„Geschichte, aber normal!“ Über die Entgleisung der Gegenwart aus den Bahnen der Geschichte

A Review by Henning Tauche (Henning.Tauche@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

Rhein, Philipp. Rechte Zeitverhältnisse. Eine Soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2023. 401 Seiten, 45 EUR. ISBN: 978-3-593-51750-6.


Abstract

In der soziologischen Studie Rechte Zeitverhältnisse befasst sich Philipp Rhein mit rechtspopulistischen Zeitvorstellungen. Mittels narrativer Interviews untersucht er die temporale Handlungsorientierung von AfD-Wähler_innen. Seine Kernthese: Der Rechtspopulismus ist eine Reaktion auf die Zeitkrise der Spätmoderne. Handlungsleitend ist dabei nicht der Verlust von Vergangenheit, sondern von Zukunft, was sich in der Figur des rechtspopulistischen Chiliasmus kristallisiert. Rheins Analyse bietet damit einen tiefgreifenden Einblick in die zeitliche Wahrnehmung der rechten Wählerschaft.

Review

Die Sehnsucht nach der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft sind zwei prominente Faktoren, die zur Erklärung der Wahlbereitschaft populistischer Parteien herangezogen werden. Entsprechend artikulieren diese Wähler_innen im Vergleich zu anderen Wähler_innengruppen besonders pessimistische Zukunftserwartungen (vgl. Catherine E. de Vries und Isabell Hoffmann: The Optimism Gap. Personal Complacency Versus Societal Pessimism in European Public Opinion. 2020, S. 16 ff.). Die Anziehungskraft rechter Weltbilder liege insbesondere darin, diese Zukunftsängste und Verlusterfahrungen mit der Beschwörung einer heilen Vergangenheit zu bedienen. Diese Diagnose wird jedoch den Zeitvorstellungen der AfD-Wählerschaft nicht gerecht und verhindert sogar ein vertieftes Verständnis der sozialen Ursachen des Rechtspopulismus, so die Eingangsthese der Studie Rechte Zeitverhältnisse von Philipp Rhein.

In seiner Dissertation geht Rhein der Frage nach, welche Zeitvorstellungen handlungsleitend für die Wähler_innen der AfD sind und wie sich diese Zeiterfahrungen in der Spätmoderne verorten lassen. Rhein argumentiert, dass die Konjunktur des Rechtspopulismus weniger eine Antwort auf die Polykrisen der Gegenwart, sondern Ausdruck der gegenwärtigen temporalen Desorientierung sei. Rechtspopulistische Zeitvorstellungen seien somit Utopien, die weniger auf Krisenzeiten als auf die spätmoderne Zeitkrise an sich reagieren. Dabei stünde nicht eine schwärmerische Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit im Zentrum rechter Zeitimaginationen, sondern der Supremat der Zukunftsorientierung.

Die Arbeit zielt darauf ab, die temporale Seite der Handlungsorientierung von AfD-Wähler_innen in Relation zu ihren Selbst- und Zeitbildern zu untersuchen. Empirisches Material liefern narrative Interviews mit AfD-Wähler_innen aus dem Raum Württemberg. Zur Analyse des rechtspopulistischen Bewusstseins bedient sich Rhein der dokumentarischen Methode und dem begrifflichen Instrumentarium der Wissenssoziologie Karl Mannheims.

Die Monografie gliedert sich in sechs Kernkapitel. Im ersten Kapitel beschreibt Rhein die gängigen Erklärungsmodelle für die Konjunktur populistischer Parteien und geht insbesondere auf die Rolle der Angst, des Bedrohungsempfindens und der relativen Deprivation ein. Zwar hätten diese Ansätze durchaus ihre Berechtigung, jedoch seien sie für sich zu unterkomplex, um die vielschichtige Realität des Rechtspopulismus umfassend zu erklären. Seine Analyse habe viel mehr gezeigt, dass der Rechtspopulismus eine „spezifische Verarbeitungsform von Erfahrungen mit der Gesellschaft der Spätmoderne und ihren Zeitverhältnissen“ (S. 29) sei. Diese These wird im zweiten Kapitel gesellschaftstheoretisch angereichert. Das dritte Kapitel widmet sich methodischen Fragen und führt in die zentralen wissenssoziologischen Begriffe ein.

In Kapitel vier werden zunächst die handlungsleitenden Orientierungsrahmen typisiert, wobei Rhein zwei Sinntypen rekonstruiert: die „Durchschauer“, die ein elitäres Selbstbild praktizieren; sowie diejenigen, die sich als „Opfer“ einer gespaltenen und entsolidarisierten Gesellschaft verstehen. Im folgenden Kapitel stellt der Autor im Rahmen der soziogenetischen Analyse die Relationen zwischen den spezifischen Orientierungsrahmen und Erlebnishintergründen dar: Der Sinntyp der „Durschauer“ umfasst vor allem beruflich Selbstständige, die in ihrer „elitäre[n] Apokalyptik“ die historische Beispiellosigkeit der Gegenwart betonen (S. 210 ff.). Der „Opfer“-Typ hingegen ist bei den jungen Angestellten sowie in der Gruppe der Prekären prävalent. Während die „apokalyptische Selbstviktimisierung“ der jungen Angestellten sich von der Gegenwart bedroht sieht, sehnt die „Destruktions“-Orientierung der Prekären Zerstörung und Neuanfang herbei (S. 231 ff.). Das Bindeglied zwischen den verschiedenen sozialen Erfahrungswelten der untersuchten Fälle, ihren Selbstbildern und der Wahl der AfD liegt in ihrem „utopischen Bewusstsein“ (S. 94 nach Mannheim), welches sich in unterschiedlichen Formen eines endzeitlich geprägten Zeitbewusstseins artikuliert.

Dieses Zeitbewusstsein wird im sechsten Kapitel auf den Begriff des „rechtspopulistischen Chiliasmus“ (S. 263) gebracht. Dieser Chiliasmus verbindet eine pietistisch-evangelische Prägung mit einer revolutionären Utopie samt einer spezifischen viktimisierenden oder elitären Selbstwahrnehmung seiner Anhänger_innen zu einem temporalen Orientierungsrahmen. Dabei imaginieren die AfD-Wähler_innen im Sinne einer „negativen Privilegierung“ (S. 254, nach Weber), dass ihre Ausgrenzung und ihr Geheimwissen „über das Hinterbühnen-Geschehen in der Welt“ (S. 201), Voraussetzungen für ihre privilegierte Stellung in der kommenden Gesellschaftsordnung seien. Die Utopie der Chilaist_innen ist dabei nicht nostalgisch-restaurativ, da sie sich seit den 1970er-Jahren von der ‚normalen‘ historischen Entwicklung unwiderruflich getrennt sieht. So bleibt ihnen nur die Flucht nach vorne. Dabei wird die Gegenwart als Gelegenheitsfenster und die AfD als Brandbeschleuniger verstanden. Der Chiliasmus steht für eine Art apokalyptischer Erwartungshaltung, die durch eine Mischung aus nihilistischer „Verlustwut“ (S. 348, nach Reckwitz) und einer Sehnsucht nach einer utopischen Zukunft ohne klare Erlösungsaussicht gekennzeichnet ist. Zwar unterscheiden sich die Interviewten in ihren Zeitdeutungen teilweise deutlich voneinander, gemeinsam ist ihnen jedoch „eine kollektive Erfahrung eines Zeitverlustes“ (S. 366). Obwohl sich das Sample bis auf wenige Ausnahmen auf AfD-Wähler_innen aus dem Raum Württemberg beschränkt, legt die Studie nahe, dass dieser ‚Basistyp‘ auch über diesen Erfahrungsraum hinweg Gültigkeit besitzt.

Rechtspopulistische Zeit- und Geschichtsbilder sind ein bislang wenig bearbeitetes Feld, obwohl sich in den rechten Zeitlandschaften die Verlustwut und die Ablehnung der liberalen Demokratie am deutlichsten artikulieren. Während Steinmeier „das beste Deutschland, das es jemals gegeben hat“ („Wir Glückskinder in der Mitte Europas“. Rede zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit in Potsdam am 3. Oktober 2020. Berlin 2020, S. 11) proklamiert, sehen sich AfD-Wähler_innen am Tiefpunkt der Geschichte. Dies ist Ausdruck einer temporalen Spaltung, deren Bedrohlichkeit kaum zu unterschätzen ist, denn die Rechtspopulist_innen kündigen mit ihrem Chiliasmus den gemeinsamen Diskurs über die Zukunft endgültig auf. In diesem Sinne sind die Endzeitvorstellungen der AfD-Wähler_innen ahistorisch und historisch zugleich. Gerade deshalb ist die Temporalität rechter Weltanschauungen eine ihrer alarmierensten Dimensionen. Ihre Zeit- und Geschichtsbilder sind dabei keinesfalls Nebenprodukte ihrer ideologisch-politischen Orientierung, sondern vielmehr handlungsleitend. Dies methodisch sorgfältig und theoretisch überzeugend herausgearbeitet zu haben, ist der besondere Verdienst dieser Studie.

Kritisch anzumerken ist, dass Rhein den Begriff der Nostalgie auf eine schwärmerische Rückwärtsgewandtheit verengt und damit aktuelle Debatten übergeht. Svetlana Boym etwa betont gerade die Zukunftsgerichtetheit der Nostalgie (The Future of Nostalgia. New York 2001, S. xvi). Dass es bei Nostalgie im Kern nicht um das ‚Ewiggestrige‘ geht, hat Zygmunt Bauman mit dem Derrida‘schen Begriff der Reiteration treffend umrissen (Retrotopia. Frankfurt a. M. 2017, S. 18). Baumann argumentiert, dass die nostalgischen Rückgriffe auf vergangene Zeiten nicht auf eine bloße Wiederholung zielen, sondern auf die Wiederkehr des Vergangenen in transformierter und neu interpretierter Form. Ohnehin, so wird verschiedenfach betont (vgl. Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Frankfurt a. Main 2023, S. 257–258), beziehen sich nostalgische Phantasmen keinesfalls auf die reale, sondern stets auf eine imaginierte Vergangenheit. Schließlich ist Nostalgie vor allem eines: Rhetorik anti-rationaler und identitärer Emotionalisierung. Rheins Ansatz, der sich auf eine eng definierte Form der Nostalgie konzentriert, übersieht damit, wie nostalgische Gefühle die Zukunftsvorstellungen rechtspopulistischer Bewegungen prägen. Vielmehr müssen Zukunftsimaginationen, Vergangenheitsvorstellungen und Gegenwartsdeutungen in einer engen Verzahnung gesehen werden. Wünschenswert wäre es zudem gewesen, das Zusammenspiel der Erfahrung der Zeitkrise als prominentes handlungsorientierendes Moment mit anderen leitenden Faktoren weiter zu ergründen. Schließlich muss die These – dass der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die spätmoderne Zeitkrise sei – in gewisser Weise unscharf bleiben, insbesondere weil der Beginn der Spätmoderne mit gesellschaftlichen Umwälzungen wie der neoliberalen Wende und dem Siegeszug der Identitätspolitik zusammenfällt.

Es bleibt zu hoffen, dass die vorliegende Arbeit zu weiteren Untersuchungen der Zeitauffassungen der rechten Wähler_innenschaft in einem breiteren Kontext anregt. Zudem wäre es aufschlussreich, die Wechselbeziehung zwischen den temporalen Orientierungsrahmen der AfD-Wähler_innen und der Programmatik sowie der strategischen Kommunikation der AfD zu durchleuchten. Schließlich bleibt die Frage von immanenter Bedeutung, wie es der AfD im Konkreten gelingt, die doch in Teilen sehr unterschiedlichen Zeitvorstellungen ihrer Wählerschaft so erfolgreich zu bedienen.


English Abstract

„History, but normal!“ On the Derailment of the Present from the Tracks of History
In the sociological dissertation Rechte Zeitverhältnisse, Philipp Rhein examines right-wing populist concepts of time. He analyzes interviews for the temporal orientation of AfD voters. His core thesis is that right-wing populism is a reaction to the time crisis of late modernity (Spätmoderne). The guiding principle is not the loss of the past, but of the future, which is distilled in the figure of right-wing populist chiliasm. Rhein’s analysis thus offers an important insight into the temporal perception of the right-wing electorate.

 

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