in stark abstrahierenden, strukturalistischen Betrachtungen die Gefahr, Besonderheiten und Ambivalenzen mit dem typologischen Hammer zu erschlagen.


Kritisch anzumerken ist zudem, dass das Verhältnis von Konservatismus und Neuer Rechten letztlich unscharf bleibt. Zwar charakterisiert Schilk die Neue Rechte „als eine spezifische zeitgenössische Ausprägung des konservativen Denkstils“ (S. 149). An anderer Stelle wird hingegen erklärt, dass der „Konservatismus und die Neue Rechte als relativ ähnliche, aber zum Teil unterschiedlich skalierte Phänomene“ (S. 18) zu verstehen seien. Die genaue Ausgestaltung dieses Beziehungsgeflechts zwischen beiden bleibt indes unklar. Dennoch gelingt es Schilk deutlich zu machen, dass die Verortung der Neuen Rechten in der Denktradition des Konservatismus keineswegs eine Verharmlosung darstellt, sondern vielmehr zu ihrer Gefährlichkeit für pluralistische Gesellschaften beiträgt.


Besondere Brisanz erhalten Schilks Ausführungen vor dem Hintergrund der doppelten Orientierungskrise der Gegenwart: Zum einen führt der Verlust der Fortschrittserzählung in der Spätmoderne zu einer temporalen Desorientierung und geschichtlichen Sinnkrise (Hartmut Rosa: Beschleunigung. Frankfurt am Main 2005, 402 ff.), zum anderen gerät das Erzählen selbst in eine Krise, in der die Dominanz des kommerzialisierten Storytellings der Imagination von völlig anderen Lebensweisen entgegensteht (Byung-Chul Han: Die Krise der Narration. Berlin 2023, S. 95 f.). In dieser Gemengelage wird sich vieles daran entscheiden, ob es gelingt, den neurechten und konservativen Erzählungen andere Narrative entgegenzusetzen.


English Abstract
The Eternal Return of the Same?! On the Grammar of Conservative Crisis Narratives
In Die Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten, Felix Schilk analyzes conservative core narratives that enable the Right to integrate different experiences of crisis into a coherent structure of meaning. Schilk demonstrates how the New Right, as a “narrative community,” simultaneously preserves a conservative style of thought and uses narrative flexibility to build discursive coalitions beyond right-wing discourse. His book provides deep insights into the political storytelling of the New Right.