Erased de Kooning Drawing. Stemmrich plädiert auf Unschuld im Vatermordfall
A Review by Navid Nail (Navid.Nail@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)
Stemmrich, Gregor. Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing (1953), Modernismus, Literalismus, Postmodernismus., Berlin: Hatje Cantz Verlag, 2023. 1072 Seiten, 155 Abb., € 54,00 EUR. ISBN: 978-3-7757-5502-3.
Abstract
Gregor
Stemmrichs Studie zu Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing
(1953) hinterfragt dessen Deutung als Ikonoklasmus und löst sich zugleich
von einer singulären Lesart. Durch Kontextualisierung und Theoretisierung
zeigt er, wie das Werk Modernismus, Literalismus und Postmodernismus in
sich vereint. Stemmrich erweitert den Deutungshorizont und reevaluiert die
Bedeutung des Werks im 20. Jahrhundert. Seine Publikation stellt einen
unverzichtbaren Beitrag zur Rauschenberg-Forschung dar und ist ebenso ein
relevanter, wenn auch herausfordernder, Beitrag zur Kunstentwicklung der
Nachkriegszeit.
Review
„Uns Kunsthistoriker als ‚artistes manquees‘ faszinieren die großen unvollendeten Projekte der Kunstgeschichte, die wir in Gedanken zu Ende führen dürfen“ (Wolfgang Kemp: „Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David. Eine neue Interpretation des ‚Schwurs im Ballhaus,‘“ Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 21, 1986, S. 165). Mit diesen Worten beginnt Wolfgang Kemp seinen Aufsatz Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David, der die Methodologie der Rezeptionsästhetik in der Kunstgeschichte mitbegründete. Im Falle des von ihm untersuchten Ballhausschwurs schaut man auf Skizzen und imaginiert sich das, was hätte kommen sollen – die Vollendung des Projekts. Robert Rauschenbergs über 150 Jahre später erschaffenes Erased de Kooning Drawing stellt den Eingangssatz Kemps auf den Kopf und zeigt, dass Vollendung nicht zwangsläufig durch additive Verfahren erfolgen muss: Betrachten wir das Werk, stehen wir vor einem vollendeten Projekt der Kunstgeschichte, das uns fasziniert, weil es eine Zeichung ausradierte, darin Vollendung fand und unsere Gedanken zum Anfang führt – vom Werk zur 'Skizze' statt von der Skizze zum Werk.
Da an Kunstwerke generell der Anspruch gestellt wird kohärent zu sein, bedingt ein Kunstwerk, dass sich durch ein Fehlen auszeichnet, einen erhöhten Rezeptionsaufwand – nicht zwangsläufig, um das Fehlen auszugleichen, sondern weil es Kontexte und ontologische Überlegungen aufruft, die einen entsprechenden Raum benötigen. Gregor Stemmrichs Auseinandersetzung mit Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing ist Zeugnis davon. Sie begann 1995 und mündete in ein Buchprojekt, bei dem der Autor nach eigener Aussage nicht nur den Realisierungszeitraum falsch eingeschätzt hatte, sondern auch der Umfang seine Pläne übertraf. Seit letztem Jahr ist das 1072 Seiten starke Monumentalwerk über Rauschenbergs Ausradierung in deutscher und englischer Sprache im Hatje Cantz Verlag erhältlich.
Darin operiert der Autor in zwei Modi. Zum einen beleuchtet er die Biografie Robert Rauschenbergs, die Situation der US-amerikanischen Kunstwelt während seiner Schaffensphase sowie die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen von Erased de Kooning Drawing – er liefert also den Kontext. Zum anderen beschießt Stemmrich Erased de Kooning Drawing mit unterschiedlichen Deutungsangeboten und protokolliert den Ausgang dieser Versuche. Die Munition liefern ihm dabei Aussagen der Künstler_innen, Philosoph_innen, Kunstkritiker_innen und -historiker_innen der letzten 100 Jahre – er erprobt Theorien an Erased de Kooning Drawing.
Diese beiden Herangehensweisen wechseln sich ab, sodass theoretische auf kontextuelle Abschnitte folgen. Hervorzuheben ist die dramaturgische Stärke des Einleitungskapitels. Nach rund 150 Seiten Vorlauf voller Charakteretablierungen via/und Künstler_innenanekdoten wird die aufgeschobene, werkkonstituierende Begegnung des enfant terrible Robert Rauschenberg mit dem Vorzeigemodernisten Willem de Kooning in dessen Atelier in ihrer Detailfülle zum Showdown. Stemmrich gelingt es hier, Harold Rosenbergs Begriff der „Arena“ der US-amerikanischen action painter im Falle dieser Begegnung nicht nur theoretisch von der Leinwand auf das Atelier Willem de Koonings zu erweitern, sondern diese Verbindung auch erzählerisch herzustellen.
Für de Kooning waren Besuche jüngerer Künstler nichts Ungewöhnliches; er bat Rauschenberg herein, und nach einer kurzen Phase der Akklimatisierung rückte Rauschenberg mit dem Grund für seinen Besuch heraus und erklärte, dass er eine Zeichnung allein im Verfahren des Ausradierens anfertigen wolle. […] De Kooning erklärte: „Ich weiß, was Du machst“ […]. Doch erklärte er, dass er die Idee der Ausradierung verstehe, jedoch keineswegs von ihr angetan sei. […] Er nahm die große unvollendete Leinwand, an der er gerade arbeitete, und stellte sie von innen vor die bereits geschlossene Tür seines Ateliers, was, wie sich Rauschenberg erinnert, beinahe den Charakter einer religiösen Handlung hatte. […] De Kooning nahm eine Zeichnung aus einer Mappe und erklärte: „Nein, ich werde es dir nicht leicht machen. Es muss etwas sein, das ich vermissen würde.“ Eine Mappe enthielt Zeichnungen, die de Kooning erklärtermaßen nicht mochte oder an denen er noch weiterarbeiten wollte, eine andere solche, die er zu sehr vermissen würde; auch gab es Zeichnungen, die er vermissen würde, die aber (zu) leicht ausradierbar gewesen wären. De Kooning wollte es Rauschenberg schwer machen, technisch und psychologisch. „Er hatte dann noch eine dritte Mappe, die aus verschiedensten Sachen bestand,“ erklärte Rauschenberg, „Buntstifte und so was. Davon bekam ich eine. [...] Ich brauchte vier Wochen, um diese Zeichnung auszuradieren. Ich habe fast fünfzehn verschiedene Radierer benutzt, und außerdem war auch noch eine andere Zeichnung auf der Rückseite!“ (S. 164 f.)
Die einleitende Leseerfahrung des Buches als Pageturner – ein Zeugnis von Stemmrichs Erzählgeschick und langjähriger Erfahrung in der Kunstvermittlung – weicht bereits ab Kapitel II zu Gunsten der Komplexität seiner tiefgründigen theoretischen und quellenkritischen Erörterungen. Diese Tiefe wäre nicht denkbar ohne die umfangreiche Materialsammlung Stemmrichs, die sich durch Archivarbeit und Korrespondenz mit Nachlassverwalter_innen und Zeitzeug_innen auszeichnet und bisher unveröffentlichte Quellen einbezieht, so dass mit dieser Publikation auch neue Einblicke in die Kunstentwicklung seit der Nachkriegszeit veröffentlicht werden.
Die Bezugnahme auf die Vielfalt von Quellen ist für Stemmrich von zentraler Bedeutung, um sein Hauptanliegen zu verfolgen: die dominante Lesart von Erased de Kooning Drawing als Ikonoklasmus oder Vatermord an Willem de Kooning zu historisieren und zu widerlegen. Stemmrich zeichnet nach, wie diese Deutung einer US-amerikanischen Kunstkritik in den 1980ern entspringt und seither das Werk fälschlicherweise als auserzählt gilt. Neben ihrer fragwürdigen Durchsetzung, bei der Walter Hopps’ Verdrehung einer Einschätzung des Kunsthistorikers Leo Steinberg eine entscheidende Rolle spielte, ist diese Deutung auch historisch unhaltbar. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Erased de Kooning Drawing in den 1950er-Jahren als „sublimierter vatermörderischer Angriff“ (S. 599) rezipiert wurde, wie es Benjamin Buchloh 1982 spekulierte. Dafür sprechen neuere Veröffentlichungen: „Sarah Roberts hat verschiedene Zeitzeugen befragt und den Tenor der Antworten in der Erklärung zusammengefasst: ‚To most, it was simply Bob being Bob‘“ (S. 599). Um den festgefahrenen Deutungshorizont in der Rezeption von Erased de Kooning Drawing zu erweitern, erprobt Stemmrich in seiner Publikation einen umfassenden, werkbezogenen Abgleich in Frage kommender Deutungen, wie etwa Robert Rauschenbergs Selbstbezeichnung des Werks als Fest („celebration“). Die Vatermordsdeutung durch eine andere Lesart abzulösen, vermeidet er jedoch. Obgleich Erased de Kooning Drawing als ultimative Leerstelle erscheint, erachtet Stemmrich die Dekonstruktion als passendere Erschließungsmethode gegenüber einer hermeneutischen Auslegung, wie sie beispielsweise in der Rezeptionsästhetik praktiziert wird. Dieser offenen Herangehensweise ist es zuzuschreiben, dass Stemmrich zu dem Befund kommt, dass Erased de Kooning Drawing mit mehreren prägenden Phasen der Kunstentwicklung der US-amerikanischen Nachkriegszeit übereinstimmt.
Zusätzlich widmet sich Stemmrich einem Fortschreiben von Konzepten im kunsttheoretischen Raum, wie den im 20. Jahrhunderts vielseitig angewandten Begriff der Gabe sensu Marcel Mauss in der Begegnung Robert Rauschenbergs mit Willem de Kooning. Dabei erweist sich Stemmrichs Beitrag nicht nur als unverzichtbare Ergänzung der Rauschenberg-Forschung. Der Autor holt auch abseits seiner Exkurse derartig weit aus, dass man sich oft erst durch einen Blick auf das Cover vergewissern muss, dass Erased de Kooning Drawing wirklich der Dreh- und Angelpunkt dieses Buches ist. Dies eröffnet jedoch Einstiegsschneisen für eine breit gefächerte Leser_innenschaft, die an der Kulturentwicklung des 20. Jahrhunderts interessiert ist, sofern sie bereit ist, sich durch Kapitel zu arbeiten, die neben herausfordernden Satzstrukturen auch auf vielen Seiten absatzlos formatiert sind. Stemmrich kontextualisiert in seinem groß angelegten Kompatibilitätsabgleich möglicher Deutungen mit Erased de Kooning Drawing so präzise und umsichtig, dass er zugleich ein Schlüsselwerk für die Anwendung einer Vielzahl moderner, modernistischer und postmoderner Theorie- und Gattungsbegriffe liefert – sei es der Abstrakte Expressionismus, der Appropriationsbegriff oder die Psychoanalyse, um nur einige zu nennen. Auch bedeutende historische Einordnungen, wie die Thematisierung der homophoben Politik der McCarthy-Ära, der die US-amerikanische Künstler_innen ausgesetzt waren, sind für den Untersuchungsgegenstand unabdingbar und werden eindrücklich dargestellt.
Wenn es um Stemmrichs Erklärung von Rauschenbergs Intentionen geht, dominieren Freud’sche Deutungsmuster. Dies überrascht nicht, da schließlich die etablierte Lesart Erased de Kooning Drawings als Vatermord an sich freudianisch ist. Dass jedoch ein Großteil von Rauschenbergs Œuvre und Wirken Ausdruck seiner Homosexualität sein soll, erscheint überraschend reduktionistisch. Eines von vielen Beispielen ist die Deutung einer für ein Pressefoto braun glänzend eingefärbten Autotür, neben der sich Rauschenberg von dem Fotografen Dan Budnik ablichten ließ, als inszeniertes „analerotisches“ Element, das dem zugehörigen „Gefährt[] eine taktile Gleitfähigkeit […] verleih[t]“ (S. 537). Dabei führt Stemmrich später selbst in einer Fußnote ein Zitat von Rauschenberg aus dem Jahr 1998 an, in dem der Künstler beklagt, dass man „[a]ngesichts der Konzepte der Freud’schen Sexualsymbolik […] fast nichts mehr als das betrachten [kann], was es ist. Ich fühle mich gehemmt, wenn ich versuche, eine Symbolik zu vermeiden, die im Bild eigentlich nicht vorhanden ist“ (S. 732). Die Fixierung des Autors auf ebendiese Freud’sche Sexualsymbolik ist in diesem Punkt ein Prinzipienbruch, wenn man bedenkt, dass der Grundkanon des Buches darin besteht, dass Rauschenberg ein von Grund auf missverstandener Künstler ist, dessen Ruf reingewaschen werden müsse und dessen Aussagen an anderer Stelle Stemmrich dazu veranlassen, ganze Interpretationsstränge zu verwerfen, wenn sie nicht mit Rauschenbergs Aussagen übereinstimmen. Es ist jedoch gerade diese strenge Auseinandersetzung mit den Aussagen von Kunstkritiker_innen und -historiker_innen, die Stemmrichs Publikation auszeichnet. Ein sorgfältigeres Lektorat hätte dazu beitragen können, die vereinzelten Irritationsmomente in Stemmrichs geäußerten Deutungen auf dasselbe Reflexionsniveau zu bringen wie in seiner Arbeit über andere Personen.
In Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing (1953). Modernismus, Literalismus, Postmodernismus zeigt Gregor Stemmrich den beträchtlichen Deutungsspielraum von Rauschenbergs Ausradierung einer De Kooning-Zeichnung jenseits des festgefahrenen Ikonoklasmusvorwurfs auf. Sein Befund, dass die prägenden Begriffe der Nachkriegszeit – Modernismus, Literalismus und Postmodernismus – gleichermaßen auf Erased de Kooning Drawing zutreffen, unterstreicht den besonderen Charakter des Kunstwerks und den Pionierstatus des Künstlers. Es ist kaum vorstellbar, dass jemals eine umfassendere Publikation zu Robert Rauschenbergs Erased de Kooning Drawing geschrieben werden könnte als die von Gregor Stemmrich, der damit zudem ein herausforderndes Schlüsselwerk für die Kunstentwicklung der Nachkriegszeit veröffentlicht hat.
English Abstract
Erased
de Kooning Drawing: Stemmrich Pleads Innocence in Patricide Case
Gregor
Stemmrich’s study of Rauschenberg’s Erased de Kooning Drawing
(1953) challenges the prevailing interpretation of the work as an act of
iconoclasm, offering a broader perspective. By means of meticulous
contextualization and alignment with modern, modernist, and postmodern
theories, Stemmrich demonstrates how the work integrates ideas of
modernism, literalism, and postmodernism. His analysis expands the
interpretation and reassesses its significance in postwar art, thereby
making his publication a vital yet challenging contribution to
Rauschenberg research and postwar art history.
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