Metamorphose eines überregionalen Verkehrsknotenpunktes: Lembergs Bahnhöfe im Spiegel der osteuropäischen Stadtentwicklung
A Review by Christian Müller (c.mueller-geschichte@gmx.de)
Giessener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK)
Weck, Nadia. Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, L‘viv). Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag, 2020. 352 Seiten, 58,00 EUR. ISBN: 978-3-447-11416-5.
Abstract
Eine
fundierte Quellenarbeit mit wenigen Abstrichen: Nadja Weck legt mit ihrer
Dissertation Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am
Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, L‘viv) einen wichtigen Beitrag zur
osteuropäischen Infrastrukturgeschichte vor.
Review
Menschen, die mit der Bahn reisen, haben immer ein Ziel. Als im Jahr 1861 Lemberg als Provinzhauptstadt an das österreichische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde und erstmals ein Zug in den galizischen Hauptbahnhof einfuhr, wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die Nadja Weck sehr eindrucksvoll in ihrer 2016 in Wien vorgelegten Dissertation beschreibt: Im Zuge der ersten und zweiten Staatsbahnepoche verfünffachen sich die Einwohnerzahlen Lembergs und die Stadt dehnt sich in alle Himmelsrichtungen aus. Der Eisenbahnbau hat einen wesentlichen Einfluss auf die regionale Entwicklung und sorgt dafür, dass sich der ehemalige Grenzraum der Habsburger Hauptstadt Wien deutlich verdichtet.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage, inwiefern die Einführung des Eisenbahnswesens in Galizien verschiedenste Akteure mobilisierte, deren Handeln beeinflusste und wie sich infolge der dadurch in Gang gekommenen Veränderungen die Stellung Lembergs, ihr städtisches Umfeld sowie die Bahnhöfe als Entwicklungsstandorte wandelten (vgl. S. 3). Nadja Weck bezieht sich in ihren raumtheoretischen Überlegungen auf Henro Lefebrves Theorem des konzipierten und gelebten Raumes. Lefebrves Ideen machen sich auch strukturell in der Arbeit bemerkbar. Wenngleich sie hierbei wesentlich auf die Darstellung aktueller Debatten der Raumforschung und der historischen Geografie verzichtet, gelingt es Nadja Weck geschickt, sich auf ihre Argumentationslinien zu konzentrieren und diese den Leser_innen zu präsentieren. Ihre Arbeit wirkt wie ein Brennglas, das sich thematisch immer weiter abstuft. In drei Abschnitten, die keiner zeitlichen Logik folgen, sondern sich jeweils räumlich von der Region über die Stadt auf die Bahnhöfe einschränken, beleuchtet sie jeweils die Auswirkungen des Eisenbahnbaus auf den geografischen Raum, den sie im jeweiligen Abschnitt analysiert. Sie argumentiert hierbei nah an den Quellen, die sich aus Reiseberichten, Memoranden, Zeitschriftenartikeln, Fachzeitschriften, Reiseführern, Reiseliteratur, Land- und Stadtkarten, juristischen Texten und eigenen Fotoaufnahmen zusammensetzen. Durch diese Quellendichte produziert ihre Dissertation eine qualitative Tiefe, die aktuelle Trends der Infrastrukturdebatten in den Geschichtswissenschaten abdeckt und die moderne Großstadtentwicklung aufzeigt.
Den Fokus des ersten von drei Abschnitten legt die Autorin auf Lemberg als werdender Verkehrsknotenpunkt. Aus der Perspektive der zentralstaatlichen Akteure stand beispielsweise stets die gesamte Monarchie im Vordergrund, für deren wirtschaftlicher Aufschwung auch die peripheren Provinzen verkehrstechnisch erschlossen werden mussten, um neue Märkte innerhalb des Vielvölkerreiches aufzubauen. Nadja Weck zieht hierbei die planungstechnischen Überlegungen von Franz Ripl in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Auch die historische Bewertung der Auswirkungen des neuen Transportmittels auf die Ein- und Ausfuhr von Waren, die Schaffung von Arbeitsplätzen im Eisenbahnwesen und die damit verbundenen Industriesektoren wie die Bauwirtschaft arbeitet sie gut heraus. Die Eisenbahn verändert die Stadt – dieser Punkt wird bereits im ersten Kapitel deutlich. Das neue Verkehrssystem gewichtet den ländlichen Raum zwischen den Bahnhöfen neu, belebt den Binnenmarkt und sorgt neben der Mobiliät des Bürgertums für eine exponentielle Urbanisierung Lembergs. Die rasante Entwicklung reichte bald auch über die staatlichen Grenzen hinaus, weil das galizische Eisenbahnnetzwerk sich in allen Himmelsrichtungen ausbreitete und nun die Region auch mit dem russischen Zarenreich und Polen verbunden wurde. Chapeau: Die Analyse zur ersten und zweiten Staatsbahnepoche ist hervorragend aufbereitet (vgl. S. 53 f. bzw. S. 77).
Wenngleich die Autorin im ersten Abschnitt schon einiges zu den Auswirkungen des Eisenbahnwesens auf Lemberg vorwegnimmt, taucht sie im zweiten Teil ihrer Arbeit noch tiefer in diese Materie ein: Die Westverschiebung Lembergs und der Bau neuer Stadtquartiere sorgt nicht nur für neuen Stadtraum, sondern auch für mehr Beschäftigung und einen sprunghaften Anstieg der Einwohnerzahlen. Neben den Debatten der involvierten Akteure rund um die Lemberger Bahnhöfe können Leser_innen die deutliche Ambivalenz zwischen Unternehmensinteressen und Stadtentwicklung wahrnehmen. Prozesse der Wirtschaftsentwicklung, aber auch städtebauliche Herausforderungen werden hierbei nicht ausgesparrt und sorgen für eine interessante Lektüre, da sie mit konkreten Beispielen unterfüttert werden — wie etwa der Einfluss der Straßenbahn auf den weiteren Wachstumsprozess Lembergs (vgl. S. 176 ff.), welche die Bahnhöfe mit dem Stadtzentrum verbindet, zu einer Binnenbeschleunigung führt und den Stadtraum merklich verdichtet. Deutliche Abstriche muss man bei Wecks Quellenkritik zu den verwendeten Stadtplänen und Statistiken machen. Durch Infografiken oder visuell aufbereitete Karten hätte ihre Analyse noch stärker an Gewicht gewonnen. So verpufft die beschriebene „Magnetwirkung“ des Stadtraumes (vgl. S. 130, S. 163 f.) leider in der wissenschaftlich bedingten Bleiwüste des Textes, in der die visuellen Hilfen wie stumme Statisten wirken.
Der dritte Abschnitt der Arbeit konzentriert sich gänzlich auf den Lemberger Hauptbahnhof. Nadja Weck ergänzt Lefebvres Theorie um Jurij Lotmans Theorem der „Semiosphäre“ und dessen Verständnis von urbanen Grenzräumen. Dabei analysiert die Autorin den ersten und zweiten Lemberger Hauptbahnhof auch architekturgeschichtlich. Die Orte werden durch Wecks Quellenanalyse einprägsam und zeigen den damit verbundenen Wandel der Stadtgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ergänzt wird diese mikroskopische Untersuchung durch die Betrachtung der literarischen Werke von Karl Emil Franzos, Alexander Gernach und Jozef Wittlin in Bezug auf die Bedeutung und Rezeption des Bahnhofs. Eine Perspektiverweiterung erfährt die Arbeit durch den direkten Vergleich mit dem Krakauer Bahnhof, der allerdings etwas hinkt. Besser wäre es gewesen, den von Wenk erwähnten Wiener Nordbahnhof als Vergleichsobjekt zu wählen (vgl. S. 236). Auf diese Weise hätte die Autorin auch einen guten Peripherie-Zentrum-Vergleich zwischen Reichshauptstadt und Provinzhauptstadt aufstellen und ihre Arbeit abrunden können. Zudem wäre die Analyse von historischen Fahrplänen als weitere Quellengattung interessant gewesen, um die Verdichtung von Raum und Zeit im Sinne der allgemeinen gesellschaftlichen Beschleunigung zu verdeutlichen. Nichtdestotrotz ist Wecks Untersuchung insgesamt stark empirisch ausgerichtet und überzeugt durch eine gründliche Quellenarbeit und Recherchen in österreichischen, polnischen und ukrainischen Archivbeständen. Die Lektüre ist auf jeden Fall empfehlenswert für alle Wissenschaftler_innen, die sich mit Infrastrukturgeschichte beschäftigen.
English Abstract
Metamorphosis
of a Transregional Traffic Junction: Lviv´s Railway Stations in Context
of Eastern European Urban Development
A
scientific work with high source reference: Nadja Weck’s dissertation Eisenbahn
und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am Beispiel der Stadt Lemberg
(Lwów, L‘viv) is an important contribution to Eastern European
infrastructural history.
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