Improvisation. Überall. Das Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies
Eine Rezension von Fabian Goppelsröder (fabian.goppelsroeder@gmail.com)
Freie Universität Berlin
Lewis, George E. und Benjamin Piekut (Hg.): The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies. Volume 1. Oxford: Oxford University Press, 2016. 616 Seiten, 97 GBP. ISBN: 9780195370935.
Lewis, George E. und Benjamin Piekut (Hg.): The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies. Volume 2. Oxford: Oxford University Press, 2016. 600 Seiten, 97 GBP. ISBN: 9780199892921.
Abstract
Mit dem von Georges E. Lewis und Benjamin Piekut herausgegebenen Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies macht ein sich bisher eher informell entwickelnder Diskurs einen großen Schritt in Richtung seiner endgültigen Institutionalisierung innerhalb der Scien-tific Community. Dabei zeigen die beiden umfangreichen Bände sowohl die Heterogenität der Forschung als auch ihr Potenzial. Dass Improvisation nicht auf eine spezifische Form künstlerischer Praxis beschränkt werden kann, sondern Kern allen kreativen Tuns und also jeder Praxis ist, machen sowohl die Anlage des Handbuchs wie die einzelnen Beiträge deut-lich. Damit rührt das Unternehmen aber auch an die allgemeinere Frage, inwiefern Improvi-sation ästhetisch oder aber primär ethisch gesehen werden muss.
Rezension
Man improvisiert, wenn man keinen Plan hat. Diesem doppelt negativen Verständnis von Improvisation als dem Fehlen eines klaren Handlungsskripts, was selbst wiederum fehlerhaft, imperfekt ist, wird in den Geistes- und Kulturwissenschaften nun schon seit einiger Zeit entgegengearbeitet. ‘Planlos’ zu agieren, ist nicht notwendigerweise schlecht, Improvisation nicht einfach nur Notnagel und Lückenfüller. Sie kann auch als Stärke beschrieben werden, als Fähigkeit zu nicht schon im Vorhinein festgelegtem Handeln, als Möglichkeit, kreativ auf unvorhergesehene Herausforderungen zu reagieren.
In dieser Allgemeinheit hat sich die Frage der Improvisation aus dem ihr ursprünglich nächsten Fachdiskurs der Musik und des Jazz gelöst. So sehr musikalische Improvisation in der Debatte immer noch paradigmatisch für improvisatorisches Handeln überhaupt steht - als Paradigma verweist sie weniger auf die Besonderheit einer bestimmten künstlerischen Praxis als auf Aspekte von Ästhetik und Kreativität allgemein. Der 2010 von Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke veröffentlichte Sammelband Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis oder der im selben Jahr erschienene, von Marina Santi herausgegebene Konferenzband Improvisation: Between Technique and Spontaneity sind dabei nur zwei Beispiele, wie das Thema in unterschiedli-chen Wissenschaftsfeldern an Relevanz gewinnt. Umfassende Studien wie Silvana Figueroa-Drehers Improvisieren. Material, Interaktion, Haltung und Musik aus soziologischer Perspek-tive von 2016 zeigen zudem, wie das Thema auch zu Neuausrichtungen der Fragestellungen und Methoden einzelner Disziplinen führen kann.
Vor diesem Hintergrund sind die im letzten Jahr erschienenen zwei Bände des Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies eigentlich keine Überraschung. Die Herausgeber Georges E. Lewis und Benjamin Piekut sprechen in ihrer Einführung selbst davon, dass Critical Improvisation Studies in den letzten Jahren regelrecht ‘explodiert’ seien (S. 2). Dabei ernten sie mit ihrem insgesamt knapp 1200 Seiten starken und 55 Einträge umfassenden Großunternehmen auch die Früchte ihrer eigenen Arbeit. Insbesondere Lewis arbeitet auf praktischer wie theoretischer Ebene seit mehr als einem Jahrzehnt an diesem Thema. Das Handbuch ist damit wohl auch der Versuch, in jedem Fall ein Schritt in Richtung der Institutionalisierung eines Diskurses, der sich bisher trotz stärker werdender Beachtung vor allem als eine Art Liebhaberprojekt einzelner Forscher_innen und Denker_innen entwickeln konnte. Wie groß und weit verbreitet dieses Interesse an der Improvisation zwischenzeitlich aber ist, zeigt nicht zuletzt die beeindruckende Vielfalt der Beiträge des Handbuchs. Neben der Kognitionswissenschaft, der Philosophie und den Kulturwissenschaften versammelt der erste Band auch Beiträge aus Wirtschaft und Management. Und der eher auf konkrete Fallstudien fokussierte zweite Band beschränkt sich nicht auf Musik und die Künste, sondern integriert auch Stadtplanung, Technologie und Medien. Der grundlegende Gedanke ist, Annäherungen aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Thema vorzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Dem Anspruch der Oxford Handbook-Serie, einen „authoritative and state-of-the-art survey of current thinking and research in a particular subject” zu leisten, werden die beiden Bände durchaus gerecht. Zugleich ist die Handhabbarkeit des Handbuchs durch die doch sehr unterschiedlichen und sehr spezifischen Beiträge nicht unbedingt die eines schnell zu konsultierenden Nachschlagewerks.
Tatsächlich scheint das Ziel des Unternehmens auch gar nicht auf die Organisation und Legitimierung schon laufender Forschung beschränkt zu sein, sondern auch darin zu liegen, Improvisation als “way of life” zu verstehen (S. 13). Man kann hierin einen ethischen Impuls sehen, dem es weniger auf Improvisation als isolierbarer Handlung denn als genereller Haltung ankommt. Wie es Ted Gioia schon 1987 für den Jazz reklamierte, so muss man wohl mit Lewis und Piekut davon ausgehen, dass der Mensch in all seinem Tun wesentlich imperfekt ist, seine Handlungen also immer einen improvisatorischen Anteil aufweisen. Wie man diesem nun begegnet, ist eine Frage der Einstellung. Und erst derjenige, dem das Imperfekte nicht primär Problem, sondern Chance ist, improvisiert wirklich.
So sind die einzelnen Essays der beiden Bände eben auch weniger als die Einkreisung eines Phänomens zu lesen, denn als die Annäherung an eine Haltung. So möchte Tracy McMullan “The Improvisative” als ein anderes Verhältnis zum Gesetz verstanden wissen, eines, dem Brüche und Abweichungen weniger Fehler als Möglichkeiten – “opportunities” wie Miles Davis sie nannte – sind (S. 115-127). Ihr Beitrag lässt sich so auch als der Versuch verstehen, diesem Verständnis von Improvisation eine erste theoretische Fassung zu geben. Wir entscheiden uns nicht zu improvisieren. Menschliche Praxis ist notwendig imperfekt. Erkennt man diese Bedingtheit als konstitutiv für unser Tun an, zeigt es sich in grundlegend neuem Licht. Der scheinbare Anker unserer Rationalität, “the brain itself can be considered an im-proviser”, wie Aaron L. Berkowitz notiert (S. 66). Sprache ist nicht die korrekte oder eben falsche Umsetzung von durch Grammatik und Vokabular gesetzter Vorgaben, sondern selbst eine Improvisation, die Aspekte wie Rhythmus, Atmosphäre und Stimmung umfasst. Anstatt ausschließlich nach der Sprachähnlichkeit von Musik zu suchen, lässt sich die Frage auch umkehren, wie es David Lidov mit seiner Is language a music? übertitelten Aufsatzsammlung schon 2004 versuchte. Die Musikalität von Sprache zeigt sich damit weniger in der Melodik von Stimme und mündlicher Kommunikation, als in ihrer situativen, materialen Gestalthaftigkeit. Dass diese Situationsbindung nicht mit einer ad-hocness im zeitlichen Sinne gleichzusetzen ist, zeigt sich mit Timothy Hamptom in Texten wie Michel de Montaignes über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg geschriebenen Essays. Es sind gerade die Veränderungen, Ergänzungen und Modifikationen, die diese Texte als “out of the practice of improvisation” (S. 227) hervorgegangen markieren. Wenn Improvisation vor allem eine Haltung gegenüber der Fehlerhaftigkeit des eigenen Tuns ist, die produktive Einstellung gegenüber dem notwendig Imperfekten menschlicher Praxis, dann ist diese auch in zeitlich ausgedehnten Prozessen möglich.
Nicht alle der Beiträge des Handbuchs beschäftigen sich direkt oder explizit mit der grundlegenden Frage der Improvisation als Haltung. Es gibt eher historische und stärker philosophisch ausgerichtete Texte, kritische Interventionen und pragmatische Vorschläge zur Integration des kreativen Potentials von Improvisation in zunächst wenig improvisiert erscheinende Vorgänge und Prozesse.
Und doch bleibt die Frage der Improvisation gerade in diesem Handbuch immer auch eine der Ethik. Improvisation ist nicht Beliebigkeit, kein ‘anything goes’ im schlechten Sinne. Sie beinhaltet einen radikalen ethischen Anspruch. Insofern ist es kein Zufall, dass Arnold Davidson, Philosoph an der Universität Chicago und langjähriger Kollaborateur George E. Lewis’, in seinem Beitrag Improvisation mit der Reflexion auf spirituelle Übungen im Anschluss an Pierre Hadot verknüpft und gerade die ihr innewohnende Imperfektion zur nicht endenden Herausforderung eines “Moral Perfectionism” werden lässt (S. 523-538).
Damit aber ist das Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies weit mehr als bloß Werkzeug künftiger Improvisationsforscher. Es ist ein Statement darüber, in welcher Hinsicht die Frage der Improvisation ihre grundlegende Relevanz entwickelt. Das macht die Lektüre der beiden Bände aufwendiger als das partielle Lesen einzelner Einträge eines konventionellen Handbuchs - und zugleich erst eigentlich interessant.
English Abstract
Improvisation. Everywhere. The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies
Georges E. Lewis’ and Benjamin Piekut’s Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies is another step toward the scientific institutionalization of a hitherto rather informal discourse. The two volumes are proof of both the heterogeneity and the particular potential of this field of research. That improvisation is more than just a particular artistic practice but the core of creativity as such and hence of any praxis, is implicit to the handbook’s overall conception as well as to most of its contributions. That way, however, the project also touches on the wider question: whether improvisation has to be understood aesthetically or primarily from an ethical standpoint.
Copyright 2017, FABIAN GOPPELSRÖDER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).