Formen von Study — oder wie Black music interpretiert wird

 

A Review by Noah Grossmann (grossmann@zfl-berlin.org; https://orcid.org/0009-0009-3433-6200)

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL)

 

Singh Brar, Dhanveer. Teklife, Ghettoville, Eski. The Sonic Ecologies of Black Music in the Early 21st Century. London: Goldsmiths Press, 2021. 184 Seiten, 28 EUR. ISBN: 9781912685790.

 

Abstract

In seinem Buch analysiert Dhanveer Singh Brar Phänomene der Black music. Er schließt an Debatten über undercommons, aesthetic sociality und Blackness an, und entwickelt darauf aufbauend das Konzept der sonic ecology. An drei Fallbeispielen zeigt der Autor, wie sich musikalisch-soziale Praktiken gegen die rassifizierte Realität des frühen 21. Jahrhunderts auflehnen.

 

Review

Dhanveer Singh Brar analysiert in seinem Buch Teklife/Ghettoville/Eski drei Formen von Black music, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden sind. Die Analyse von Blackness bringt eine spezifische Herausforderung mit sich, da die Blackness eines Kulturphänomens nicht durch die Hautfarbe der beteiligten Menschen bestimmt wird. Die Blackness dieser Menschen ist genauso wenig empirisch real wie die Blackness von Black sound (vgl. Tavia Nyong’o, Afro-philo-sonic Fictions, Durham 2014, S. 173). An Singh Brars Analysen lässt sich nachvollziehen, dass die Black Studies verschiedene Realitätsperspektiven balancieren müssen: einerseits bedeutet Blackness „racial property“, also die Gewalt der Rassifizierung im Kapitalismus, die brutalen Zwänge der Prekarität und der Ausschlüsse (S. 4). Andererseits beschreibt Blackness die permanente Produktion eines „Black social life“, welches laut Singh Brar „genuine alternatives to the present violent racial policing of things” darstelle (S. 4). In seinem Buch versucht Singh Brar eine Theorie(sprache) für diese Alternative oder für das Möglichkeitsmoment von Schwarzer Kultur zu entwickeln, womit sich die „sonic, technological and spatial determinations of race“ (S. 133) durchbrechen ließe.


In den ersten beiden Kapiteln bereitet Singh Brar seine Perspektive der kritischen Ästhetik vor. Dafür skizziert er zunächst die Entstehung der Schwarzen elektronischen Musiklandschaft in Nordamerika und Europa (Kapitel 1: „Mineral Interiors: House, Techno, Jungle“). Dann skizziert er in Kapitel 2 „The Blackness of Electronic Dance Music“ die Geschichte der Theoretisierung von Black electronic dance music. Diese Rekapitulation ist sehr gut lesbar und leistet Pionierarbeit mit dem Ziel, ein junges Forschungsfeld sichtbar zu machen, in dem die spezifischen Beziehungen zwischen Kunstschaffenden, technologischem Equipment, sound und dem Publikum auf innovative Weise als Blackness interpretiert werden. Die „aesthetic possibilities of the music“ (S. 5) werden nämlich nicht etwa aus der Eigenlogik des Kunstwerks oder dem Zusammenhang zwischen Resignifikation und Identität gedacht, sondern als Produktion von „phono-material sound“-Atmosphären (S. 4) oder „sonic ecologies“, die „social experimentation“ ermöglichen (S. 4). Entsprechend koppelt Singh Brar in seiner Analyse der Musikphänomene zwei Momente aneinander, um ihre Blackness zu verstehen: Der experimentell-offene Charakter der sozialen Beziehungen ist durch die „sensory production of an alternative“ (S. 4) bedingt, und umgekehrt ist gerade diese Andersheit der „sensory intuition“ (S. 50) nur durch bestimmte soziale Beziehungen möglich. Wie Singh Brar diese Ko-Konstitution von Sozialität und Sinnlichkeit theoretisiert, wird an seinen Fallstudien nachvollziehbar.


Teklife


Singh Brar wendet sich zunächst dem Chicagoer Musikstil Footwork der Teklife-Crew zu, einer harten, schnellen Version des House. Er analysiert eine bestimmte Rezeptionsform dieser Musik: die Duelle von dance crews und im Besonderen die Formation des battle circle. Während DJs Footwork-Mixes auflegen, treten verschiedene Tänzer_innen mit ihren moves in Konkurrenz zueinander, während die Zuschauenden durch Gesten und Geräusche eine Reaktionskulisse erzeugen. Mit großer Liebe zum Detail skizziert Singh Brar die Techniken einzelner Tänze, die Eigenheiten der Musik und die Ekstase des Publikums (vgl. S. 57).


Singh Brar arbeitet heraus, inwiefern die sozialen Relationen des battle circle in ständiger Produktion sind: Die Beziehungen zwischen Musikproduzent_innen, DJs, Tänzer_innen und Publikum sind ein vielschichtiges Geschehen, in dem die verschiedenen Elemente intensiven ‚Druck’ aufeinander ausüben, der einen kollektiven Improvisationsmodus hervorruft (S. 75): „It is the design of the battle circle which tells us that dance crews and producers are not distinct entities, but nodes within a system of distributed intelligence“ (S. 75). Diese interne Logik der sonic ecology durchbricht damit die Logik des Ghettos, welche Schwarzes Leben isoliert, verarmt und zum Objekt von Kontrolle macht (S. 70). Der battle circle kreiert eine Gegengeographie, einen eigenen „sense of place“ als „mode of socially strategized overabundance“ (S. 75). Auf der einen Seite fokussiert Singh Brar also den sinnlichen Reichtum sozialer Beziehungen, die laut der Logik des Ghettos gar nicht da sein sollten. Neben dieser internen Perspektive auf die ecology entwickelt Singh Brar noch eine weitere. Seine Analyse wird detaillierter, er zoomt in den battle circle hinein auf die „relations between limbs and environment, rhythm, and ground“ und gelangt letztlich zu Video Stills von Tänzern im battle circle, die im Buch als Abbildungen reproduziert sind (S. 57, 78): die Momentaufnahmen der Tänzer interpretiert er als „repurposing of turned over ground, to the extent that the battles start to generate choreographic designs for buildings that await realization“ (S. 78). Er interpretiert das Geschehen also nicht nur als produzierte Überfülle, sondern auch als utopische Figur, als „blueprint of another […] city“ (S. 80). Details dieser Verweislogik liefert Singh Brar nicht. Das damit ins Spiel gebrachte utopische Vokabular steht in Spannung zur Theorie einer Überfülle und Immanenz der ecology der battle circles.


Eski


Singh Brars Interpretation der in London entstandenen musikalischen Innovation namens „Eski-beat“ (S. 107) bzw. der Grimeszene (vgl. S. 109) ist demgegenüber weniger spekulativ. Er referiert zunächst die Neuartigkeit der sounds, die Rapper in ein „reorganized sonic terrain“ transportieren und diese damit in eine neue Rolle versetzen (S. 108). Analog zum battle circle interessieren Singh Brar erneut die Beziehungen der Rezeption, bzw. Distribution. Im Fall von Grime sind das die pirate radio stations, die er im Sinne der ecology als Ensemble versteht: technische Elemente („transmitter, microwave link, antennae“) werden in Relation zu Instrumenten („turntables, mixers, aimplifiers“) und Institutionen („record shops, clubs, parties“, S. 123) gebracht und kreieren eine Expansionsbewegung der Londoner „internal urban colony“ (S. 129) gegen die „imperial function of the metropole“ (S. 134). Wenn Teklife eine Chiffre für die Ahnung einer anderen Geographie ist, ist Eski das praktizierte Wissen des Konflikts. Grime ist für Singh Brar reiner Kampf und ermöglicht damit ein bestimmtes „sensory knowledge“ (S. 133): das Wissen vom Krieg gegen eine Welt voller Feinde. Es ist diese in Grime auftauchende Kapazität für den Konflikt, die Singh Brar als „capacities for Blackness“ (S. 134) bezeichnet.


Ghettoville


An Singh Brars Analyse des Albums Ghettoville des Künstlers Actress wird noch einmal der notwendige, aber unreflektiert gebliebene konstruktive Aspekt der Theoriearbeit im Zusammenhang mit Blackness deutlich. Singh Brar analysiert Interviewausschnitte des Künstlers, in denen dieser seinen eigenen Track „Street Corp.“ interpretiert: Actress beschreibt einen Obdachlosen, der einen Koffer voll scheinbarem Müll durch die Straße zieht, „which may not mean anything to a normal person but would mean everything to the person carrying it“ (S. 92). Singh Brar ist fasziniert von Actress‘ emphatischem Blick, der Obdachlosigkeit wie im Songtitel angedeutet als Corporation, also als eine gemeinsame Unternehmung betrachtet und Armut damit als „a type of collective self-maintenance“ (S. 92) versteht. Singh Brar nimmt sich diesen Blick zum Vorbild und sucht die Musik des Albums ab nach einer „sociality that is in constant motion“ (S. 102) und dem „gestural life“ (S. 97) der kollektiven Bedeutungskonstitution namens „undercommons“ (S. 103). Singh Brar findet sie als Ökologie von Affekten: „dissonant ecstasy“, „dystopic endzone“, „coital lush“ und „teary-eyed bliss“ würden auf dem Album hörbar werden und verweisen auf den „social wealth“, der das „Black social life“ ausmache (S. 104).


Der Begriff der sonic ecology und die Konstitution der jeweiligen „aesthetic sociality“ (S. 68) bleiben nach der Analyse der drei musikalischen Phänomene heterogen. Singh Brar selbst bezeichnet sie passenderweise auch als „experiments in Blackness“ (S. 4). Hervorzuheben ist, wie es ihm gelingt, bestimmte Ausschnitte aus den musikalischen Phänomenen zu isolieren: so werden soziale Formen, Organisationsweisen und Relationalitäten sichtbar, die von einer geteilten Sinnlichkeit durchzogen sind. Singh Brar zeigt Möglichkeiten, wie das Potential von Theoriearbeit zu fassen ist: die Ahnung der Tanzfiguren des battle circle, der Reichtum der Affekte auf Ghettoville, und die Erfahrung des Konflikts im Grime. Die aesthetic sociality, die diese Phänomene durchzieht, derart zu fokussieren und als Aspekt von Blackness in den Blick zu nehmen, ist eine wichtige Leistung des Buches. Die Frage, welche Form von Spekulation der Herausforderung von Blackness angemessen ist und inwiefern theoretische Kohärenz diese Spekulationen prägen sollte, reflektiert der Autor nicht. Doch indem er ein heterogenes Panorama von „experiments in Blackness“ (S. 4) präsentiert, wird deutlich, wie offen und unklar das Verhältnis von theoretischer Praxis und Blackness ist, und wie wichtig es ist, dieses weiter zu schärfen.

 

English Abstract

Forms of Study — Or How to Interpret Black Music

In his book, Dhanveer Singh Brar analyzes phenomena of Black music. He contributes to debates about undercommons, aesthetic sociality, and Blackness, and develops the concept of sonic ecology. Using three case studies, the author shows how musical-social practices mediate and counter the racialized reality of the early 21st century.

 

 

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