Inner-
oder außerhalb des Dorfes? Erinnern und Vergessen entlang
gesellschaftlicher Grenzen
A
Review by Katharina Hacker (Katharina.Hacker@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)
Laumer, Angelika: Am Horizont. Kinder von NS-Zwangsarbeit_innen und das
alltägliche Erinnern und Vergessen in der deutschen ländlichen
Gesellschaft. Beltz Juventa. Weinheim, 2024. 327 Seiten, 68 EUR. ISBN:
978-3-7799-7584-7.
Abstract
Die Logiken und Deutungsmuster der Erinnerns- und Vergessensprozesse an NS-Zwangsarbeit werden in der von Angelika Laumer vorgelegten Studie von 2024 empirisch erforscht. Das Untersuchungsgebiet liegt in Niederbayern und beschränkt sich auf den dörflichen Raum. Mit einer Methodenkombination aus qualitativer Interviewführung und Grounded Theory ermittelt sie alltägliche, interaktionsbasierte Erinnerungslogiken, die mithilfe von kulturwissenschaftlichen und (wissens-)soziologischen Gedächtnisbegriffen theoretisch eingeordnet werden.
Review
In
ihrer Dissertation Am Horizont. Kinder von NS-Zwangsarbeit_innen und
das alltägliche Erinnern und Vergessen in der deutschen ländlichen
Gesellschaft diskutiert Angelika Laumer, inwiefern Erinnern und
Vergessen gleichzeitig an- und abwesend sein kann. Wer erinnert sich an
was? Wie verlaufen Vergessensprozesse? Wie kann eine adäquate Typologie
entwickelt werden, die die Charakteristika des Ländlichen umfasst?
Um ihre Forschungsfragen zu beantworten, greift Laumer auf
kulturwissenschaftliche und soziologische Gedächtniskonzepte zurück,
erweitert diese um wissenssoziologische Ansätze und nutzt qualitative
Interviews sowie Grounded Theory, um ihre Daten zu erheben. Ziel ihrer
Arbeit ist es, Logiken des alltäglichen Erinnerns und Vergessens speziell
im ländlich-ruralen Raum offenzulegen. Im Mittelpunkt ihres
Forschungsinteresses stehen die Fragen, welche Deutungsmuster und
Praktiken die Erinnerung an NS-Zwangsarbeiter_innen strukturieren, ob sich
die Erinnerung der Profiteur_innen von der Erinnerung der
Zwangsarbeiter_innen unterscheidet und wie sich Erinnerungen im Alltag und
in der Interaktion gestalten (S. 29–30).
Zentraler Ausgangspunkt ihrer Forschung ist die Erkenntnis, dass sich
einerseits „eine geformte Erinnerungskultur zur NS-Zwangsarbeit entwickelt
hat“ und es Nachkommen der NS-Zwangsarbeiter_innen gibt, „die um die
Geschichte ihrer Eltern [wissen]“ (S. 13). Andererseits zeigt sich jedoch,
dass die Erinnerung an eben jene Zwangsarbeiter_innen auf repräsentativer
und institutioneller Ebene überwiegend abwesend ist. So ist sie in
„Ritualen, Filmen [und] Heimatmuseen“ (S. 12) kaum zu finden. Daher kommt
Laumer zu dem Schluss, dass die Erinnerung an NS-Zwangsarbeit im
ländlichen Raum Bayerns sowohl an- als auch abwesend ist, da sie eine
bestimmte kulturelle und institutionelle Ebene nicht oder kaum erreicht.
Diese Differenzierung ist angesichts der Tatsache, dass die von Laumer
diskutierten Erinnerungsformen zwar mündlich anwesend, institutionell
jedoch abwesend sind, durchaus plausibel. Allerdings liefert Laumer keine
Argumente dafür, warum sie die Gleichzeitigkeit von an- und abwesender
Erinnerung im Forschungsfeld konzeptualisiert, anstatt diese
Gleichzeitigkeit als kommunikatives, soziales Gedächtnis zu behandeln,
dessen zentrales Merkmal die informelle, alltägliche, zwischenmenschliche,
nicht-institutionalisierte Interaktion ist. Das Fehlen
institutioneller Elemente wäre somit konzeptuell inhärent.
In den Kapiteln 1 und 2 grenzt Laumer ihre Arbeit mit Begriffsdefinitionen
und Darstellung des Untersuchungsgebietes weiter ein. So unterscheidet sie
zwischen der Erinnerung seitens der (Nachkommen der)
NS-Zwangsarbeiter_innen und der Erinnerung seitens der Profiteur_innen von
Zwangsarbeit. Unter „Profiteur_innen“ versteht sie allerdings nicht nur
dienstgebende Familien und deren Nachkommen, sondern auch allgemein
Profitierende als Zugehörige der „Volksgemeinschaft“ (S. 30). Geografisch
befindet sich die Forscherin in ihrer Heimat(-umgebung) in Niederbayern
(Landkreise Bogen, Kötzting und Viechtach). In Kapitel 3 geht Laumer auf
den theoretischen Rahmen ihrer Forschung ein. Als theoretische Grundlagen
nutzt sie kulturwissenschaftliche Gedächtniskonzepte (nach Jan und Aleida
Assmann), die Rolle der Alltagswelt für Erinnerungsprozesse (Peter L.
Berger, Thomas Luckmann) und das soziale Gedächtnis (nach Oliver Dimbath,
Gerd Sebald, Jan Weyand). Außerdem kommen soziale Topik und rassistisches
Wissen in der Analyse zutrage.
In Kapitel 4 bedient sich Laumer der Grounded Theory, um ethnografisch und
explorativ zu forschen, was aufgrund der mangelnden „Orientierungsstudien
zu alltäglichen Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen auf dem
Land“ notwendig sei (S. 102). Ebenso stellte sie während der Datenerhebung
fest, „dass die gerahmte Narration über das eigene Leben nicht das
bevorzugte Erzählgenre in der ländlichen Gesellschaft ist“ (S. 120). Die
Stärke der Grounded Theory für ihre Forschung liegt also darin,
unterschiedliche Formen des Mündlichen als Untersuchungsgegenstand fassbar
zu machen, wie z. B. Klatsch, Gerüchte, spontane Gespräche am Gartenzaun
und Kaffeekränzchen. Zudem nutzte sie weitere Formen der qualitativen
Sozialforschung wie teilnehmende Beobachtung, Interviews und
Gruppendiskussionen zur Datengenerierung (S. 16). Auf diese Weise gelang
es ihr, vielfältige und umfangreiche mündliche Daten zu erheben. Insgesamt
sprach Laumer mit 29 Gesprächspartner_innen und Informant_innen (S. 121).
Des Weiteren zog sie Dokumente aus Archiven heran, „um Einblick in die
Praxis des Zwangsarbeitereinsatzes in den drei bayerischen Landkreisen […]
zu gewinnen“ (S. 115). Dadurch erhielt sie konkrete Informationen über
zwangsarbeitende Personen, die sie sonst nicht erhalten hätte.
In Kapitel 5 hält sie als entscheidendes Ergebnis ihrer Datenauswertung
fest: Die Erinnerung an NS-Zwangsarbeit seitens der Profiteur_innen ist
durch die Thematik ‚Arbeit‘ gerahmt. Dies ist nicht zuletzt auf das
Arbeitsethos zurückzuführen, das während des Nationalsozialismus
propagiert wurde und eng mit ethnischem und eugenischem Rassismus
verknüpft wird (S. 193). So schreibt Laumer: „Das soziale Gedächtnis in
Bezug auf NS-Zwangsarbeit strukturiert sich durch […] Rassismen“ (S. 195).
Ein_e arbeitsame_r Zwangsarbeiter_in hatte deutlich höhere Chancen von der
Dorfgemeinschaft akzeptiert zu werden, wobei sich diese Akzeptanz auf eine
untergeordnete Position der zwangsarbeitenden Person beschränkte und
ebenso entlang rassistischer Annahmen verlief. So wurde eher der russische
und nicht der französische Zwangsarbeiter als „faul“ beschrieben, während
eine Beziehung oder ein sexueller Kontakt zu einem Polen aber nicht zu
einem Belgier als „wehrzersetzend“ galt (S. 195). So heißt es: „Weil s´
[…], mit ´nem Polen abgegeben hat. Weil das ist so viel wie
Wehrzersetzung, wenn die Deutschen an der Front sind und daheim die
Frauen die machen so Sachen“ (S. 171). Laumer stellt an dieser
Stelle wiederholt Bezüge zur heutigen Zeit her, indem sie feststellt, dass
das Deutungsmuster von „faul“ versus „arbeitsam“ entlang rassistischer
Linien auch weiterhin in der Gegenwart besteht (S. 193). So berichtet eine
Gesprächspartnerin von der Partnerin des slowakischen Arbeiters auf ihrem
Hof, dass diese ihre Überstunden als Reinigungskraft in einem Hotel
ausbezahlt haben wollte. Hierbei bewertete die Gesprächspartnerin
allerdings nicht die Arbeitsbedingungen im Hotel als problematisch,
sondern die Ansprüche der Frau: „Das kannst vergessen, dass die
Überstunden bezahlt werden“ (S. 163). Laumer schlussfolgert, dass
sich Strukturen in der Einstellung zu Zwangsarbeiter_innen in der Haltung
gegenüber ostmitteleuropäischen Arbeiter_innen fortsetzen. Somit leistet
ihre Arbeit einen Beitrag zur Forschung über Kontinuitäten von Rassismen
in der heutigen Zeit.
In Bezug auf die Erinnerung seitens der Zwangsarbeiter_innen zeigt sich in
Kapitel 6, dass es hier mehr Ambivalenzen gibt als bei den Profiteur_innen
(S. 288). Insbesondere die Beziehungen zwischen „Volkszugehörigen“ und
zwangsarbeitenden Personen werden in den Interviews weniger thematisiert
und skandalisiert als die Seite der Profiteur_innen (ebd.). Zudem
distanzieren sich die Befragten von ihrem Zwangsarbeiter_innenerbe und es
kommt ebenfalls zur Aktivierung von rassistischem Wissen (S. 288–289). In
Kapitel 6.7 analysiert Laumer ausführlich ein Gespräch mit
NS-Zwangsarbeiternachfahr_innen, die ein rechtsextremes und
verschwörungsideologisches Weltbild vertreten (S. 267–271). Obwohl Laumer
feststellt, dass diese Gespräche „kaum direkte Bezüge zur NS-Zwangsarbeit“
(S. 271) aufwiesen und daher für ihre Fragestellung nicht erkennbar
relevant sind, geht sie dennoch recht ausführlich darauf ein und hält sich
mit unnötig erscheinenden Beschreibungen der Gesprächssituation, wie z.B.
der Wohnungsinneneinrichtung, auf.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Laumer erfolgreich eine breite
Datenerhebung zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen durchgeführt hat,
denn sie liefert Erkenntnisse über Deutungsmuster der Erinnerung an die
NS-Zwangsarbeit, arbeitet Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der
Erinnerung auf Seiten der Profiteur_innen versus der Zwangsarbeiter_innen
heraus und identifiziert verschiedene Formen des Mündlichen (Klatsch,
Gerüchte und Gespräche am Gartenzaun) als wichtige Träger der Erinnerung.
Sie liefert damit einen bemerkenswerten Überblick über mündliche Formen
der Erinnerung im ländlichen Raum Bayerns.
English Abstract
Inside
or Outside the Village? Remembering and Forgetting along Social Borders
The logic and patterns of interpretation of the processes of
remembering and forgetting Nazi forced labor are empirically researched in
the 2024 study presented by Angelika Laumer. The study area is located in
Bavaria and is restricted to rural areas. Using a combination of
qualitative interviews and grounded theory, she identifies everyday,
interaction-based logics of remembrance that are theoretically categorized
using cultural studies and sociological concepts of memory.
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