Von der Verflechtung und Entflechtung — Im Austausch mit Transkulturalität
A Review by Melisa M. Çiçek (melisa.cicek@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of
Culture (Giessen)
Erfurt, Jürgen (ed.). Transkulturalität. Prozesse und Perspektiven. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 2021. 363 Seiten, 31 EUR. ISBN: 978-3-8252-5542-8.
Abstract
Der
Band Transkulturalität — Prozesse und Perspektiven von Jürgen
Erfurt beschäftigt sich mit kulturellen Verflechtungs- und
Entflechtungsbeziehungen. Erfurt liefert mit seinem Buch einen gelungenen
Überblick über die aktuelle Forschungslage und über die Vielschichtigkeit,
die hinter dem Begriff Transkulturalität steckt. Der Autor bietet ein
umfassendes Orientierungswissen für Studierende an, welches in Zukunft
durchaus als Grundlagenwerk genutzt werden kann.
Review
Jürgen Erfurts Buch Transkulturalität — Prozesse und Perspektiven beginnt mit einem unerwarteten Einstieg. Man befindet sich mitten in der Frankfurter Innenstadt, um genau zu sein im Bahnhofsviertel Frankfurts. Was zunächst als eigenartiges und unpassendes erstes Kapitel eines Buches zu Transkulturalität wirkt, macht spätestens zu dem Zeitpunkt deutlich, an dem der Spaziergänger nahe der Ecke Münchener Straße/Elbestraße in einem Bistro ankommt, welches Perspektiven Geflüchteter aus Syrien und Afghanistan ausstellt (vgl. S. 16), dass der Spaziergang durch das Frankfurter Bahnhofsviertel viele gelungene Beispiele für transkulturelle Verflechtungen bietet.
Erfurt betrachtet das Forschungsfeld der Transkulturalität aus einer kulturwissenschaftlichen und philologischen Perspektive und diskutiert unterschiedliche Konzepte wie Hybridität, Translatio, migrantisches Schreiben, Erinnerung, Sprachbiographie, Diaspora, Generation und Kosmopolitismus. Hierbei denkt er stets die Bedeutung von Sprache, Sprachen und Mehrsprachigkeit im Kontext der Transkulturalität mit. Am Ende soll Transkulturalität — Prozesse und Perspektiven als Grundlagenwerk insbesondere für Studierende dienen.
Um den Begriff Transkulturalität zu definieren, muss zunächst das Verständnis bezüglich des Begriffs Kultur und der Unterschied zwischen den Begriffen Bi-, Multi- und Interkulturalität gegenüber Transkulturalität klar gemacht werden. Dies macht Erfurt in Kapitel 2 „Kultur und Kulturen im Konfliktmanagement“ sehr ausführlich, insbesondere in Abschnitt 2.4 „Bi-, Multi-, Interkulturalität als Konzepte des Konfliktmanagements“. Hier erklärt er anhand des Beispiels Kanada, inwiefern sich die jeweiligen Begrifflichkeiten voneinander trennen lassen. In Kanada wurde 1968 das Prinzip der Bikulturalität eingeführt, welches allerdings bereits 1971 von Multikulturalität als neues Prinzip der Staatspolitik abgelöst wurde (vgl. S. 59). Mit einem erweiternden Blick auf Québec erklärt der Autor, dass die Strategie der Interkulturalität gemeinsam mit der Multikulturalität als Prinzip genutzt wird. Erfurt fällt auf, dass die drei Praktiken im Nationalstaat verwurzelt sind, wohingegen sich Transkulturalität insbesondere durch die „Globalisierung und der Erosion von Grenzen“ (S. 297) entfaltet. Weiter werden in Kapitel 2.7 die drei für Erfurt relevanten Schlüsselbegriffe in Verbindung mit Transkulturalität vorgestellt: Ungleichheit, Differenz und Emergenz. Mit dem Einführen dieser Schlüsselkonzepte möchte Erfurt die Prozesse und Strukturen der Transkulturalität nicht mehr differenztheoretisch betrachten, sondern eine emergenztheoretische Reflexion bieten (vgl. S. 298). Es scheint als würde Erfurt die Komplexität des Verständnisses zur Transkulturalität durch seine immer wiederkehrenden Aufzählungen von Definitionsaspekten deutlich machen wollen, an dieser Stelle verliert er jedoch die lesende Person zwischen den Aufzählungspunkten.
Nachdem Erfurt Transkulturalität definiert hat, geht er anschließend der Frage nach, wo das Konzept seinen Ursprung hat. An dieser Stelle wird eine besonders für Studierende hilfreiche synoptische Darstellung zur Begriffsgeschichte der Transkulturalität (vgl. Kapitel 3.6, S. 123–126) geliefert. Diese unterteilt die unterschiedlichen Disziplinen, benennt die Autor_innen und vergleicht deren Motiv, den Fokus und das Sprachkonzept, auf dem sich der oder die jeweilige Autor_in stützt.
Die bereits eingangs erwähnten Konzepte Hybridität, Diaspora, Erinnerung, migrantisches Schreiben, Sprachbiographie, Generation und Translatio werden in Kapitel 4 „Konzepte und Felder transkultureller Forschung“ eindringlich vorgestellt und als „Elemente der Struktur von Transkulturalität“ (S. 207) in Verbindung gebracht. Er geht darauf ein, dass die unterschiedlichen Forschungsfelder und Konzepte durchaus in Beziehung miteinander stehen und dadurch das Konzept der Transkulturalität strukturieren und differenzieren. Auch hier liefert Erfurt eine hilfreiche Übersicht über das Netzwerk der Konzepte (vgl. Abb. 4.2, S. 208). Erneut wird an dieser Stelle deutlich, wie grundlegend die Betrachtungen des Buches sind und dass es als zukünftiges Standardwerk dienen kann.
Das Buch beginnt im Frankfurter Bahnhofsviertel. Die ethnografische Begehung macht die vielfältigen Verflechtungen deutlich, inspiriert den Autor, nach weiteren Verflechtungen der Transkulturalität zu suchen. Er spaziert durch verschiedene Definitionsversuche, erklimmt unterschiedliche Konzepte, läuft entlang unterschiedlicher Theorien und findet sich am Ende seiner Reise vor einer vermeintlichen Sackgasse wieder: Wie soll Transkulturalität erforscht werden, wenn sie von der „Verflochtenheit von Gesellschaften“ (S. 299) ausgeht? Um Verflechtung zu verstehen, heißt es also demnach einen Schritt zurückzugehen und die analytische Praxis der Entflechtung zu betreiben. Die Entflechtung dient zum besseren Verständnis. Erfurt legt abschließend im Rahmen der Entflechtung eine synoptische Darstellung der im Buch behandelten Elemente der Transkulturalität vor. Auch zum Ende hin wird Erfurt nicht müde darin, hilfreiche Übersichten zur Grundlagenforschung zu liefern. Ein minimaler Kritikpunkt sind die vielen Aufzählungen im Bereich der versuchten Definition von Transkulturalität, die vor allem zu Beginn des Buches erfolgen. Dennoch ist das Buch als Einstieg in die Materie klar zu empfehlen. Insbesondere Studierende der Kulturwissenschaften oder der Ethnologie können von Transkulturalität — Prozesse und Perspektiven als Einstieg klar profitieren.
English Abstract
Of
Intertwining and Untwining — In Exchange With Transculturality
The
volume Transkulturalität — Prozesse und Perspektiven by Jürgen
Erfurt deals with cultural intertwining and untwining relations. With his
book, Erfurt provides a successful overview of the current research
situation and of the complexity behind the term transculturality. Erfurt
comprehensively offers orientation for students which could well be used
as a fundamental reference text in the future.
Copyright 2023, MELISA M. ÇIÇEK. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).