Alltägliche und wissenschaftliche Praktiken verque(e)ren
Eine Rezension von Oliver Klaassen (Oliver.Klaassen@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Paul, Barbara und Lüder Tietz (Hg.). Queer as... – Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive, Bielefeld: transcript, 2016. 232 S., 29,99 Eur. ISBN: 978-3-8376-3249-1
Abstract
In der universitären Forschungslandschaft stellt die Kritik an normativen Identitätskonstruktionen, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität immer noch die Ausnahme dar. Der Sammelband Queer as... – Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive (herausgegeben von Barbara Paul und Lüder Tietz) markiert in dieser Hinsicht einen Meilenstein. Forscher_innen unterschiedlicher Disziplinen loten überzeugend das Verhältnis von queerem Alltagswissen und -praktiken sowie akademischem Wissen aus, um den Leser_innen die Augen für heteronormativitätskritische Sichtweisen auf Wissenschaft, Kunst, Pädagogik, Recht und Alltag zu öffnen.
Rezension
Die verschiedenen Untersuchungsgegenstände der insgesamt acht Einzelbeiträge aus dem Sammelband Queer as... – Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive machen deutlich, dass sich die Wirkmächtigkeit der Differenzkategorien von Sexualität und Geschlecht wie ein roter Faden durch die Praktiken des Alltags und der Wissenschaft zieht. Der Sammelband geht zurück auf eine gleichnamige Veranstaltungsreihe, die im Wintersemester 2010-2011 an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg stattfand. Er erscheint als Teil der Reihe „Studien Interdisziplinäre Geschlechterforschung“ des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (ZFG).
Getrieben vom Interesse an „unterschiedlichen, grundlegend prozessualen Vorstellungen, Ideen und Wünschen zu Geschlechtern, Sexualitäten, Körpern und Begehren“ (S. 9) nehmen Barbara Paul und Lüder Tietz in der Einleitung die neoliberalen Vereinnahmungstendenzen (West-)Europas und (Nord-)Amerikas zum Anlass, um verstärkt über die (Neu-)Aushandlung von queer nachzudenken. Bei der „Analyse von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten queerer Politiken“ (S. 16) verfolgen alle in der Anthologie versammelten Beiträge die gleiche Zielsetzung: Neben einer kritischen Haltung gegenüber dem akademischen Wissen fokussieren alle Autor_innen das in sozialen Praxen artikulierte, immer noch häufig vernachlässigte Alltagswissen.
Mit ihrer Untersuchung von queerem Wissen in Hinblick auf Archivpraktiken widmet sich der erste Einzelbeitrag von Barbara Paul einem bisherigen Desiderat kunstwissenschaftlicher Forschung. Bei der Analyse und Kommentierung der Zeichnungen von Birgit Jürgenssen sowie eines Dokumentarfilms von Karin Michalski und Sabine Baumann arbeitet Paul nicht nur deren repräsentationskritische Potenziale heraus, sondern fragt auch nach der Verzahnung von visuellen Archiven und Wissensproduktion im Kontext von Geschlecht, Sexualität und Begehren.
Ähnlich wie Barbara Paul geht auch Josch Hoenes im vierten Einzelbeitrag davon aus, dass Ästhetiken queer-politisches Potenzial beinhalten können. Am Beispiel von drei Fotografien DeLaGrace Volcanos, die sich transformierende Trans*Körper zu sehen geben, hinterfragt Hoenes die kulturell zugeschriebene Bedeutung von Genitalien. Jene Fotografien würden nicht nur Kritik an heteronormativen Körperbildern, Begehrens- und Beziehungsstrukturen, sondern auch „anerkennende Selbstbilder queerer Personen“ (S. 107) hervorbringen.
Im Gegensatz zu den vorherigen zwei Beiträgen widmet sich der fünfte Einzelbeitrag von Sabine Fuchs nicht queer-feministischen Kunstpolitiken, sondern dem radikal-subversiven Potenzial der Femme. Fuchs spricht sich für die Entwicklung oppositioneller Repräsentationsstrategien aus, die nicht nur visuelle, sondern auch sprachliche Repräsentationen miteinschließen sollen. In diesem Zusammenhang könne die „sichtbare Unsichtbarkeit“ (S. 142) der Femme als ein „produktiver Störfaktor“ (S. 144), der sich widerständig gegenüber individualisierendem, quantifizierendem, homo- sowie heteronormativ-repräsentationalem Druck verhalte, interpretiert werden.
Daneben antworten die anderen fünf Einzelbeiträge – von der Soziolog_in Sabine Hark, der Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett, der Soziologin Nina Schuster, der Sozialpädagogin Stephanie Nordt und dem Ethnologen / Diplom-Psychologen Lüder Tietz – der Reihe nach auf folgende Fragen: Welche Konsequenzen hat die scheinbar unhinterfragbare ‚Wahrheit des Geschlechts’ für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* (LSBT*I*)? Wie hat sich die juristische Sichtweise auf Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 verändert? Wenn die Produktion von bestimmten subkulturellen Räumen wie der westdeutschen Dragking- und Transgender-Szene notwendigerweise schon auf Exklusionen beruht, können diese dann überhaupt noch queer sein? Wie kann Wissen über nicht-heteronormative Lebensweisen vermittelt werden? Inwiefern beinhalten die vestimentären Performanzen auf Christopher Street Days (CSD) in Deutschland politisches Potenzial?
Neben einem weitgefassten Kulturverständnis verbindet alle Aufsätze nicht nur ein differenzierter Umgang mit den zentralen Begriffen und Konzepten der Queer Theory, sondern auch eine poststrukturalistische, semiotische und diskursanalytische Herangehensweise. Insbesondere die doppelte Verwendung von queer sowohl als Forschungsperspektive als auch als Analysegegenstand ist für zukünftige heteronormativitätskritische Forschungen wegweisend; beugt sie doch der Gefahr vor, den Begriff zu entleeren und zu entpolitisieren.
Das Forschungsanliegen des Sammelbandes, eine „Standortbestimmung aktueller Queer Studies“ (S. 19) vorzunehmen, wird nur bedingt eingelöst. Der Umstand, dass es sich bei fünf Einzelbeiträgen um wiederabgedruckte Texte handelt, bestätigt diesen Eindruck. Anstatt bei einer Kritik an ‚queeren Genealogien’ stehenzubleiben, hätte es sich angeboten, der eingeforderten radikalen Auffassung von queerer Forschung unter Einschluss von methodologischen und theoretischen Erweiterungen heteronormativitätskritischer Forschung Folge zu leisten, die verstärkt in den letzten Jahren zum Beispiel durch die Postcolonial Studies, die Animal Studies, den New Materialism, die Affect Studies und die objektorientierte Philosophie stattgefunden haben.
Der Gesamteindruck soll vor dem Hintergrund der aufgeführten Kritikpunkte jedoch nicht gemindert werden. Denn mit seiner Perspektivvielfalt ist der Sammelband für Studierende, Lehrende und Forschende aus dem universitären Bereich und dem weiteren wissenschaftlichen Umfeld ein unerlässliches Kompendium zur Einführung in kulturwissenschaftliche Queer Studies.
English Abstract
Queering Practices of Everyday Life and Science
The critique of normative identity constructions, gender binary, and heterosexuality is far away from being an integral part of academic research. The edited volume Queer as... – Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive attempts to partly close this pertinent research gap. In order to open the reader’s eyes to a heteronormative, critical way of thinking about academia, art, pedagogy, law, and everyday life, scientists of different disciplinary backgrounds convincingly explore the relations of queer knowledge and practices in everyday life and science.
Copyright 2017, OLIVER KLAASSEN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).