Sturz der Titanen? Warum sich der Erinnerungsweltmeister neu erfinden muss

A Review by Sandra Engels (Sandra.Engels@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

Zimmerer, Jürgen (Hrsg.): Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Ditzingen: Reclam, 2023. 536 Seiten, 25 EUR. ISBN: 978-3-15-0011454-4.

 

Abstract

Wer gehört zur deutschen Gesellschaft, was zur deutschen Geschichte, und wer darf sich dazu äußern? Diesen Fragen gehen die Autor_innen des von Jürgen Zimmerer herausgegebenen Sammelbandes nach. Die Beiträge befassen sich mit der Aushandlung der deutschen Erinnerungskultur und ihrer identitätsstiftenden Wirkung. Mit seinen vielfältigen und diversen Perspektiven appelliert der Band für ein inklusiveres Geschichtsverständnis und eine Erweiterung der Erinnerungskultur, die dem Einwanderungsland Deutschland gerecht wird – eine erinnerungspolitische Zeitenwende hin zur multidirektionalen Erinnerung.


Review

Deutschland wurde lange Zeit zu einer Art erinnerungspolitischer Ikone stilisiert und insbesondere medial mit einem Selbstbild des „Erinnerungsweltmeisters“ gefeiert. Dass diesem Titel letztlich mehr Ironie als Ritterschlag innewohnt, bestätigten die jüngst laut gewordenen polemischen Stimmen zum deutschen „Versöhnungstheater“ (Max Czollek, München, 2023) und „Katechismus der Deutschen“ (A. Dirk Moses, Geschichte der Gegenwart, 2021). Ihre Kritik stellt die deutsche Erinnerungskultur in Frage, die sich spätestens seit dem 1985 von Bundespräsident Richard von Weizsäcker postulierten Diktum der Vergangenheitsbewältigung selbst eine erfolgreiche historische Aufarbeitung attestiert hat. Sie zeigt dabei auch, dass gesellschaftlicher Wandel nicht nur gesellschaftspolitische Integrationsbereitschaft, sondern auch ein neues Verständnis von gemeinsamem und verwobenem Erinnern erfordert.

Dass sich die deutsche Erinnerungskultur und das Verhältnis der ‚Deutschen‘ zu ihrem Geschichtsbewusstsein ändern müssen, ist auch Ausgangspunkt des neuen Sammelbandes von Jürgen Zimmerer. In Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein präsentiert er Beiträge zur Aushandlung der deutschen Erinnerungskultur und ihrer identitätsstiftenden Wirkung und beleuchtet ein holistischeres Verständnis von Geschichte und Gegenwart mit den zentralen Fragen: Wer gehört zur deutschen Gesellschaft, was zur deutschen Geschichte, und wer darf sich dazu äußern?

Der Sammelband vereint vielfältige Perspektiven, die für ein inklusiveres Geschichtsverständnis und eine Erweiterung der Erinnerungskultur gerade um Geschichten, die dem Einwanderungsland Deutschland gerecht werden, plädieren. Zugleich zeigt er die Problematiken einer auf nationale Identitätsstiftung ausgerichteten Erinnerungspolitik auf. In der Einleitung zeichnet Zimmerer dazu die „(Neu-)Gestaltung der deutschen Erinnerungslandschaft in der Berliner Republik“ (S. 26) nach und mahnt die selektiven Züge ihrer (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen (Gewalt-)Geschichte an. Mit dem Hinweis auf die (aus postkolonialer Perspektive) problematische „Renationalisierung des deutschen Identitätsdiskurses“ (S. 28) – und die damit verbundenen Exklusivitätsansprüche an die im kollektiven Gedächtnis verorteten Erinnerungsnarrative – gibt er einen Ausblick auf die hier versammelten Argumente und Positionen. Die Beiträge heben neben der Kolonialgeschichte die Bedeutung der Geschichte von Migration und Gastarbeiter_innen, der Erinnerung an rassistische Terrorakte, und der Geschichten Schwarzer Deutscher für ein (neues) deutsches Geschichtsbewusstsein hervor.

Erinnerungskämpfe gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils ein erinnerungspolitisches Thema der neueren deutschen Geschichte aufgreifen. So führt der Sammelband in einer historisch-chronologischen Gliederung durch die „Erinnerungskämpfe“ vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung und Berliner Republik. Der erste Teil über „Das Kaiserreich und deutsche Kontinuitäten“ umfasst Beiträge zur erinnerungspolitischen Debatte um den ersten Reichskanzler Otto von Bismarck (Christoph Nonn), zur erinnerungspolitischen Leerstelle des Völkermords an den Herero und Nama (Jürgen Zimmerer) sowie zu den Auseinandersetzungen um das Erbe der Hohenzollern und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus (Thomas Weber). In einem kritisch differenzierenden Beitrag zum „neue[n] Streit ums alte Kaiserreich“ zeichnet Eckart Conze darüber hinaus nicht nur eine ‚politische Renationalisierung‘ nach, die sich seit der deutschen Wiedervereinigung entwickelt und kontinuierlich verstärkt hat (S. 80). Er zeigt auch überzeugend, wie die beharrlichen Versuche, das Kaiserreich geschichtspolitisch für die Bundesrepublik anschlussfähig zu machen, zugleich „nationale Selbstverständigungsdebatten“ und eine „Auseinandersetzung der Deutschen mit der Idee der Nation und des Nationalstaats“ sind (S. 104). Seine Argumentation verdeutlicht die geschichtspolitischen Gefahren einer linearen und selektiven Traditionsstiftung und plädiert für die Notwendigkeit einer kritischen Distanz in der geschichtsbezogenen gesellschaftlichen und politischen Selbstverständigung.

Teil II „Nationalsozialismus/Zweiter Weltkrieg“ versammelt Beiträge zum dialektischen Verhältnis von Erinnern und Vergessen. Sie thematisieren erinnerungspolitische Zielsetzungen unter dem Aspekt der Produktion und (Nicht-)Wahrnehmung ‚blinder Flecken‘ in Bezug auf ‚unsichtbare Opfergruppen‘ der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik (Bodie A. Ashton) sowie des deutschen Vernichtungskrieges und der Besatzungserfahrungen in Osteuropa (Tatjana Tönsmeyer, Franziska Davies), aber auch wie (re)nationalisierte Erinnerungsnarrative und eine nationale Geschichtslegitimation in der politischen Argumentation instrumentalisiert und damit Teil transnationaler Erinnerungskämpfe werden (Dieter Pohl und Thomas Sandkühler). Besonders konstruktiv für den Blick auf erinnerungspolitische Leer- oder Fehlstellen ist dabei Tönsmeyers Ansatz zur situativen Wissensproduktion: Die Hinterfragung „welches Nichtwissen durch das Beschweigen produziert wurde“ (S. 155) stellt einen wichtigen Schritt für die (Neu-)Aushandlung marginalisierter und unsichtbarer Erinnerungsnarrative dar und bietet eine produktive Grundlage für eine kritische Reflexion der deutschen „Unerinnerungskultur“ (Ashton, S. 134) und die Anerkennung der Intersektionalität ihrer Opferidentitäten.

Teil III knüpft unter dem Titel „Holocaust und Multidirektionale Erinnerung“ genau an diese Problematiken von Ausgrenzung(en) und Singularität(en) in der deutschen Erinnerungskultur an. Die Beiträge zur katechetischen Ausprägung der deutschen (Holocaust-)Erinnerung (Meron Mendel, A. Dirk Moses) und ihrer (Nicht-)Verschränkung mit postkolonialen Erinnerungsnarrativen am Beispiel der Debatte um Achille Mbmembe (Hajo Funke) und der documenta fifteen (Hanno Hauenstein und Eyal Weizman) sowie der Verwehrung jüdisch-arabischer Solidarität (Sonja Hegasy) verdeutlichen die sich verengende Einbahnstraße der deutschen Erinnerungskultur. Sie betonen, dass die „angesichts zunehmender Diversifizierung von Identitäten, historischen Narrativen und erinnerungskulturellen Ansätzen“ notwendige Multiperspektivität nach wie vor eine große Hürde in der deutschen erinnerungs- und kulturpolitischen Kontroverse darstellt (Hauenstein/Weizman, S. 341) und nicht zuletzt „hermeneutische Schikanen“ (Hegasy, S. 291) und eine fehlende „emotionale Offenheit“ (Funke, S. 327) das gemeinsame Erinnern und eine erinnerungspolitische Solidarität untergraben.

Michael Rothberg, der mit seinem Buch Multidirectional Memory (Stanford 2009) den Dialog über vielschichtige Erinnerungsdiskurse maßgeblich geprägt hat, leitet gebührenderweise die Betrachtungen zu gelebter Multidirektionalität der (deutschen) Erinnerungslandschaft ein. Entlang des sogenannten ‚Historikerstreits 2.0‘ legt er dar, wie das „postmigrantische[...] Deutschland der Gegenwart“ eine „machtvolle, eindeutige Erinnerungskultur“ kontinuierlich herausfordert (S. 227) und warum die gegenwärtige „multidirektionale[...] Welt der Erfahrungen“ (S. 239) nicht nur eine Chance, sondern auch eine Ressource „für eine neubelebte demokratische Erinnerungskultur“ (S. 245) ist. Er plädiert daher für eine neue (erinnerungspolitische) Care-Arbeit, die die Partizipation neuer Erinnerungsakteur_innen, die Integration „neue[r] Formen des Andersdenkens“ (S. 246) sowie die Auseinandersetzung auch mit dissonanten Narrativen beinhaltet.

Dass aber gerade die Integration neuer Akteur_innen und Narrative nach wie vor eine erinnerungspolitische Blackbox für Deutschland darstellt, zeigt Teil IV, dessen Beiträge zur Geschichtspolitik und Aufarbeitung in und um das ‚doppelte Deutschland‘ und die Wiedervereinigung die Bedeutung von Gegenerzählungen und politischen Deutungskämpfen um ihre Erinnerungsnarrative beleuchten. Die Betrachtungen zum umkämpften Erinnerungsort ‚1989‘ (Ilko-Sascha Kowalczu), den erinnerungspolitischen Leerstellen der ‚Baseballschläger-jahre‘ (Katharina Warda und Patrice G. Poutrus) und der ‚Gastarbeiter_innen‘ (Lisa Hassler) sowie der deutschen Demokratiegeschichten (Claudia C. Gatzke) zeigen, wie das „Ringen um Deutungshoheit über die jüngste deutsche Vergangenheit“ (Warda/Poutrus, S. 375) ambivalente und teils gegenläufige Eigendynamiken entwickelt. Dabei wird deutlich, dass Gegenerzählungen unterschiedlichster Art ebenso wie die Vielfalt (zeit-)geschichtlicher Erfahrungen oder (gemeinsamer) Erinnerungen von Teilen der Gesellschaft im offiziellen Erinnerungsdiskurs wenig Platz finden. Ohne Akteur_innen der (neuen) Communities Raum zu geben, ihre eigenen Sichtweisen, „aber auch ihre Bedenken und die Ablehnung von Teilen der Erinnerung“ einzubringen (Hassler, S. 407), steht das allgemein affirmierte öffentliche Geschichtsbewusstsein aufgrund fehlenden Wissens und Mangel an Repräsentationen einem „pluralistischen Selbstverständnis der Berliner Republik“ (Glatzke, S. 426) oft im Wege.

Neue Gegen- und Meistererzählungen der Berliner Republik und ihre widerstreitenden Interessen nimmt ein letzter Themenblock ‚deutscher‘ Erinnerungskämpfe in den Blick. Aus dezidiert identitätspolitischer Perspektive stellen die Beiträge den Kampf migrantischer Perspektiven und Identitäten gegen (kontinuierliche) Marginalisierung einer zunehmenden Rhetorik des Fremden sowie rechtsextremistischen Gefahr gegenüber. Die Beiträge zum literarischen Kampf um Anerkennung Schwarzer deutscher Identitäten (Chiedozie Michael Uhugbu) sowie zur ‚Leitkultur‘- und ‚Islamdebatte‘ (Ozan Zakariya Keskinkiliç) verdeutlich, wie wenig Raum migrantischen Erfahrungen, Stimmen und Geschichten für ein „multidirektionale[s] und verwobene[s] Erinnern“ (Keskinkiliç, S. 471) nach wie vor gegeben wird. Sie zeigen aber auch auf, wie – generationsübergreifend – an das „Erbe migrantischer Kämpfe“ um die Repräsentation „verdrängte[r] Erinnerungen“ (S. 475) angeknüpft wird und gerade Einblicke in Erfahrungen und Viktimisierungen von Migrant_innen ein „aufklärerisches Arsenal“ bilden, um „bestehenden Machtverhältnissen entgegenzuwirken“ (Uhugbu, S. 444). Sophie Schallenberger und Efsun Kizilay zeigen in ihren Beiträgen, dass sowohl die „erinnerungskulturelle Agenda“ (S. 476) der Neuen Rechten als auch die deutsche (Nicht-)Erinnerung an rechtsextremistischen Terror gefährliche Gegenbewegungen darstellen „zu Bestrebungen marginalisierter Gruppen, die erinnerungspolitische Sichtbarkeit, Anerkennung und Mitbestimmung und somit ein pluralistisches (deutsches) Erinnern beanspruchen“ (S. 492).

In einer epilogischen Betrachtung zum (historischen) Europadiskurs schließt Frank Jacobs die Diskussion deutscher Erinnerungskämpfe mit einem Fokus auf den konstruktivistischen und imaginären Charakter von (kollektiven) Identitäten, Geschichtserzählungen und Erinnerungsnarrativen. In seinen Beitrag, der weniger auf eine tatsächliche ‚Europäisierung der Erinnerung‘ (nach Janny de Jong) als vielmehr auf eine identitätspolitische Integration fokussiert ist, lässt sich eine spannende Perspektive auf die multidirektionale Problematik der (deutsch-europäischen) Erinnerungskultur interpretieren, die den gesamten Band prägt: Wenn nämlich kollektive Identität eine soziokulturelle Konstruktion ist (die auf einer „gemeinsamen erfahrbaren Geschichtstradierung und -erinnerung“ (S. 519) beruht), warum tut sich die Erinnerungsnation, um mit Benedict Anderson zu sprechen, so schwer damit, sich selbst neu zu imaginieren und eine Erinnerungsgemeinschaft zu erfinden, die ihren diversen und vielstimmigen Charakter anerkennt und würdigt?

„Erinnerungspolitische Kämpfe gehören zur Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik [… und damit] die Frage nach dem ‚richtigen‘ Erinnern“, schreibt Meron Mendel in seinem Beitrag (S. 249). Zweifellos geht die (Neu-)Aushandlung des Erinnerns nie ohne Kampf um Sichtbarkeit, Anerkennung und Repräsentation einher. Gerade die aktuellen Erinnerungsdynamiken haben Erinnerungsprozesse transnationaler, transkultureller und pluralistischer gestaltet und die Notwendigkeit einer „erweiterten Erinnerungskultur“ (Rothberg, S. 237) verdeutlicht. Jürgen Zimmerer stellt daher zu Recht fest, es sei an der Zeit, „darüber nachzudenken, ob die deutsche Vergangenheitsbewältigung so erfolgreich war, wie es sich die deutsche Gesellschaft gerne selbst attestiert“ (S. 12). Sein Sammelband leistet aber nicht nur das. Die ‚Erinnerungskämpfe‘ im Wandel der deutschen Erinnerungskultur und -politik aus verschiedensten Perspektiven hinterfragend, zeigt er jene Leerstellen, blinden Flecken und marginalisierten Narrative auf, die der ‚Erinnerungsweltmeister‘ Deutschland allzu oft bewusst in seinem Erinnerungsdiskurs ausklammert. Dem Anspruch einer ‚pluralen Herangehensweise‘ an die deutsche Erinnerungskultur wird der Sammelband dabei durch seine thematische und argumentative Vielseitigkeit gerecht, in der er gerade den ungehörten Stimmen Gehör verschafft und den nicht repräsentierten Narrativen zu Sichtbarkeit verhilft. Er macht diesbezüglich vor allem eines deutlich: dass es bei Erinnerungskultur und ihrer Performanz nicht nur um „historische Aufarbeitung und Wiedergutmachung, [sowie] Prävention“ (Ashton, S. 153) geht – und sie sogar diesen grundlegendsten Zielen durch regressiv-selektives Vergessen selbst im Wege steht – sondern eben auch und vor allem um die Anerkennung und Einbindung verschiedener Perspektiven, Geschichten und Identitäten.

Erinnerungskämpfe ist sicherlich keine politische Kampfschrift, doch vermittelt der Sammelband in seinen multidirektionalen Beiträgen eine klare (erinnerungs-)politische Botschaft: Um der Diversität unserer Gesellschaft und ihrer vielfältigen individuellen und kollektiven Identitäten gerecht zu werden, muss ihren Erinnerungskämpfen (und zu solchen werden sie erst durch die erinnerungspolitische Marginalisierung einzelner Narrative) Raum für Neuverhandlungen gegeben werden. Die hier versammelten Einblicke in neue und alte Erinnerungskämpfe verdeutlichen, wie wichtig die aktive Teilhabe bisher marginalisierter Stimmen ist, um nicht nur die bisherige Geschichte Deutschlands zu dekonstruieren und neu zusammenzusetzen, sondern auch unterschiedliche Zugänge zu schaffen und „die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln wahrzunehmen“ (Hassler, S. 410) – und einem neuen deutschen Geschichtsbewusstsein zu einer erinnerungspolitischen Zeitenwende zu verhelfen.


English Abstract

Fall of Giants? Why the Memory World Champion Must Reinvent Itself
Who belongs to German society, what belongs to German history, and who is allowed to speak out about it? These questions are explored in the edited volume. Contributions engage with the negotiation of German memory culture and its identity-forming effect. With its diverse and varied perspectives, the volume calls for a more inclusive understanding of history and a broadening of memory culture to reflect Germany as a country of immigration – a “Zeitenwende” in the politics of memory towards multidirectional memory.

 

Copyright 2024, SANDRA ENGELS. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).