Reclaiming: Wie kann Diskriminierung als ermächtigend offenbart werden?
A Review by Anastasiia Marsheva (Anastasiia.Marsheva@gcsc.uni-giessen.de; https://orcid.org/0000-0002-7949-4730)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)
Schmidt, Jara and Jule Thiemann (Hrsg.): Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung. Berlin: Neofelis, 2022. 314 Seiten, 26 EUR. ISBN: 978-3-95808-341-7.
Abstract
In
dem theoretisch fundierten und gleichzeitig praxisorientierten Sammelband
Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung,
herausgegeben von Jara Schmidt und Jule Thiemann, werden gegenhegemoniale
Praxen analysiert. Dies erfolgt nicht nur interdisziplinär und
international, sondern auch anhand verschiedener Datentypen. Den
Autor_innen gelingt es, die Diskriminierungsformen zu offenbaren, ohne die
Handlungsfähigkeit der Betroffenen eingeschränkt darzustellen.
Review
„Diese Räume ästhetischer Praxis — Literatur, Film, Kunst — funktionieren dabei auch als Ersatzräume für politische Debatten, in denen solche Perspektiven derzeit noch wenig Berücksichtigung finden.“ — Stellt der Autor Max Czollek im Interview fest, welches als Ausblick den Sammelband abschließt (S. 298). Damit schreibt er dem Sammelband Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung, herausgegeben von Jara Schmidt und Jule Thiemann, eine hohe Bedeutung zu. Denn der Sammelband bietet eine Plattform zur Diskussion vielseitiger Perspektiven gegen unterschiedliche Diskriminierungsformen.
Der Sammelband geht aus einer Tagung hervor, die 2020 in Hamburg stattfand. Die Beiträge reichen von Analysen dramatischer Texte und des Deutsch-Raps bis hin zu Agency-Analysen von Gesprächen mit Patient_innen. Nicht nur die Vielfalt des analysierten Materials ist bemerkenswert, sondern auch die Beitragsformen, die nicht nur aus wissenschaftlichen Artikeln bestehen, sondern auch einen Comic und ein Interview umfassen. Dies kann wiederum auch als eine Praxis der Aneignung des akademischen Raums durch Künstler_innen interpretiert werden.
Der Sammelband verleiht diskriminierten und marginalisierten Menschen Gehör, ohne sie als Opfer darzustellen. Die Beiträge des Sammelbandes analysieren entweder bereits unternommene Praxen der Aneignung oder machen darauf aufmerksam, wo solche Praxen notwendig wären. So geht Stefan Maier auf das Potenzial des DaZ-Unterrichts ein, bei dem ein kritischer Umgang mit der Sprache geschult werden soll (vgl. S. 165–180). Ein beachtlicher Teil der Beiträge ist im postmigrantischen Diskurs verortet. Die Herausgeberinnen Jara Schmidt und Jule Thiemann führen folgendermaßen in den Diskurs ein: „Gemeint sind mit dem Terminus Postmigration bzw. ‚postmigrantisch‘ die Perspektiven und Geschichten derer, die nicht selbst migriert sind, diesen sogenannten Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive / familiale Erinnerung mitbringen“ (S. 12). Wie Erol Yıldız treffend bemerkt, ist Postmigration „eine offene Denkweise“ (S. 20). Auch wenn der Beitrag von Yıldız einen umfassenden Überblick über Postmigration in der Theorie bietet, entfaltet sich der theoretische Rahmen in anderen Beiträgen weiter. Die Autor_innen beziehen sich auf verschiedene Theoretiker_innen und Aspekte des Postmigrantischen. So definieren viele Autor_innen die postmigrantischen Praxen nicht durch die biografischen Merkmale der Menschen, von denen die Praxen ausgehen, sondern durch den reflektierten Umgang mit Migration (vgl. z. B. Benbenek, S. 264).
Die im Sammelband vorgestellten widerständigen Praxen sind sehr verschieden. Während sich die postmigrantischen Praxen gegen die Mehrheitsgesellschaften mehrerer Länder (wie z. B. Deutschland oder Australien) richten, greifen andere Praxen u. a. ältere Generationen, den Staat und das Patriarchat an. Das verbindende Element verschiedener Kämpfe ist das gemeinsame Ziel, die Deutungshoheit zu gewinnen. Einige der Strategien der Betroffenen werden im Folgenden vorgestellt. In der Mehrheit der Beiträgen geht es um sprachliche Mittel des Widerstands, die die Diskriminierungsformen offenbaren und zum Nachdenken zwingen. So wird absichtlich und konsequent gegen sprachliche Normen verstoßen (vgl. Cramer, S. 62–64; Schirrmeister, S. 114). Außerdem wird hinterfragt, wie die Kritik, die gegen die Mehrheit gerichtet ist, in der Mehrheitssprache geäußert werden kann (vgl. Rinderle, S. 230). Diskriminierende Begriffe, Diskurse und Strategien werden angeeignet und für eigene Zwecke verwendet (vgl. Yıldız, S. 27; Cramer, S. 58; Rotter, S. 139; Baehr-Oliva, S. 217–218; Benbenek, S. 267). Auch wenn sich Akteur_innen gegen die Reproduktion und Re-definition der stereotypisierten Vorstellungen entscheiden, sprechen sie sich aktiv dagegen aus (vgl. Munzel, S. 293). Die Räume der ästhetischen Praxen ermöglichen es, das Machtverhältnis auf den Kopf zu stellen und die dominante Kultur als unterrepräsentierte Kultur darzustellen (vgl. Lempp, S. 38) oder normalerweise nicht-markierte Menschen zu markieren (vgl. Cramer, S. 61).
Der Sammelband bietet viele neue Sichtweisen. Bereits die theoretische Rahmung der Postmigration bedeutet eine Verschiebung der gewöhnlichen Perspektive. So stellt Yıldız die Migrationsgeschichte auf eine neue, erfrischende Weise dar (vgl. S. 22–24). Ewelina Benbenek betrachtet die postmigrantische Lesart als eine Kompetenz, ohne die die Gesellschaftskritik in postmigrantischen Texten nicht verstanden werden kann (vgl. S. 277). Im Großen und Ganzen eröffnet die postmigrantische Perspektive die Möglichkeit, die Polyphonie von Erfahrungen und Lebensentwürfen in einer Gesellschaft zu sehen und sie nicht in die leider noch vorhandenen Schubladen ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘ zu stecken (vgl. Lempp, S. 43). Neben der postmigrantischen Perspektivenverschiebung kommt u. a. der feministische Perspektivenwechsel zum Vorschein. Wie Fabienne Fecht in ihrem Beitrag über die Aneignung von Friedrich Schillers Die Räuber darstellt, erfolgt der Perspektivenwechsel nicht nur durch die Aneignung des Textes des Dramas, sondern auch durch die Besetzung des gesamten Ensembles mit Frauen (vgl. S. 259).
Der theoretisch fundierte und praxisorientierte Sammelband greift die diskriminierenden Strukturen an und lässt Betroffene sprechen, ohne den Kampf auf die Identitäten zu reduzieren. Er stellt die Handlungsstrategien dar, die sowohl von Betroffenen als auch von Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren, ergriffen werden. In dem Sammelband finden sich neue produktive Verknüpfungen: beispielsweise die Verknüpfung des in Deutschland entwickelten Ansatzes der Postmigration mit der skandinavischen Literatur (vgl. Rinderle, S. 221–235) oder die Verknüpfung der Postmigration mit dem Postmonolingualismus (vgl. Cramer, S. 51–66). Es wäre wünschenswert gewesen, wenn noch eine weitere Verknüpfung hinzugekommen wäre. Aus meiner Sicht hätten postmigrantische und widerständige Praxen auch gemeinsam in einem gesonderten Beitrag betrachtet werden können, besonders weil sich Allianzen in einer postmigrantischen Gesellschaft bilden, die nicht auf Herkunft, sondern auf geteilten Haltungen basieren (vgl. Foroutan, Naika: „Die postmigrantische Perspektive: Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften,“ in: Marc Hill/Erol Yıldız: Postmigrantische Visionen. Erfahrungen — Ideen — Reflexionen. Bielefeld 2018, S. 15–28, hier: S. 22–23.).
Zusammengefasst
zeigt der Sammelband, wie Menschen, die selbst von Marginalisierung und
Diskriminierung betroffen sind oder die sich mit ihnen solidarisieren,
Teilhabe für die Betroffenen in der Gesellschaft einfordern. Er ist nicht
nur für diejenigen empfehlenswert, die sich für postmigrantische und
widerständige Praxen interessieren, sondern auch für diejenigen, die sich
mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen
möchten.
English Abstract
Reclaiming:
How to Reveal Discrimination as an Act of Empowerment
The
theory-based and at the same time practice-oriented volume Reclaim!
Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung, edited by
Jara Schmidt and Jule Thiemann, analyzes counterhegemonic practices. The
contributions are not only interdisciplinary and international but also
based on different types of data. The authors succeed in revealing the
forms of discrimination without restricting the agency of those who face
discrimination.
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