Zukunftswissen aller Zeiten
Eine Rezension von Silvia Boide (silvia.boide@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Bühler, Benjamin; Willer, Stefan (Hg.). Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens. München: Wilhelm Fink Verlag, 2016. 489 Seiten, 59 Euro. ISBN: 978-3-7705-5901-5
Abstract
Futurologien: Ordnungen des Zukunftswissens der Herausgeber Benjamin Bühler und Stefan Willer bietet vielfältige Perspektiven auf die Themen Wissen von der Zukunft und Wissen in der Zukunft sowie die daran anknüpfenden Potentiale und Problematiken. Der vorliegende Sammelband gibt Beispiele und Anregungen zur interdisziplinären Forschung im Bereich des Zukunftswissens aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In fünf Sektionen und 36 Artikeln werden verschiedene Ordnungen des Zukunftswissens vorgestellt und dabei eine historische Bandbreite von der Antike bis in die Gegenwart erreicht. Viele der individuell gestalteten Beiträge weisen eine hohe Diversität bei den verwendeten Beispielen auf.
Rezension
Die Zukunft ist offen, das ist schon allgemein bekannt. Doch bereits nach der Lektüre der Einleitung von Futurologien wird noch einmal deutlich, wie sie sich auf allen Ebenen der Festschreibung entzieht. Der menschliche Wunsch nach einem Wissen von der Zukunft hat verschiedene Zugänge zu ihr ermöglicht, die jedoch ausnahmslos von der festen Verankerung der immer „imaginierten, gemachten, fiktiven“ (S. 9) Zukünfte in den Gegenwarten ihrer jeweiligen Erzeugung erzählen. Bühler und Willer brechen zunächst den Genitiv des Wortes Zukunftswissen in zwei Deutungsvarianten auf, nämlich in „Wissen von der Zukunft“ und „zukünftiges Wissen“. Die Zukunftsforschung sei keiner Disziplin eindeutig zuzuordnen. Sie unterteile sich außerdem in futurologische Forschungsansätze erster und zweiter Ordnung, wobei letztere die Herangehensweise insbesondere der Kulturwissenschaften sei. Erst das historische Wissen darüber, wie zu welcher Zeit über die Zukunft gedacht und gesprochen wird, lasse im Vergleich eine Deutung auch gegenwärtiger Zukunftsvorstellungen zu.
Auf den ersten Blick scheint man es bei dem vorliegenden Band mit einem Handbuch zu tun zu haben, sind doch alle Einträge durch Einzelbegriffe betitelt. Doch will der Band weder Enzyklopädie, noch Lexikon oder Handbuch sein. In der Lektüre einzelner Artikel stellt sich schnell heraus, dass man es eigentlich mit einem Sammelband zu tun hat, in dem jede_r Autor_in das ihr / ihm anvertraute Stichwort im eigenen Stil bearbeitet. Eine entsprechend aussagekräftigere Betitelung der einzelnen Beiträge wäre unter bestimmten Nutzungsbedingungen hilfreich gewesen und hätte der jeweils geschehenen Ausarbeitung des Gegenstands Rechnung getragen. In den fünf vorgestellten Sektionen kann die Auswahl der abgehandelten Begriffe verständlicherweise nicht das ganze Spektrum von Zukunftswissen abdecken, wie die Herausgeber das Fehlen „auch durchaus wichtige[r...] Stichwörter“ (S. 21) einräumen.
Der erste Teil „Sprechakte und Denkfiguren“ beginnt mit Uwe Wirths Präsentation der „Konjektur“ als Ersatzhandlung und Grundlage wissenschaftlicher Experimente, die sich zwischen Spekulation und Kalkulation einordnet. Jeweils unter Zuhilfenahme von Beispielen fiktiver Werke aus dem 18. bis 21. Jahrhundert werden weiterhin „Wunsch“, „Suspense“ und „Teleologie“ bearbeitet. Hervorzuheben ist auch der Beitrag Benjamin Bühlers, der durch Beispiele aus Recht, Philosophie und Literatur die Anfälligkeit für die Nichteinlösung von „Versprechen“ in der Zukunft besonders anschaulich schildert.
Teil zwei stellt zukunftsrelevante „Kulturtechniken und Soziale Praktiken“ mit Beispielen aus der Antike („Mantik“, „Tiere“) bis hin zu zeitgenössischen digitalen Techniken („Data Mining“, „Computersimulation“) vor. Stefan Willers Beitrag zum Konzept des „Weltkulturerbes“ zeigt eindrücklich die Ambivalenz zwischen Erbe und Erhaltung. An bekannten Beispielen materieller wie immaterieller Kulturerbe-Einträge der UNESCO macht er Konfliktpotentiale des aktuellen Nachhaltigkeitskonzepts deutlich.
Im dritten Teil „Autoritäten“ fällt ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis auf. Mit keinem der sechs Beiträge zu den vorgestellten Autoritäten-Typen wird ein ausdrücklich weibliches Beispiel vorgestellt – lediglich im kurzen Einleitungstext zu diesem Abschnitt wird die Figur der „Zigeunerin“ aus Kleists Michael Kohlhaas kurz erwähnt. Die Zusammenstellung der Disziplinen in denen die Autoritäten wirken, gestaltet sich mit Mystik / Religion / Politik („Prophet“), Wirtschaft („Projektemacher“), biologisches Alter / Generation („Jugend“), Politik („Revolutionär“), Militär („Stratege“) und Physik / Fiktion („Zeitreisender“) dennoch enorm heterogen. Jeder Beitrag gibt einen aufschlussreichen Überblick über die verschiedenen Einsatzbereiche des jeweiligen Zukunftsexperten.
Im daran anschließenden Teil „Narrative und Gattungen“ zeigt sich in der Gegenüberstellung der Beiträge eindrücklich, wie produktiv sich selbst nuancierte Verschiebungen in der Zukunftsbetrachtung auswirken. Immer wieder ineinander verweisend werden so etablierte Gattungen bzw. Genres („Manifest“, „Utopie“ und „Science Fiction“), Szenarien der Zukunftserwartung („Apokalypse“, „Rettung“, „Überleben“ und „Worst Case“) und interdisziplinär fruchtbar zu machende Konstellationen („Klima“ und „Posthumanismus“) zueinander in Beziehung gebracht. Während die „Utopie“ in einem recht engen Verständnis als literarische Gattung gefasst wird (selbstverständlich mit Hinweis auf die überaus umfangreiche Forschung), listet der Beitrag zum „Rettungs“-Narrativ zahlreiche Beispiele aus den unterschiedlichsten Feldern auf.
Im letzten Teil des Bandes, „Wissensformen“ überschrieben, sind die ersten drei Beiträge zu „Astrologie“, „Politischer Arithmetik“ und „Meteorologie“ vor allem als wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitungen der Titelbegriffe konzipiert. Eine durchscheinende Konstante ist dabei die historisch schwankende Popularität der behandelten Wissensformen. Die weiteren Beiträge weichen im Format je nach Gegenstand ab. Im Falle der „Psychiatrie“ wird nicht ganz klar, warum hier das pars pro toto-Prinzip angewendet und nicht ein Beitrag zur Medizin allgemein als prognostischer Wissensform an diese Stelle tritt. Die folgenden beiden Beiträge zu „Ökologie“ und „Nanotechnologie“ behandeln dann Zukunftswissen neueren Datums, bevor der Band mit einem Beitrag zu „Musik“ als Wissensform von Zukunft schließt.
Bühler und Willer, die gemeinsam auch nahezu ein Drittel der eigentlichen Beiträge des Bandes liefern, legen einen umfangreichen und interessanten Band vor. Während einige Beiträge einen zusammenfassenden Charakter haben, sind auch viele Texte mit ausdrücklich interdisziplinärem und innovativem Ansatz enthalten. Es wird eine große historische Bandbreite bei den exemplarischen Analysen erreicht. Ausgehend von der insgesamt sehr bereichernden Lektüre wünscht man sich ein mehrbändiges (echtes) Handbuch, das noch all die aufscheinenden Lücken des zentralen und wichtigen Themenkomplexes füllt – vom bereits angesprochenen Gender-Aspekt bis hin zu einer Ausweitung auf Wissen von Zukunftswissen in globaler Perspektive.
English Abstract
Future Knowledge of All Times
Futurologien: Ordnungen des Zukunftswissens by the editors Benjamin Bühler and Stefan Willer offers varied perspectives on knowledge of the future and knowledge in the future together with their potentials and problematic issues. The discussed volume is able to give examples of and inspiration for interdisciplinary research in the field of future knowledge from a cultural studies approach. It presents different orders of future knowledge in five sections and 36 articles. Its historical range covers examples and topics from antiquity to today. Many entries include disciplinarily diverse examples.
Copyright 2017, SILVIA BOIDE. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).