Eine transnationale Beziehungsgeschichte der Stadt Vilnius
Eine Rezension von Maria Coors (Maria.Coors@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Weeks, Theodore R.: Vilnius Between Nations. 1795-2000. DeKalb, Illinois: Northern Illinois University Press, 2015. 366 S., 42.49 Euro. ISBN: 978-0875807300.
Abstract
Theodore R. Weeks legt mit Vilnius Between Nations 1795 – 2000 eine raumhistorisch zugespitzte Geschichte der Stadt Vilnius vor. Die Darstellung liefert einen auf breiter Quellen- und Literaturbasis gestützten Überblick über die letzten 200 Jahre und fokussiert dabei auf den Aspekt des Zusammenlebens in der multiethnischen Stadt, ohne jedoch den konstruktiven Charakter nationaler Kategorien aus dem Blick zu verlieren. Weeks knüpft sowohl thematisch als auch regional an seine frühere Forschung an und verbindet einen sozialgeschichtlichen Ansatz mit kulturgeschichtlichen Aspekten, ohne jedoch politische Kontexte zu vernachlässigen. Den speziellen Herausforderungen einer modernen Raumtheorien verpflichteten Geschichtsschreibung trägt er Rechnung, indem er seine Fragestellung immer wieder an topographische Entwicklungen rückbindet. Denkmalkultur, Straßenbenennung und Infrastrukturentwicklung bringt Weeks mit historischen Narrativen, etwa aus zeitgenössischen Reiseführern, produktiv ins Gespräch.
Rezension
Die Narration beginnt nach einem Überblickskapitel zur sprachlichen und religiösen Vielfalt der „Frühgeschichte“ mit der dritten polnischen Teilung. Die Zeit bis 1862 strukturiert Weeks entlang der Russischen Besatzung, der Napoleonischen Besatzung und dem Novemberaufstand 1830. Neben den bevölkerungs- und infrastrukturellen Folgen beschreibt er die verschiedenen Kulturen Vilnius‘. Für die Polen war vor allem die 1803 erbaute Universität wichtig, die kulturellen Nährboden für politisierte Studentengruppen sowie polnische Literatur und Presse bot. Das jüdische Vilnius war sowohl Zentrum der erstarkenden Orthodoxie als auch der beginnenden jüdischen Aufklärung. Für das Russische Vilnius gilt bis Ende des Zarenreichs die Gleichung „russisch“ – „russisch-orthodox“ (pravoslavie). Zum Ausgang des 18. Jahrhunderts verschoben sich die religiösen Mehrheitsverhältnisse jedoch zu Gunsten des Katholizismus und der unierten griechisch-katholischen Kirche.
Das dritte Kapitel behandelt die Russifikationspolitik, die ab 1863 als Reaktion auf den polnischen Aufstand 1862 einsetzte und bis zum Ende der zaristischen Herrschaft über die Stadt andauerte. Weeks zeigt diese Politik anhand der Beispiele des Ausbaus und Wiederherstellung orthodoxer Kirchen sowie des Druckerei- und Verlagswesens, der Wissenschaft und der städtischen Denkmalsarchitektur. Polnische Kultur fand nur im Untergrund, in Form eines illegalen Schul- und Publikationswesens statt. Jüdische Kultur hingegen war selten konsequent von russischem Akkulturationsdruck bedroht und bestritt in Vilnius mit dem Politischen Zionismus und dem Jüdischen Arbeiterbund ihren Sonderweg in die jüdische Moderne. Litauische Kultur in Form eines eigenen Bildungs- und Publikationswesens entstand erst in dieser Phase und erhielt besonders durch die Revolution Aufschwung.
Das Kapitel zum Ersten Weltkrieg umfasst auch die Bürgerkriegszeit bis 1922. Es setzt einer chronologischen Struktur folgend mit den Unterkapiteln einen ereignisgeschichtlichen Schwerpunkt. Für die erste Kriegsphase bis September 1915 macht Weeks eine fast umfassende Forschungslücke aus. Die zweite Phase der deutschen Besatzung charakterisiert er als humanitäre Katastrophe, deren verheerenden Auswirkungen die gleichzeitigen, positiven Aspekte deutscher Kulturförderung der nationalen Gruppen bei Weitem in den Schatten stellte. In der Bürgerkriegsphase steht trotz der vielfachen Machtwechsel vor allem der diplomatische Kampf zwischen Polen und Litauen im Zentrum seiner Darstellung.
Die Darstellung von 1919-1939 im fünften Kapitel fokussiert auf die Polonisierungspolitik, paradigmatisch das Projekt der Universitätsneugründung. 1919 eröffnet, beherbergte sie weder Lehrstühle für Litauische noch für Hebräische oder Jiddische Philologie. Ethnische Diversität fand ihre Repräsentation im öffentlichen Raum, jedoch nur unter dem Paradigma polnischer Hegemonie. Relative Freiheit galt auch für die zahlenmäßig kleine litauische Bevölkerung trotz anhaltender diplomatischer Eiszeit zwischen Polen und Litauen. Anhand von Egodokumenten behandelt Weeks das Thema des polnischen Antisemitismus.
Das sechste Kapitel behandelt die Zerstörung der Multinationalität. Der deutsche Terror richtete sich in erster Linie gegen Jud_innen und Kommunist_innen. Polen hatten im nationalsozialistischen ‚Traum’ vom ‚Neuen Europa’ nur einen untergeordneten Platz und gehörten in großem Ausmaß zu den Opfern. Litauer_innen hingegen wurden, wenn auch nicht als ebenbürtige, so doch als Verbündete gesehen. Unter Verweis auf die Komplexität des Themas sowie nach wie vor ausgetragener Kontroversen skizziert Weeks die Shoah in Vilnius und thematisiert dabei sowohl die litauische Kollaboration als auch die beeindruckende Kultur im Ghetto, den katastrophalen Verhältnissen zum Trotz. Der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung fiel der deutschen Vernichtung zum Opfer. Während und nach dem Krieg stieg der litauische Zuzug in die Stadt an. Die breite „Entpolonisierung“ begann jedoch unter sowjetischer Führung erst ab 1944 mit teils freiwilligen, teils erzwungenen Evakuierungen in die neuen Grenzen Polens.
Im siebten Kapitel vertritt Weeks mit der „Sozialistischen Normalität“ die These, dass sich die Stadtentwicklung bis 1985 nicht nennenswert von der, anderer sowjetischer Städte unterschied. Stadt und Bevölkerung wuchsen kontinuierlich. Baulich wurde dem Bevölkerungsboom erst ab den 60-er Jahren Rechnung getragen. Weeks konstatiert, dass, russischem Zuzug zum Trotz, 30 Jahre nicht ausreichten, das Ziel einer sowjetisch-litauischen Identität zu erreichen.
Politische Wende und die ersten Jahre eines unabhängigen Litauens fasst das achte Kapitel zusammen. Gestalteten sich die ersten Schritte zu einem stärker national geprägten und unabhängigeren Litauen verhältnismäßig ruhig, kam es 1991 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die eine rigorose Abkehr von Moskau zur Folge hatten. Weeks konzentriert sich besonders auf die sich verschiebenden Geschichtsdiskurse, sowie erneut auf die topographische Umgestaltung der Stadt.
Theodore R. Weeks ist es gelungen, einen narrativen Bogen über das 19. und 20. Jahrhundert zu spannen und die Geschichte mit konsequent räumlichem Fokus zu erzählen. Seine Erzählweise, die Handeln und Erleben der lokalen Akteure_innen in die größeren politischen Zusammenhänge einbettet, bietet für Fachpublikum wie interessierte Laien_innen eine gewinnbringende Perspektive. Kaum vermeidbar scheint dabei, dass einige Kapitel im Hinblick auf Quellenbasis und Pointierung dichter sind als andere. Forschungslücken etwa in den letzten beiden Kapiteln benennt Weeks. Sie zu füllen kann kaum Aufgabe eines solchen Bandes sein. Die teils unorthodoxen Periodisierungen unterstreichen die historiographische Notwendigkeit solch lokaler Darstellungen. Erstaunen mag dabei lediglich der gewählte Schlusspunkt im Jahr 2000, der sich als Zäsur nicht erschließt. Vielmehr böte, auch im Hinblick auf das von Weeks selbst gesteckte Ziel des besseren Verständnisses vom Verhältnis zwischen Nationalität und moderner Politik, etwa der litauische EU-Beitritt sowie Erinnerungsdiskurse der 2000-er ein interessantes Anwendungsfeld der historischen Analysen. Der vergleichsweise schmale Band bietet einen gut nutzbaren Index, eine breite Bibliographie sowie zehn Bildseiten.
English Abstract
The City of Vilnius: A Transnational and Relational History
Theodore R. Weeks presents his textbook Vilnius Between Nations 1795 – 2000 as a transnational history of Vilnius. The book is based on a large variety of sources and provides a valuable overview of the past 200 years. The author vividly describes ethnic cohabitation and collaboration as well as struggles and destruction. Thereby he makes use of national categories while emphasizing the city’s historical fragility. Writing this book, Weeks partially returns to subjects and regions of his former studies. His approach convincingly combines aspects of social and cultural history while contextualizing findings within a broader political history. Informed by a modern history of space the author engages topographical developments such as memorials and street names and juxtaposes them with contemporary historiographical narratives.
Copyright 2017, MARIA COORS. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).