Das Morgen von Gestern und seine politischen Bedeutungen

 

A Review by Justus Grebe (Justus.Grebe@gcsc.uni-giessen.de; https://orcid.org/0000-0002-5218-2630)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)

 

Seefried, Elke (Hg.). Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegung, Umbrüche. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2022. 387 Seiten, 39,95 EUR. ISBN: 978-3-593-50958-7.

 

Abstract

Vergangene Zukünfte stellen ein geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld dar, dem in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. Nun liegt mit Elke Seefrieds Sammelband Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert ein umfangreicher Überblick zum Zusammenhang von Zukunftsdenken und Politik vor. Dabei werden nicht nur bekannte Ergebnisse und neue Erkenntnisse vorgestellt, sondern vor allem auch Leerstellen offengelegt, die neugierig machen auf ein dynamisches Forschungsfeld.

 

Review

2017 befasste sich das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin im Rahmen einer Tagung mit einem Thema, welches immer mehr Aufmerksamkeit in der Geschichtswissenschaft erlangt: „Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert“. Fünf Jahre später ist aus dieser Tagung nun ein Sammelband entstanden, herausgegeben von der Aachener Historikerin Elke Seefried. In der umfangreichen Einleitung wird deutlich, dass sie zu den profiliertesten Forscher_innen auf dem Gebiet zählt. Seefried geht hier auf methodische Fragen sowie auf die Ziele des Bandes und dessen Ergebnisse ein. Das historische Interesse an vergangenen Zukünften verortet sie dabei im Kontext eines temporal turn. In diesem Sinne blicke der Band nicht allein auf Zukünfte, sondern auch auf ihre Verschränkung mit Vergangenheiten und Gegenwarten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stünden „politische Zukunftsentwürfe und zugehörige Kommunikationsstrategien im 20. Jahrhundert“ in Deutschland (S. 20).


Diese werden nach der Einleitung in 15 Beiträgen erkundet, die in zwei chronologische Bereiche eingeteilt und durch die Zäsur 1945 getrennt sind. Die Beiträge können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden, es zeichnen sich jedoch klare Tendenzen ab. So betreten einige von ihnen Neuland, wenn die politischen Zukünfte von Liberalismus (Jürgen Fröhlich, Ewald Grothe), politischem Katholizismus (Stefan Gerber) und Konservatismus (Thomas Rohkrämer, Martina Steber) in den Blick genommen werden. Dies hat auch die Neuperspektivierung bisheriger Forschungen zur Folge. So zeigt Martina Steber anhand der „offensive[n] Umarmung der Zukunft“ durch CDU/CSU, dass die verbreitete These einer „No-Future-Mentalität“ angesichts der multiplen Krisen seit den 1970er Jahren zu kurz gegriffen ist (S. 221). Gleichzeitig geraten bei der Erschließung des Neulands zuweilen die politischen Zukünfte aus dem Blick. So stellt Ewald Grothe die programmatische Entwicklung der FDP seit den Freiburger Thesen anschaulich dar, die liberalen Zukünfte bleiben jedoch etwas schwach konturiert.


Die Beschäftigung mit der Programmentwicklung von Parteien deutet auf zwei Leerstellen des Bandes: zum einen die Fokussierung auf programmatische Texte als Quellen. Diese geht unter anderem zu Lasten von visuellen Quellen. Dabei sind gerade solche Visualisierungen wichtige Kommunikationsmittel für politische Zukünfte, wie Anna Strommenger anhand der Weimarer Sozialdemokratie und Silke Mende für die Grünen überzeugend zeigen können (vgl. S. 81–83, S. 341–342). Zum anderen nimmt der Band hauptsächlich Parteien in den Blick, mit Ausnahme der 68er Bewegung (Detlef Siegfried) und den britischen und bundesrepublikanischen Anti-Atomkraft- und Friedensbewegungen (Eva Oberloskamp). Auch Gideon Botsch fokussiert in seinem Beitrag zur extremen Rechten in der Bonner Republik vor allem deren Parteien (SRP, DRP, NPD) anstelle der Neuen Rechten oder der Nazi-Skinhead-Szene. Eine Erweiterung um beispielsweise die Gewerkschafts- und Frauenbewegungen oder migrantische Selbstorganisationen in der Bundesrepublik wäre aufschlussreich gewesen — und hätte einmal mehr bisher unerforschte politische Zukünfte in den Blick genommen.


Generell findet sich die transnationale Perspektive, wie sie die Behandlung migrantischer Selbstorganisation mit sich gebracht hätte, nur selten im Band. Wie sehr diese jedoch zum Verständnis politischer Zukünfte beitragen kann, zeigen die Beiträge von Fernando Esposito zum italienischen Faschismus und Frank Bajohr zum Nationalsozialismus. Durch ihre aufeinanderfolgende Anordnung geraten hier zentrale Gemeinsamkeiten, insbesondere die „Ewigkeitspolitik“ (S. 185) in den Blick, während beide Phänomene in eigenem Recht umfassend dargestellt werden. Mit Blick auf die Prozesse europäischer Einigung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder den sozialistischen und kommunistischen Internationalismus bieten sich hier Erweiterungen an — gerade auch auf Ebene der Parteien.


Schließlich gibt es auch räumliche und zeitliche Verengungen. So behandelt lediglich der anschauliche Beitrag von Herrmann Wentker die DDR anhand der SED. Hier wäre die Betrachtung der politischen Zukünfte im letzten Jahr der DDR sowie jene der PDS nach der Wiedervereinigung eine erhellende Erweiterung gewesen. Zeitlich bleiben zumeist die 30er bis 50er Jahre des 20. Jahrhunderts ausgespart. Dabei stellen gerade diese Jahre spannende Zeiträume für die Forschung zu politischen Zukünften dar. Welche Rolle spielten sie beispielsweise im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und beim Aufbau der beiden neuen deutschen Staaten? Auch das Kaiserreich und die 1990er Jahre werden im Sinne eines ‚kurzen‘ 20. Jahrhunderts eher am Rande behandelt.


Trotz einiger Leerstellen handelt es sich beim vorliegenden Sammelband um eine umfang- und kenntnisreiche Kartierung der politischen Zukünfte des 20. Jahrhunderts. Dass in dieser Rezension die Leerstellen in den Vordergrund treten, stellt die größte Qualität des Bandes heraus: Es gelingt den Beiträgen durch eigene Vorstöße, Neugierde zu wecken für ein Forschungsfeld, das unbedingt weiter erschlossen werden sollte. Der Band fordert dazu auf, sich an dieser Erkundung zu beteiligen, und bietet gleichzeitig eine gelungene Orientierung im Morgen von Gestern und seinen politischen Bedeutungen.

 

English Abstract

Yesterday’s Tomorrow and its Politics

Futures past have been growing in popularity as a topic for historical research in recent years. The volume Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert edited by Elke Seefried now presents an extensive overview of the interplay between futures and politics. This anthology not only compiles established findings and new insights but also points to desiderata that spark curiosity for a dynamic field of research.

 

 

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