Erinnerungskulturen im alten Rom und dem frühen Christentum
Eine Rezension von Philipp Brockkötter (Philipp.Brockkoetter@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Galinsky, Karl (Hg.): Memory in Ancient Rome and Early Christianity. Oxford: Oxford University Press 2016. 432 S., 80 GPB. ISBN: 9780198744764.
Abstract
Mit seinem Sammelband Memory in Ancient Rome and Early Christianity tritt Karl Galinski mit seinen Mitstreiter_innen an, eine Einleitung in die Anwendung der „memory studies“ in den Altertumswissenschaften zu geben. Dies soll zugleich zu weiteren Diskussionen und Forschungstätigkeiten anregen. Zu diesem Zweck wurden 13 Fallstudien zu fünf Oberthemen versammelt. Zentrale Untersuchungsbereiche sind dabei die Rolle der memoria in der kaiserzeitlichen lateinischen Literatur, der Umgang der Kaiser mit Erinnerungen, die Wechselbeziehungen zwischen visual culture und memoria und die Rolle der Erinnerung in der römischen Religion und dem frühen Christentum. Hinzu tritt ein Aufsatz aus neuropsychologischer Perspektive.
Rezension
Memoria – wer immer sich mit dem antiken Rom beschäftigt, kommt um den in dieser Zeit ubiquitären Begriff nicht herum. In den letzten Jahren rückte daher die Erforschung der Erinnerung mithilfe der memory studies zusehends in den Fokus der altertumswissenschaftlichen Fächer. Einer der Vorreiter dieser Entwicklung ist Galinsky, der im Jahr 2009 das „memoria romana“ Projekt ins Leben rief, aus dem unter anderem das zu besprechende Buch resultierte.
Galinski selbst gibt in der Einleitung einen Überblick über die grundlegenden Theorien, Konzepte und Methoden der memory studies. Darauf folgt der erste Block von drei Aufsätzen, der die Rolle der memoria in der kaiserzeitlichen Literatur beleuchtet und von dem exemplarisch nun der erste Aufsatz genauer betrachtet werden soll. Darauf folgt dann eine summarische Wiedergabe der restlichen Beiträge.
Gowing untersucht in seinem Aufsatz die Wirkung der memoria als Motiv bzw. sensu causalis in den Werken des Tacitus. Zu diesem Zweck stellt er zunächst generelle Überlegungen zum Thema an (S. 43-48), anhand derer er zu seiner ersten Schlussfolgerung kommt: Wenngleich die memoria über den Bezug zu virtutes ethische Implikationen enthält, führt sie nicht immer zu „guten“ Handlungen. Dann wendet er sich den Annalen und Historien des Tacitus zu (S. 49-52), anhand derer er zu seiner zweiten Schlussfolgerung kommt: recens memoria dient wesentlich häufiger als sensu causalis, als vetus memoria. In einem weiteren Schritt wird dann, am Beispiel des Otho und Tiberius, das im Narrativ des Tacitus deutlich werdende Verhältnis der römischen Kaiser zur memoria untersucht (S. 52-59). Zentrales Thema ist dabei Angst vor der Erinnerung als sensu causalis sowie eine angstinduzierte Manipulation des Gedächtnisses. Im Fazit (S. 59-63) wird dann am Beispiel der Gallierrede des Claudius nochmals pointiert dargestellt, dass ein „neues Rom“ neue exempla benötigte, zu deren Konstruktion auch Tacitus entschieden beitrug. Der Aufsatz ist äußerst schlüssig und kenntnisreich verfasst, doch wirkt die Beschränkung auf wörtliche Erwähnungen der memoria (S. 44) etwas einengend. So wären zum Beispiel beim Fallbeispiel des Tiberius Hinweise auf eine Instrumentalisierung der Angst des Kaisers vor der Erinnerung durch Senatoren möglich gewesen. Dies beeinflusst jedoch die interessante neue Perspektive des Aufsatzes in keiner Weise.
Die Neuorganisation der Erinnerung in der frühen Kaiserzeit behandeln auch Libby und Rüpke. Libby zeigt anhand der Gegenüberstellung von poetic und social memory in Catull und Aenaeis die Rolle des Vergessens und die gesteigerte Bedeutung des Kollektives gegenüber dem Einzelnen in diesem Prozess. Rüpke behandelt die selektive Systematisierung der Erinnerung bei religiösen Handlungen in Valerius Maximus, die er als knowledge bezeichnet.
Das Grundthema der gedächtnispolitischen Umwälzungen in der frühen Kaiserzeit wird auch im zweiten Teil beibehalten, der sich mit dem Verhältnis der Kaiser zur Erinnerung beschäftigt. Orlin zeigt hier am Beispiel der Änderungen in der Baustruktur des südlichen Campus Martius, wie Augustus das kollektive Gedächtnis zu seinen Gunsten beeinflusste. Hendrick bezieht sich ähnlich wie Gowing stark auf die memoria bei Tacitus. Anhand des speziellen Fallbeispiels des Auftauchens eines falschen Neros stellt er jedoch eher generelle Überlegungen an, wobei die Pluralität des kollektiven Gedächtnisses ebenso wie die Rolle von Emotionen und Phantasie für die Erinnerung im Fokus stehen.
Der dritte Teil mit drei Aufsätzen bietet einen Überblick über die Beziehungen zwischen der visual culture und den memory studies in der Zeit der späten Republik. Hölkeskamp verdeutlicht am Beispiel der Statue des M. Tremulus die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Orten, Mythen und der Erinnerung. Stein-Hölkeskamp zeigt, ähnlich wie Orlin, die Beeinflussung des kollektiven Gedächtnisses durch Eingriffe in die visual culture Roms durch Sulla. Ng stellt mit warnender Stimme dar, dass öffentliche Ehrenstatuen nicht zwangsläufig Indikatoren einer kollektiven Erinnerung waren.
Der vierte Teil mit vier Aufsätzen zeigt eine Übersicht über die Bedeutung der memory studies für die Erforschung des frühen Christentums. Denzey Lewis zeigt am Beispiel der Malereien in Cubiculum N der Via Dino Compagni Katakombe in Rom, wie sich die Erinnerungen der Paganen in der Zeit des erstarkenden Christentums veränderten. Kloppenborg betont, am Fallbeispiel der Jesusworte, den performativen Kontext der Erinnerungen an Jesus. Magness überprüft die vom Evangelisten Johannes beschriebenen lieux de memoire archäologisch, um so die Rolle von Orten in der Konstruktion einer Erinnerung herauszustellen. Moreland schließlich stellt die Nützlichkeit der social memory theory als explanatory category für das Studium der Anfänge der christlichen Gemeinschaft hervor.
Im letzten Aufsatz schließlich stellen Stock, Gajsar und Güntürkün die neuropsychologischen Grundlagen des Gedächtnisses vor, das aufgrund seiner dynamischen neuronalen Strukturen beeinflussbar und niemals festgesetzt ist.
Die Konzeption des Buches erscheint äußerst durchdacht. Der einleitende Aufsatz schafft durch seinen generellen Überblick über die Theorien und Methoden der memory studies eine Verständnisgrundlage, auf die die späteren Aufsätze aufbauen können. Durch deren Auswahl wird ein weites Spektrum an Theorien, aber auch an Fachgebieten der Altertumswissenschaften beleuchtet, ohne dass dabei der Eindruck einer Inkohärenz entsteht. Durch eine Bezugnahme zwischen den Aufsätzen von Hendrick und Gowing sowie Orlin und Stein-Hölkeskamp hätten sich dabei aufgrund der erwähnten Ähnlichkeiten vielleicht weitere Synergieeffekte eröffnet. In diesem Rahmen ist jedoch die innovative Aufnahme eines Aufsatzes aus naturwissenschaftlicher Sicht hervorzuheben, der gut mit der kulturwissenschaftlichen Sicht korreliert. Die zeitliche Fokussierung auf Zeugnisse aus der späten Republik, der frühen Kaiserzeit und des frühen Christentums ist gut gewählt, da sich die Bedeutung der Erinnerung am deutlichsten in Zeiten des Umbruchs exemplifizieren lässt. Zudem regen die so gewonnenen Erkenntnisse die Leser_innen zur weitergehenden Beschäftigung auch zu den nicht behandelten Zeitabschnitten an. Insgesamt erfüllt das Buch seine Zielsetzung also in ganzer Linie, indem es den Leser_innen einen hervorragenden Einblick in die Bedeutung und Anwendbarkeit der memory studies gibt.
English Abstract
Memory in Ancient Rome and Early Christianity
With the anthology Memory in Ancient Rome and Early Christianity Karl Galinski and his fellow contributors aim to give an introduction into the application of the field of “memory studies” in the ancient studies. In addition, they want to encourage further discussions. In order to do so they have collected 13 case studies under five main topics. Central fields of investigation are the role of memoria in the literature of the roman empire, the interrelation between emperor and memory, the interdependence between visual culture and memoria, and the role of memory in roman religion and early Christianity. In addition there is an essay from a neuropsychological perspective.
Copyright 2017, PHILIPP BROCKKOETTER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).